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Mittwoch, 15. August 2012

001 - Philosophie des Horrors





Eine Einleitung

 

"Doktor, kommen Sie… schnell…!"

(Standardsätze des Horrorfilms I)

 

Das Horrorgenre gilt als trivial, beschäftigt sich aber mit äußerst untrivialen Dingen, beispielsweise den sogenannten letzten Dingen – Tod, apokalyptische Endzeit, Jenseits, Auferstehung der Toten. Jedes Feld philosophischer Betrachtung ist auch ein Feld des Horrors, und vice versa. Wenn man will, aber man muß nicht wollen, lassen sich die für das Horrorgenre bedeutsamen Probleme und Motive gliedern in die klassischen Disziplinen der Philosophie: Metaphysik, Erkenntnistheorie, Ethik, Logik, Ästhetik. Im Horrorfilm geht es, wie in der Philosophie, um die "Fragen von Tod und Leben" (Schmid 1993, 10). Der Thrill des Horrorfilms ist von höchster philosophischer Relevanz.

Der Horrorfilm ist so alt wie die Filmgeschichte selbst. Das Genre hat Klassiker hervorgebracht, die das Etikett "Horror" transzendieren. Filme wie Freaks, Cat People, Les yeux sans visage oder The Shining sind bedeutende Werke der Kunstgeschichte. Man muß sich fragen, ob die Denunziation des Horrorfilms als "trivial" einen tieferen Sinn hat. Trivial bedeutet bekanntlich so viel wie: unmittelbar einsichtig, platt, abgedroschen. Aber Horrorkunst bestreitet gerade, daß an Tod und Leben, am Leib-Seele-Problem, an Sexualität und Identität, am Problem von Normalität und Abweichung, an der Frage nach dem Anderen und Fremden, nach den Grenzen der Erkenntnis, nach den Grenzen der Wissenschaft, an der Frage nach der Grenze überhaupt, an des Menschen Verhältnis zur Natur, an der Frage, warum der Mensch ein Abgrund ist, in den hineinzuschauen es einen schwindelt, an der Frage nach kosmischer bzw. gesellschaftlicher Ordnung bzw. Unordnung, an der Frage nach der "Wirklichkeit", an der Frage nach Form, Metamorphose, Deformation und Monstrosität, am Problem von Selbstkontrolle und Kontrollverlust, am Problem von Verbot und Übertretung, am Problem des Menschen zwischen Existenz und Wesen, am Problem der Existenz von Wesen, am Problem der Willensfreiheit, an der Dialektik von Aufklärung und Mythos, von Eros und Thanatos, von Lust und Angst, Faszination und Schrecken, am Zusammenhang von Grausamkeit und Schaulust, am Problem des Übernatürlichen, am Mythos des Weiblichen, an der Frage nach Sein und Nichts und Mensch und Ding oder an Barbara Steele irgend etwas "unmittelbar einsichtig" ist. Die Existenz von Horrorkunst ist das Beharren auf der Möglichkeit des Nicht-Einsichtig-Seins und Nicht-Durchsichtig-Seins des philosophisch brennend Wichtigen und scheinbar Geklärten. Im Grunde proklamiert das Horrorgenre, daß die finsteren Zeiten der Aufklärung endlich vorbei sind. Wie die philosophische Skepsis behauptet das Horrorgenre, daß gewisse Fragen, auf die man Antworten schon lang parat hat, nicht so und womöglich gar nicht beantwortbar sind.

Miserable Horrorfilme, deren volle Länge man nur mit Schutzengel übersteht, existieren, so wie es in jedem Genre miserable Filme gibt. Doch darf sich das Horrorgenre einer Vielzahl subtiler, sublimer, intelligenter Werke rühmen, in denen beileibe nicht "unmittelbar einsichtige" Antworten auf komplexe Fragen gegeben werden. Hier von Trivialität zu reden, erinnert verdächtig an jene Art von Borniertheit, die eine Wahrheit nicht wahrhaben will, weil der Falsche sie äußert. Das Verdikt trivial ist ein Akt der Notwehr. Der Horrorfilm ist Umgang mit Verdrängung. Er inszeniert verbotene, verdrängte und verborgene Erscheinungen der individuellen Existenz oder des gesellschaftlichen Lebens. Den Horrorfilm abzulehnen heißt, den Umgang mit Verdrängung als nicht erwünscht abzulehnen.

Es gilt zu differenzieren zwischen dem Genre und dem Zustand Horror. Natürlich befinden sich das Genre und der Zustand in untrennbarem Bezug: weil der Horrorfilm zum Ziel hat, Horror auch auszulösen; weil der Zustand Horror die Strukturen des Genres generiert; weil das Genre wiederum Erkenntnisgewinn über den Zustand liefert, und weil seit der Katharsislehre des Aristoteles zur Geltung gebracht werden kann, daß die Existenz des Genres zu einer besseren Bewältigung des Zustandes verhilft. Gleichwohl gilt es zunächst, die menschliche Grunderfahrung Horror zu verstehen: der Zustand Horror beginnt mit dem Schauder des Menschen vor dem Übernatürlichen, dem Unheimlichen und Dämonischen. Das Horrorgenre beginnt, spätestens, mit der griechischen Tragödie.

