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Mittwoch, 12. Oktober 2022

Dem eigenen inneren Verfolger immer einen Schritt voraus sein: Bob Dylan




SPIEGEL ONLINE Forum "Literatur - was lohnt es noch, zu lesen?"

August 2009

 

 

 




Christian Erdmann:

Immer schon einer meiner Favoriten von Dylan. Nur drei Akkorde, keine Sekunde Langeweile. Ein Mann zwischen Scharlatanen in "the wild unknown country" und der Frau, die ihn "insane" macht, deren Anziehungskraft aber auch durch surrealste Odysseen hindurchwirkt. Das Leben halt. 
















Edda Sörensen:

In diesem Lied hier können Sie viel über Bob Dylan erfahren. Der "Jokerman" ist sein musikalisches Selbstbildnis.







 
 
 
Christian Erdmann:

Da geht's schon los. :) EIN Song als "sein Selbstbildnis" - ? Ich schlage das hier als Diskussionsgrundlage vor. :)

"... someplace along the line Suze had also introduced me to the poetry of French symbolist poet Arthur Rimbaud. That was a big deal, too. I came across one of his letters called 'Je est un autre,' which translates into "I is someone else". When I read those words the bells went off. It made perfect sense. I wished someone would have mentioned that to me earlier." (Dylan, Chronicles Vol.1) 










Edda Sörensen:

Sein "musikalisches" Selbstbild, Aljoscha - oder kennst Du ein anderes seiner unzähligen Lieder, das ihn so präzise portraitierte?

Klar dass die Inspirationen geradezu auf seine blankpolierten :) Antennen niederregneten und ihm bei Dylan Thomas und natürlich erst recht mit Rimbaud die Lichter aufgingen und hinter neu aufgestossene Türen seines Wesens leuchteten, was ihn dann zu einigen abrupten Richtungswechseln seiner Art veranlasste - sehr zum Leidwesen der Fangemeinde, die ihn zu gerne schön ordentlich in einer Schublade aufbewahren wollte - und schwubbs di wubbs, schon war er ganz woanders :o)









 
Christian Erdmann:

Ja, ok. :)

Shedding off one more layer of skin
Keeping one step ahead of the persecutor within

Dem eigenen inneren Verfolger immer einen Schritt voraus sein: eine gute Maxime und sicher auch eine treffliche Selbstbeschreibung. Bedeutet aber auch, daß man sich nicht auf "Jokerman" als Selbstbildnis reduzieren lassen kann. Driften, Woanderssein als geradezu genetischer Grundzug: sich über alle Erwartungen und Festschreibungen hinwegzusetzen, auch die eigenen. Deshalb Rimbauds "Ich ist ein Anderer". In dem Interview mit Paul Gallo Anfang der 90er, seinem ersten nach 10 Jahren, hielt er nicht mehr viel von "Jokerman": "That's a song that got away from me. Lots of songs on that album [Infidels] got away from me. They just did." Der Song scheint ihm offenbar im Nachhinein zu konstruiert: "That could have been a good song. It could've been. ... It probably didn't hold up for me because in my mind it had been written and rewritten and written again." Und wenn man nur die Zeilen oben vergleicht mit dem Dylan von 1965 oder mit der Art, wie elastisch Dylan-Anthropologie seit "Time Out Of Mind" Song für Song ins Rollen kommt, ahnt man vielleicht, was er meint. :) 











river runner:

Guten Tag Frau Sörensen, da Sie ja fließend ausländisch lesen können, habe ich Ihnen schon mal den -> Brief von Rimbaud rausgesucht, damit Sie dem Künstler Aljoschka leichter Rede und Antwort stehen können, was Sie sich da gerade für eine unbedachte Formulierung geleistet haben :-))

Frau Sörensen, das war nur ein kleiner Scherz, weil Aljoscha doch leicht gereizt reagiert hatte. "Da geht's schon los. :) EIN Song als "sein Selbstbildnis" - ?"

Ich habe mir inzwischen folgende Gedanken gemacht: Seine Fans seit den 60ziger Jahren halten Bob Dylan für den größten Songwriter unserer Zeit, seine Gegner sagen, er kann nicht singen und die Texte versteht doch keiner. Die Bob Dylan-Fans sind als Kenner begeistert, wie er mit den Masken des Jokerman spielt, und wie er als Prophet agiert.

Dann bekehrt sich Bob Dylan nach einem Motorradunfall zum Christentum und singt naive Lieder mit naiven Texten, wie z.B. "Property Of Jesus". (...)










Christian Erdmann:

"Aljoschka" ist hübsch, aber mir muß keiner Rede und Antwort stehen. :)

"John Wesley Harding" ist für mich aber Ausdruck eines anderen Zugangs zur Bibel als das, was Dylan in seiner "christlichen Phase" treibt, mit gelegentlich zweifelhaftem künstlerischem Ergebnis. Zwischen dem Motorradunfall und "Slow Train Coming" liegt mehr als ein Jahrzehnt, und bis "Street Legal", 1978, ist Dylan noch mit einer ganz anderen Verbindung von Persönlichem und Mythologischem zugange. Der Symbolismus des Tarot zum Beispiel, auf dem Back-Cover von "Desire" war ja THE EMPRESS abgebildet, in "Changing Of The Guards" von "Street Legal" zieht sich der blasse Geist des Todes ergeben zurück "between the King and the Queen of Swords". – Zwischen "Street Legal" und "Time Out Of Mind" ist auffällig, was Dylan nicht auf seine offiziellen Veröffentlichungen steckte, z.B.