Man könnte mit kaum weniger Recht behaupten, daß es mit den Höhlenmalereien beginnt. Das Bild an der Höhlenwand war auch eine Repräsentation der Kreatur, die Angst einflößt. Das Bild bedeutet Zähmung – nicht der "Bestie", aber der Angst vor ihr. Durch die Darstellung der Tiere "wird man ihrer Herr". Das Bild ist Annäherung an das Andere und Mächtige. Dieses wird stilisiert, wird dramatische Vorstellung: die Festlegung zum Bild hilft, die Realität zu bewältigen. Ein Bild herstellen heißt, Distanz zu erlangen; sich vor, neben und über das Abgebildete stellen, von der unmittelbar bedrohlichen Präsenz abstrahieren und eine gewisse Macht über das Gefürchtete gewinnen zu können. "Verbildlichung" ist nicht Abbildung: "Der Mensch, der zuerst auf den Gedanken kam, das ihn Umgebende festzuhalten, hatte nicht die Absicht, eine getreue Reproduktion herzustellen." (Van der Leeuw 1957, 164). Es war ein Re-Präsentieren, das auf der Überzeugung beruhte, daß man sich mit der Darstellung dem Dargestellten nähern, ja bemächtigen kann. Die Herstellung der re-präsentierten Gestalt sichert zugleich Gegenwärtigkeit und Abstand.

Und der Versuch, im Bild das Dargestellte zu beeinflussen, geht davon aus, daß das Dargestellte mächtig ist.

Die Darstellung des Schrecklichen, das Bild des Grauens ist eine Auseinandersetzung mit der Angst, und diese Auseinandersetzung reicht zurück bis in die Uranfänge menschlicher Zivilisation und Kultur. Das fiktive wilde Tier an der Höhlenwand bedeutete ein Sichwappnen gegen das reale wilde Tier. Zugleich bedeutet es die Geburtsstunde des fiktiven Schreckens. Das wilde Tier an die Wand zu malen war eine versuchte, aber nicht vollends geglückte magische Erledigung der Angst. Was da half, mit dem Realen besser umzugehen, war immer noch ein Bild des Bedrohlichen. Es hatte immer noch Macht. Auch aufgund der primitiven Überzeugung, nach der durch das Bild das Wesen erscheint: " (…) es ist also äußerst gefährlich, dämonische oder göttliche Wesen bildlich darzustellen. Man beschwört sie, indem man sie abbildet oder ihre Bilder aufstellt." (Van der Leeuw 1957, 169).

Das Fiktive legte Distanz zum Realen, aber zugleich drang das Schreckliche primordial in das Fiktive. Von Anfang an ist Ästhetisierung ambivalent: ein Bild des Gefürchteten herzustellen bedeutet zugleich Beschwörung seiner Nähe, das wilde Tier an der Höhlenwand vermittelt damit zugleich Lust und Schrecken, das Dargestellte, bildlich Gezeigte ist zugleich anziehend und furchterregend. Hier liegt der tiefere Sinn von Rilkes Wort vom Schönen als des Schrecklichen Anfang. Dieser Anfang bezeichnet einen genau lokalisierbaren Punkt der psychischen Topographie: dort, wo – durch Ästhetisierung, Abbildhaftigkeit und schließlich Herstellung des Schönen – das Schreckliche bis zu einem gewissen Grad überwunden wird, es also ein "Ende" hat, dort liegt auch sein "Anfang" – nur in der anderen Richtung. Das Schöne ist ein Spiegel, der uns eine Fähigkeit unserer Wahrnehmung reflektiert. In der Welt hinter dem Spiegel lauert das Schreckliche. Die Spiegelfläche bedeutet zugleich Ende und Anfang des Schrecklichen. Das Horrorgenre ist eine Art des Durchgangs durch den Spiegel. Es muß von der Schönheit des Schrecklichen handeln, weil es in Erinnerung ruft, daß es das Schöne ohne das Schreckliche gar nicht gäbe.

Nicht jeder Schrecken ist tatsächlich lebensbedrohlich, aber jeder Schrecken läßt sich psychisch zu einer Bedrohung der eigenen Existenz verlängern, ist potentielle Totalzersetzung von gesicherter Weltwahrnehmung, gesichertem Identitätsgefühl und kontrolliertem Handeln, potentielle Destruktion eines Gefühls grundsätzlichen In-Sicherheit-Seins.

Eine Anthropologie des Horrors hätte den Zustand Horror in einem Geflecht aus anthropologischen Grundbegriffen zu lokalisieren: Grenze, Form, Erkenntnis, Ordnung, Identität, das Andere. Durch den Zusammenhang dieser sich wechselseitig bedingenden Konzepte entsteht „Wirklichkeit“, der "Kosmos" als erkennbare, verstehbare, übersichtliche Einrichtung, die "Welt" als Gesamtheit des Seienden in irgendwie geordneter Einheit, als sinnvolles Verhältnis von Innenwelt und Außenwelt. In der Konfrontation von Grenze, Form, Erkenntnis, Ordnung und Identität mit Formen des Anderen – mit ihrem jeweiligen Anderen – äußert sich die Bedrohung von Makrokosmos und Mikrokosmos durch das ihrer Konstitution inhärente Horrorpotential.

Menschliche Erkenntnis basiert auf den Prinzipien von Grenze, Form und Ordnung. Erkennen heißt, etwas als etwas erkennen, und es gibt kein erkennbares Etwas ohne Form und Grenze. Eine als Tarantel auf einem Kirschkuchen erkannte Tarantel auf einem Kirschkuchen grenzt sich in ihrer Tarantelform nicht nur vom Kirschkuchen, sondern vom gesamten Nicht-Tarantel-Sein überhaupt ab. In der Erkenntnis, so wenigstens die klassische Konstellation, steht ein erfassendes Subjekt einem erfaßten Objekt gegenüber. Damit das Subjekt die Bestimmungen des Objekts erfassen kann, muß das Objekt als Objekt erfaßt sein, differenziert von anderen Objekten. Indem das erkennende Subjekt das Objekt als ein Gegenüberstehendes erfaßt und das erfaßte Objekt von anderen zu erfassenden Objekten abgrenzt, stellt der Erkenntnisprozeß eine Ordnung des Wirklichen her.

Erkenntnis strebt nach dem klar Bestimmten und Differenzierten, also voneinander Abgegrenzten, sie zielt auf das der Form nach Einheitliche und tendiert nicht nur zur widerspruchsfreien Ordnung, sondern zur Widerspruchsfreiheit als Ordnung. Erkenntnis folgt in der Antike dezidiert, in der Moderne diskret, aber habituell einer Strategie des Logos. Als Logos galt in der Geistesgeschichte zunächst die weltdurchwaltende Vernunft, die kosmische Ordnungskraft; der Logos war Signum des göttlichen Ordners des Weltganzen, dem es als Bestem nur gegeben ist, das Schönste zu tun (Platon, Timaios 30 a/b), und nichts ist – für Platon und mehrheitlich seit Platon – schöner als ein vernünftig geordnetes und durch Vernunft in seiner Ordnung erkennbares Ganzes. Die göttliche Macht hatte alles Sichtbare "in ungehöriger und ordnungsloser Bewegung" (Platon 2019, 29) vorgefunden: eine Art Chaos also, aber sichtbar. Auch das Schöne, das der Logos à la Platon schuf, ist das Ende des Schrecklichen, könnte aber jederzeit auch wieder dessen Anfang werden, sobald dieses geordnete Formannehmen voneinander abgegrenzter Dinge in Auflösung geriete.

Da die Rede vom Sichtbaren ist, erklärt sich von selbst, wie die Strategie des Logos auf dem Prinzip des Eidos beruht. Das Wort eidos bedeutet zunächst Urbild, Form, Gestalt, Wesen und gewinnt dann Färbungen, die sich mit den Bedeutungen von Logos überschneiden: Begriff, Idee. Der Gehalt des Terminus Logos fächert sich weiter auf: Rechenschaft, Begründung, Wort, Rede, Gedanke, Sinn, Begriff, Sprache, Ordnung, Vernunft. Heraklit hatte den Logos eingeführt als das ewige Prinzip, nach dem das Weltganze geordnet ist. Nicht die ständige Veränderlichkeit der Phänomene, wie man nach seiner Auffassung, daß alles fließt, annehmen könnte, sondern die innere Balance aller Dinge und die innere Einheit aller Gegensätze ist das Zentrale bei Heraklit: der Logos ist das die Einheit Stiftende, das stabilisierende innere Gefüge des Kosmos, die unsichtbare Struktur und Harmonie, die (laut Fragment 54) mehr gilt als die sichtbare. Vielleicht "gilt" sie mehr, aber psycho-logisch gesehen ist sie später als die sichtbare Harmonie. Der Logos à la Heraklit teilt sich als Struktur des Seins im Erkanntwerden dem Denken mit, ist als Gedanke aussprechbar: ein Prinzip des Seins überträgt, indem es erfahren wird, seine Struktur dem Bewußtsein, der Sprache, bewirkt das geordnete (vernünftige) Reden. Dieser Sichtweise gereicht die Vernunft zur Repräsentation des Logos als der einigenden Ordnungskraft, die den Kosmos durchwirkt: Vernunft, die mit innerer Logik vorgeht, ist deckungsgleich mit dem Weltlogos. Durch die Bewegung, mit der sich das Sein "in das Denken und das Wort hinein realisiert"und differenziert, Logos also "Realisierung von Grundstrukturen des Seienden" (Schadewaldt 1978, 27) bedeutet, sucht sich das Denkgeschehen seine Objektivität zu garantieren. Tatsächlich aber ist die "sichtbare Harmonie" ihrerseits Produkt einer anthropologischen Disposition: der Notwendigkeit, dem Prinzip des eidos zu folgen, sichtbar voneinander abgegrenzte Formen zu sehen und so eine Ordnung in die Welt hineinzuregeln.