What can I say about Claudette? Ain't seen her since January
She could be respectably married or running a whorehouse in Buenos Aires

Solche Reime auf solches Gepolter kriegt nur Dylan hin, selbst in seiner christlichen Phase konnte er das nicht ganz verhindern, Arbeitshypothese 4b. :) 






 



Edda Sörensen:

Völlig einverstanden - nach seiner fast tödlichen Krankheit und George Harrisons tragischem Tod erreichte er eine zutiefst menschliche Seelenebene, an der er uns mit "Time Out Of Mind" in bewundernswerter Aufrichtigkeit teilnehmen liess.










Christian Erdmann:

Wobei "Time Out Of Mind" allerdings schon fertig war, als Dylan '97 dem Tod von der Schippe sprang.
 
 



 
 
Die "Not dark yet, but getting there"-Atmosphäre, das Gefühl, daß der Himmel bald dichtmacht, die Erkenntnis der eigenen Sterblichkeit, all das steht sicher am Grund von "Time Out Of Mind". "Vieles auf dem neuen Album ist nach Einbruch der Nacht entstanden. Ich mag Unwetter und bleibe dann die ganze Nacht über auf. Und dann finde ich mich plötzlich in einer seltsam meditativen Stimmung wieder, und als das beim letzten Mal passierte, ist mir dieser Satz eingefallen, der nicht mehr aus meinem Kopf wollte: Und Du arbeite, solange der Tag andauert, denn es wird die Nacht des Todes anbrechen, wenn niemand mehr arbeiten wird." Aber der Sturzbach von Gedanken, mit dem Dylan auf "Time Out Of Mind" durch dunkle, leere Straßen wandert, beinhaltet auch Trotz und Zuversicht, und führt dann ja direkt zum Darktown Strutters Ball von "Love & Theft". Nicht, daß Dylan seinen Sturzbach da stoppen würde, aber der Putz ist auch dazu da, um auf ihn zu hauen, panties sind dazu da, auch mal über Bord zu fliegen, und Stil ist dazu da, um alles reinzuwerfen, von W.C. Fields bis Donizettis "Don Pasquale", und als Crooner mit Pokerface auch Shakespeare ein bißchen aufzumischen. Schließlich ist Dylan mit allen persönlich bekannt, auch mit dem Mississippi Judge, der Charles Darwin tot oder lebendig will. Oder den anderen. "Either one, I don't care".









Ich weiß nicht, wie gut die Übersetzung der "Chronicles" ins Deutsche gelungen ist, aber wenn's geht, sowieso unbedingt das Original lesen. Wobei Dylan sich gerade um "Zeitabläufe" da sehr wenig kümmert. Seine Sprache hat den amerikanischen odd ramble-Rhythmus eines Kerouac ohne Sentimentalität, eines Chandler mit weniger hard-boiled-Attitüde, mehr Staub auf den Stiefeln und mehr freight train rattle als backbeat, sein lakonischer Humor ist ein Genuß, seine Beschreibungen können mit zwei, drei Pinselstrichen aus dem singulären Dylan-Universum verblüffend genau sein, und er ist auch hier ein Geschichtenerzähler vor dem Herrn. Wunderbar auch, wie Dylan über das (die) schreiben kann, die er bewundert. Es stimmt auch nicht, was irgendwo anklang, daß Dylan nur sehr wenig Persönliches preisgibt. Wenn man nun endlich sensationelle Details etwa über sein Sexleben oder mystical sphinx Sara erwartet hat, ist man natürlich auf dem falschen Dampfer. Für mich ist z.B. sensationell, was Dylan wann gelesen hat. :) Dylans Kenntnisse sind, wie es sich für das wandelnde Orakel der Neuzeit gehört, immens. Was er über Robert Johnson 

(Du weißt schon: "Da Robert Johnsons Gitarrenspiel sich innerhalb kurzer Zeit so stark verbessert hatte, erzählte man sich, er habe seine Seele an den Teufel verkauft und sei von diesem im Gegenzug in die Geheimnisse des Gitarrenspiels eingewiesen worden.") 

zu sagen hat, war genau das, was noch über Robert Johnson gesagt werden mußte. Und eine Sache, die er über Johnson sagt, gilt exakt so auch für ihn:

"John Hammond had told me that he thought Johnson had read Walt Whitman. Maybe he did, but it doesn't clear up anything. I just couldn't imagine how Johnson's mind could go in and out of so many places. He seems to know about everything, he even throws in Confucius-like sayings whenever it suits him. Neither forlorn or hopeless or shackled – nothing hinders him. As great as the greats were, he goes one step further. Johnson is serious, like the scorched earth."

Hier noch ein Beispiel für "zwei, drei Pinselstriche", es geht um Daniel Lanois, den berühmten Produzenten, der für "Oh Mercy" im Studio war:

"Lanois was a Yankee man, came from north of Toronto – snowshoe country, abstract thinking. (...) One thing about Lanois that I liked is that he didn't want to float on the surface. He didn't even want to swim. He wanted to jump in and go deep. He wanted to marry a mermaid."
 





 
 
 
Und ein Beispiel dafür, wie Dylan aufnimmt und was er daraus macht:

"Harry Lorayne, however, was no match for Machiavelli. A few years earlier, I'd read 'The Prince' and had liked it a lot. Most of what Machiavelli said made sense, but certain things stick out wrong – like when he offers the wisdom that it's better to be feared than loved, it kind of makes you wonder if Machiavelli was thinking big. I know what he meant, but sometimes in life, someone who is loved can inspire more fear than Machiavelli ever dreamed of."















(erstveröffentlicht / first published 03/2011)













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