Sokrates bzw. Platon erklären Logos zur begründeten Rede, die, weil sie von etwas Rechenschaft gibt, Erkenntnis zeitigen kann. Auf Logos-Rede kann man sich verlassen, denn es ist Rede der Form, und dies kann sie sein aufgrund voneinander abgegrenzter Inhalte. Aber schon die Bedeutung von Logos als Wort verrät das Auftauchen des Logos aus dem Eidos: Logos als Wort bedeutet nicht Vokabel, sondern ein Wort, dessen Form durch einen zugrundeliegenden vernünftigen Gedanken zustandekommt; es bedeutet, daß sinnvoll etwas zu etwas erklärt wird, und das ist möglich, weil es möglich ist, es als etwas anzusehen und zu betrachten. Der Logos verbietet die Ansichtssache, weil die in Rede stehende Sache als Eidos ansichtig ist, klar bestimmt durch Grenze und Form; erfaßbar als Bild, Begriff, Idee. Logos handelt vom Übergang einer sinnvollen Anordnung einzelner, voneinander abgegrenzter Formen aus dem Sein in das Bewußtsein. Das Verschiedene wird der Vereinheitlichung unterzogen und zusammengesetzt durch den Logos. Logoi sind (harmonische) Verhältnisse (vgl. Aristoteles, Metaphysik 986a). Angeordnet werden kann nur, was schon Grenze und Form hat, und das Angeordnete ist das Zusammengelegte, Gesammelte, Zusammengelesene: Logos stammt ab von legein, ursprünglich auflesen, sammeln, zusammenlegen, ordnen, zusammenlesen, zählen. Der Logos aktiviert die vernünftigen Funktionen des Menschen: Sprechen, Denken, Rechnen. Zählen wird Aufzählen wird Erzählen: etwas herzählen bedeutet, etwas in bestimmter Ordnung zu nennen, einen bestimmten Zusammenhang herzustellen, ein "Gefüge von Verhältnissen und Bezügen" sichtbar zu machen: Logos erscheint hier als "Proportionalität" (Schadewaldt 1978, 73 ff.).

Logos ist stimmige Rede, weil sie zu einem wohlgefügten Ganzen verbindet. Zur Zeit Homers galt Sprache nahezu nur dann als Sprache, wenn sie Wohlklang aufwies, wenn sie das Harmonische und Stimmige verriet. Das Gesammelte kann in geordnetes Reden übergehen, sofern Bestandteile voneinander abgegrenzt und in harmonische Form gebracht werden.

Grenzsetzung und Formverlangen sind anthropologische Grundbedürfnisse. Grenze und Form sind die Primärfaktoren unserer "Wirklichkeit", die ersten Medien jeder Kosmogonie, Bedingungen, ohne die Erkenntnis nicht Erkenntnis sein könnte. Gravierende Auflösungserscheinungen von Grenze und Form provozieren den Zustand Horror. Der im engeren Sinne rationalen Welterkenntnis ist stets ein Modus der Überwindung eingewoben. Die Strategie des Logos versteht sich als Überwinderin der mythischen Weltsicht, in der Grenzen durchlässig bleiben und die Elastizität der Metamorphose regiert. Ratio verlangt immer neues Beharren darauf, daß der "Welt" vernunftgemäßes Erkennen entspricht. Ratio bedeutet ursprünglich das Abrechnen und Berechnen und entwickelt sich, wie Logos, vom sinnvollen Zusammenlegen, vom Stimmen der Rechnung her. Summen geben Rechenschaft, Rechenschaft gibt Aufschluß, berechnende Rücksicht wird Erwägung, das aus Überlegung Hervorgegangene zeitigt Begründung, die Ratio wird Grund, und wo ein den Gegenstand erklärender Grund ist, sind vernunftmäßige Verhältnisse: Maße, Gesetzmäßigkeiten, Regeln, mit einem Wort: da ist Ordnung. Erkenntnis ist Mobilisierung der Prinzipien Grenze und Form im Namen der Strategien von Logos und Ratio.

"Rationalität" hat also eine Provenienz, die nahezu synonym ist mit Aufrechterhaltung des Kosmos. Rationalität als die den westlichen Kulturkreis dominierende Weise des Zugriffs auf die Welt behauptet, daß die Welt ohne Ratio ohne Grund ist, ohne Fundament, und also ins Bodenlose versinkt; zudem verbindet sie die Auflösung von (oder Auflehnung gegen) Grenze und Form mit dem Irrationalen. Das Horrorgenre feiert die Saturnalien von Logos und Vernunft – die Zeit, in der die innere und äußere Ordnung außer Rand und Band gerät.

Selbst eskalierende Ratio hat ihren Grund in der visuellen Anschauung, die wiederum unmöglich wäre ohne die Prinzipien von Grenze und Form. Grenze und Form sind "apollinische" Prinzipien: Camille Paglia hat apollinische Strukturiertheit zum Charakteristikum des westlichen rationalen Denkens, der abendländischen Kultur überhaupt erklärt: das Streben des westlichen Menschen ist auf die Form, auf die abgegrenzte Identität der Dinge gerichtet.

Tatsächlich läßt sich sagen, daß die berühmte Geste des ausgestreckten Armes des Gottes Apollon alles symbolisiert, was Erkenntnis sichert und gesicherte Erkenntnis zeitigt: Abstandnahme, Distanzierung, Vergegenständlichung, Verobjektivierung, Verbildlichung, Ästhetisierung, Vereinheitlichung, Grenzziehung, Formgebung, Sicherung von Identität und Ordnung. Damit ist nicht das Abendland umschrieben. Aber es sind vorherrschende modi einer in der westlichen Zivilisation vorherrschenden Tendenz, die sich unter dem Begriff des Apollinischen zusammenfassen läßt. Der Zusammenbruch des sicheren Abstands zu den abgegrenzten Objekten und festumrissenen Formen, die Außerkraftsetzung der erkenntnissichernden modi, die dem Menschen die Überzeugung erlauben, sich der Welt zu bemächtigen, der Rücksturz in chaotisches Verwischen und Verschmelzen der Grenzen, Formen und Identitäten bedeutet Horror. Und in einem apollinischen Kosmos entspricht der Zustand Horror der lärmenden Dissonanz des Dionysischen.

Paglia unterstreicht, daß Identität in der westlichen Kultur weitgehend synonym ist mit abgegrenzter Identität. Dies betrifft die Dinge wie die personale Integrität: der abendländische Begriff der Individualität ist apollinisch. Das Konzept der Identität ist abhängig vom Konzept der Grenze und zwangsläufig auch Funktion der Form-Bedeutung. Ich-Identität, Übereinstimmung der Person mit dem, was sie ist, setzt voraus, daß dieses Etwas, an dem Übereinstimmung stattfindet, eine Form hat. Affizierbarkeit der personalen Identität bedeutet, daß etwas – das Andere –  ihre Grenze trifft, bedeutet die potentielle Veränderbarkeit ihrer Form. Wenn die festumrissene Grenze der Identität so spezifisch westlich ist, erscheint auch ihre erhöhte Enervierbarkeit durch das Andere, ihre erhöhte Anfälligkeit für Horror spezifisch westlich. Buddha ist der unbegrenzt Existierende, der kein Anderes kennt: seine Unbegrenztheit begründet seine Untangiertheit, seine Nichtaffizierbarkeit.

Personale Identität bedeutet, daß es ein Anderes gibt, das nicht zu ihr gehört: Identität und das Andere bedingen sich ebenso wechselseitig wie Ordnung und Erkenntnis. Wie es keine Identität ohne das Andere und kein Anderes ohne Identität gibt, so gibt es keine Erkenntnis ohne Ordnung und keine Ordnung ohne Erkenntnis. Ohne die Konzepte von Grenze und Form wiederum gibt es weder Erkenntnis noch Ordnung, und ohne das Konzept der Grenze gibt es keine Form: im Werden zur Gestalt findet das Unbegrenzte Begrenzung. Offenkundig also hat das Konzept der Grenze in diesem anthropologischen Koordinatensystem die tragende Rolle.

Laut Karl Jaspers gibt es drei Anlässe für Philosophie: das Staunen, den Zweifel und die Grenzsituation, jene Situation, in welcher der Mensch seine Existenz erfährt und seiner Endlichkeit gewahr wird: Sterben und Tod, Schmerz, Leiden, Kampf, Schuld. Sichtlich nun ist auch Horror eine Grenzsituation; ein Zustand, der das Gewahrwerden von Endlichkeit abfordert, indem er an Identitätsgrenzen rührt: sei es in der Konfrontation mit Tod und Auflösung, die an die Begrenztheit des Lebens, an die Endlichkeit personaler Identität überhaupt gemahnt, sei es im herausfordernden Zugriff auf eine bestimmte Grenze in der Konstitution des Selbst, der immerhin noch die Möglichkeit eines Todes im Leben beschwört – den Tod des alten Selbst.

Die Grenze erzeugt das Jenseits der Grenze: das Andere, das Fremde. Der Zustand Horror vermerkt die Bedrohung und das Überschreiten von Grenzen elementarer Bedeutung, den plötzlichen Einbruch oder Übergriff des Anderen und Fremden. Es gibt Horror, seit es die Wahrnehmung von Grenzen gibt, und es gibt die Wahrnehmung von Grenzen, seit es Wahrnehmung gibt. Wo keine Grenze ist, kann nichts wahrgenommen werden außer Chaos. Das heißt, kann Chaos wahrgenommen werden? Wo Chaos konstatiert werden soll, muß es immerhin die Grenze geben, die eine Perspektive ermöglicht, aus der das Chaos wahrgenommen werden kann. Wenn Paglia bemerkt, das Chaos der archaischen Nacht sei "formlos und grenzenlos" (Paglia 1995, 359) gewesen vor der Geburt des Blicks, ist damit die Blickdominanz der westlichen Kultur als Maßnahme gegen das Chaos angesprochen. Wir fürchten eine Grenze zum Chaos, die wir mit ordnungshörigem und ordnungsschaffendem Blick fernzuhalten suchen; aber wir glauben an die Existenz dieser Grenze.

Es gibt keine Erkenntnis ohne Grenzen. Die Grenze etabliert Ordnung durch Differenzierung: undifferenzierte Einheit oder Chaos oder Formlosigkeit oder Anarchie wird in Ordnung überführt durch Akte der Abgrenzung. Die Grenze ist elementares Prinzip der Seinsgestaltung – und Abgrenzung ist elementares Prinzip der Identität. Indem durch Abgrenzung das Andere entsteht, stellt sich Identität her, und die Art und Weise der Grenzziehung bestimmt, in welchem Maße das Andere das Fremde ist. Das in der Herstellung von Ordnung und Identität konstituierte Andere wird zum potentiellen Horror, wenn seine Entfernung durch die Grenze zu weit oder nicht weit genug gegangen ist; wenn es zu fremd geworden oder zu nah geblieben ist. Durch die Grenze selbst gerät Horror zur ständigen Unio mystica – zur geheimnisvollen Einheit – mit dem Anderen.

Eine Grenze des Selbst ist tangiert und steht auf dem Spiel, die sich beim Menschen der Frühzeit auch dadurch erst befestigte, daß er im Horror die Grenzverletzung empfand. Der überwältigende, schaudernmachende Eindruck beweist etwas, das überwältigt worden ist und schaudert; mir widerfährt, also bin ich – horreo ergo sum. Die erste plötzliche Konfrontation mit einem Anderen in der archaischen Menschheit war der Übergriff des Numinosen, empfunden als Schauder vor dem mysterium tremendum und dem Ganz anderen, wie Rudolf Otto es nennt.

Die Strategie des Logos vermag den Zustand Horror nicht abzuschaffen, denn Horror dringt gerade aus den Sollbruchstellen dieser Strategie und beweist die Anfälligkeit der Aufklärung für den inhärenten Feind, das von ihr vermeintlich Überwundene. Angst, Verstörtheit, Unglück, Beunruhigungen, Spannungen fliehen zu Rationalisierungsbestrebungen. Die Grenzziehung als anthropologische, erkenntnistheoretische oder auch soziale conditio sine qua non soll den Horror bannen, Furcht minimieren, diffuse Weltangst lindern, soll Form, Ordnung, Identität und Erkenntnis gewährleisten – und enthält doch in dem Maße ein gesteigertes Potential für Horror, je rigoroser die Grenzen gezogen werden. Je mehr das Andere durch rigide Grenzziehung zum Fremden wird, um so befremdlicher und horrender wird der Kontakt mit ihm, wenn die Grenze keine Ab- und Ausgrenzung mehr leistet. Dialektik der Aufklärung: je mehr beherrschbar und beherrscht wird, um so stärker wird der Rest an Unbeherrschtem und Unbeherrschbarem zur Quelle der Angst.

Eine Anthropologie des Horrors hätte also der These zu folgen, daß Horror die beständig lauernde Immanenz in den humanen Strategien zur Weltbewältigung ist, eine durch das Streben nach Weltbewältigung gesetzte Immanenz, eine Art ghost in the machine in der Entwicklung der rationalen, logisch-vernunftgebundenen Welt- und Selbsterkenntnis. Horror ist der auf Grenze, Form, Ordnung und abgegrenzter Identität basierenden apollinischen Strukturierung der Welt notwendig inhärent. Zuerst bestimmt die Art des Horrors die Art der Rationalität: Strategien der Weltbewältigung sind zunächst Strategien zur Vermeidung von Horror. Als Geist in der Rationalitätsmaschine wird der Zustand aber nach wie vor akut, wenn deren Strategien versagen oder sich als unzulänglich, als verkürzend herausstellen. Der Zustand Horror verweist auf die andere Seite der apollinischen Struktur. Im Horrorgenre erscheinen Wesen und Zustände, deren Herkunft die "Hohlräume in der abendländischen Kultur" (Leppmann 1993, 149) sind. Indem das Genre Horror den Zustand Horror vorsätzlich beschwört, erinnert es an die von den rationalen Strategien ausgeblendeten Bereiche und kritisiert die von ihnen geschaffenen Paradigmen. Grenze, Form, Ordnung oder Identität als anthropologische Grundkonstanten bzw. erkenntnistheoretische Versicherungen werden vom Horrorgenre in ihren deutlichen oder möglichen Verengungen angegriffen; die Frage des Bezugs zum Anderen – und zum Anderen der rationalen Paradigmen – wird stets aufs neue zugespitzt.

Horrorkunst würde nicht auf diese Weise kritikfähig sein können, wenn der Zustand Horror lediglich aus Repulsion und Abscheu bestünde; dann käme es stets zur Reduktion auf den Status quo, zur Affirmation und Festigung bestehender äußerer und psychischer Gefüge. Der Zustand Horror ist jedoch wesentlich Ambivalenz: eine Mischung aus Abscheu und Lust, aus Repulsion und Faszination. Und diese Lust, diese Faszination am Anderen des Status quo verleiht dem durch das Horrorgenre transportierten Unbehagen über das allzu Verengende der rationalen Strategien Gewicht. Abscheu und Repulsion sind Reaktionen der Beschränkung, apollinische Bekräftigung bestehender, versichernder Grenzen und Formen. "Das Apollinische ist stets reaktionär" (Paglia 1995, 162). Lust hingegen ist stets Lust an der Erweiterung, also auch an dionysischer Grenzauflösung. Freud definierte Eros als das Streben danach, größere Einheiten zu schaffen. Der Schauder des Horrors bedeutet eine Art Aufrichten der Antennen: zur Kommunikation mit dem Unbekannten, Unvertrauten, Unheimlichen. Jede Art von Horror hat diese erotische Komponente: die plötzliche und violente oder aber sukzessive, jedoch anhaltende Öffnung zum Austausch mit dem Anderen, ein Austausch, der das eigene Selbst moduliert und modifiziert. Der Reiz des Schreckens besteht darin, diese Öffnung zu ertragen. Nicht trotz der Aufklärung gibt es eine Lust an der Angst, sondern wegen ihr.

Horror steht in der Dialektik von Grenze und Entgrenzung, von Form und Formlosigkeit bzw. Deformation, von kognitiver Orientierung und kognitiver Desorientierung, von Ordnung und Chaos; in der Dialektik von Ich-Identitäts-Sehnsucht und Ich-Identitäts-Auflösungs-Sehnsucht; schließlich in der Dialektik des Selben und des Anderen, des Eigenen und des Fremden. Virulent wird der Zustand Horror in der Wechselwirkung einer auf Grenze, Form, Ordnung und Identität sich beziehenden apollinischen Beharrungstendenz und einer dionysischen Auflösungstendenz. Das Horrorgenre thematisiert zugleich den Schrecken der Nichtvorhandenheit von Grenze, Form, gesicherter Erkenntnis, Ordnung, Identität, und die Lust an der zeitweiligen Nichtvorhandenheit all dessen; der Zustand Horror schillert zwischen der Sehnsucht nach dem integren, abgeschlossenen Selbst und der Sehnsucht nach dem Anderssein, der Metamorphose. Zwischen der Angst, daß man die Kontrolle über das eigene Schicksal verliert, und der Lust daran.

Horror ist anthropologische Notwendigkeit gerade durch das anthropologische Grundbedürfnis nach kognitiver Orientierung. Die plötzliche Konfrontation mit dem Anderen als dem, was den prinzipiell zu immer mehr Rationalität strebenden Strategien kognitiver Orientierung prinzipiell zuwiderläuft, die Konfrontation mit dem, was im Hinblick auf Grenze, Form, Ordnung und Identität das Andere darstellt und in seiner Bedrohlichkeit doch zugleich faszinierend und anziehend wirkt, ist die klassische Horrorsituation.

In seiner Theorie der Moderne namens Philosophie des Geldes (1900) erkennt Georg Simmel im Hinblick auf das Lebensgefühl und den Stil des modernen Individuums die Distanz als eine grundlegende Bestimmung. Simmel diagnostiziert die Tendenz zu einer immer größer werdenden inneren Distanzierung zwischen dem Ich und seinen Lebensinhalten, inneren wie äußeren, als ein Signum der Moderne, das sich weit über den Bereich des bloß Ästhetischen hinaus kundgibt. Das Interesse seiner Zeit begreift Simmel als in ungewöhnlich hohem Maße auf Entfernung und Vergrößerung der Distanz gerichtet: er konstatiert die grundsätzliche Neigung, die Dinge möglichst aus der Entfernung auf sich wirken zu lassen. Das ästhetische Interesse gilt Simmel hier nur als das anschaulichste Zeitzeichen. Generell habe das moderne Individuum, wie Simmel feststellt, eine Scheu vor der konkreten Nähe entwickelt, womöglich gar eine verkümmerte Empfindungsfähigkeit dieser konkreten Nähe gegenüber. Den seinerzeit dominierenden Kunststil des Symbolismus deutet Simmel als Berührungsangst, als Furcht, in allzu nahe Berührung mit den Objekten zu kommen, und als Symptom einer Hyperästhesie der Moderne. Es liegt nahe, den Zustand und das Genre Horror auch im Lichte einer solchen Diagnose zu betrachten: im Phänomen Horror verbirgt sich auch eine Dialektik von Nähe und Distanz.

Apollon und Dionysos haben in diesem Zusammenhang nicht nur emblematische Funktion; vielmehr sind das Apollinische und das Dionysische zu verstehen als zwei grundsätzlich differente Einstellungen zu Nähe und Distanz, als zwei genuin zu unterscheidende Verhaltensweisen zu Grenze, Form, Ordnung, Identität und den modi des Erkennens, als zwei Arten, sich zum Anderen zu verhalten. Der Zustand Horror oszilliert zwischen dem Apollinischen und dem Dionysischen, zwischen dem Willen zur Umgrenztheit und der Lust an der Auflösung.

Horror, als Kompositum aus Angst und Lust, als Reaktion auf die Andersheit des Anderen, als Grenzgang zwischen der Sehnsucht nach Grenze und der Sehnsucht nach Entgrenzung, wird durchzuckt von einem irritierenden Reflex: der Lust an der Zufügung, dem lustvollen Aushalten des Erleidens von Macht, Übergriff und einer Art von Gewalt. Horror ist ein Intensimeter im sadomasochistischen Labor der Psyche.

Kein schmaler Grat läßt in solchem Maße Wanderungen zu wie die Grenze. Ernst Cassirer hat in seiner Philosophie der symbolischen Formen eine Reihe von mythischen Indifferenzen zusammengefaßt und erklärt, welche Grenzen im mythischen Weltbild nicht gezogen wurden – oder werden. Das Horrorgenre handelt auch vom Einbruch dieses mythischen Weltbildes in das moderne, wissenschaftliche, vernunftgeleitete Weltbild. Es handelt vom atavistischen Untergraben der Strategien, die Logos, Rationalität und Aufklärung hinsichtlich der Grenzziehungen zwischen, unter anderem, Leben und Tod, Mensch und Tier, Vergangenheit und Gegenwart, Ich und Nicht-Ich, Erscheinung und Wesen, psychischen Funktionen und materieller Existenz, Substanz und Kraft, einem Ort und seiner "Macht" für unwiderlegbar und unwiderruflich halten. Cassirers Beschreibung des mythischen Weltbildes liefert Parameter für die Analyse des Horrorgenres.

Eine Phänomenologie des Horrors hätte die verschiedenen Erscheinungsformen des horrenden Anderen zu untersuchen. Versionen des Anderen, die auftreten könnten: das Übernatürliche, das Nichtseiende, das Unheimliche, der Tod, das Formlose, das Monströse, das Dämonische, das andere Ich, die Natur, das Heidnische, die Sexualität, der Körper, die Frau. Es sind dies selbstredend auch Erscheinungsformen einer kulturellen Herstellung des Anderen. Ein eigenes Kapitel würde dem Vampir zustehen, nicht nur, weil es sich um den populärsten Vertreter des Horrorgenres handelt, sondern vor allem, weil Vampirismus wie kein anderes Motiv des Horrorgenres über die Lust an der Zufügung aufklärt.

Eine Ideologie des Horrors hätte zu untersuchen, mit welchen Zielsetzungen Horror evoziert wird. Es gibt eine Geschichte des Einsatzes von Schreckbildern zur Einschüchterung, etwa in den Höllenvorstellungen, die als moralisches Druckmittel mit dem Ziel der Verhaltenskontrolle und letztlich einer Aufrechterhaltung des gewünschten Status quo propagiert wurden. Eine gängige These zum Horrorgenre lautet, daß es als eine Art "mythische Aufklärung" funktioniert, über den in gesellschaftlicher, sozialer oder geschlechtlicher Hinsicht erwünschten Status quo informiert und opportunes Verhalten propagiert. Das Andere und Fremde werde mit dem Bösen assoziiert, das in die jeweils sakrosankte Struktur eindringt, doch führe der Horrorfilm dieses potentiell Zersetzende nur vor, um es wieder zu überwinden und so die Stabilisierung der herrschenden Zustände und erneutes Dissimilieren vom Anderen und Fremden nahezulegen. Vertretern dieser These gilt das Horrorgenre als morality play mit stets demselben repressiven und reaktionären Ausgang. Was in Frage zu stellen wäre.

Die Verabreichung von realem Schrecken oder Schreckbildern war auch stets zur Lusterzeugung dienlich. Realhorror hat seine Geschichte auch als öffentliches Spektakel, von den römischen Schauspielen, bei welchen der Darsteller des Herkules im Nessushemd tatsächlich verbrennen mußte, bis zu den Hexenverbrennungen und öffentlichen Hinrichtungen. Die Verabreichung von Horror-Bildern soll demgegenüber als Surrogat gelten, das einen nach Grausamkeit lüsternen Voyeurismus befriedigt und entschärft. Wenn aber schon die Verabreichung von Realhorror als Kanalisierung des Instinkts zu realer Gewalttätigkeit gelten soll und somit selbst Surrogatfunktion einnimmt, wird eine Grenze zwischen Realhorror und Schreckbild fließend: beides scheint auf dieselbe psychische Disposition zu treffen.

Womit die Ebene der Rezeption angesprochen ist. Warum setzen sich Menschen überhaupt dem Schreckbild oder dem Realhorror aus? Von welcher Art ist der Genuß daran? Und in welcher Beziehung steht dieser Genuß mit den Intentionen, die hinter der Produktion von Schreckbildern stehen? Sind die Botschaften, die angeblich vermittelt werden sollen, wirklich die vermittelten Botschaften? Ist nicht vielmehr die Behauptung, der Horrorfilm solle eine bestimmte Botschaft vermitteln, ihrerseits verdächtig, insgeheim selbst die Stabilisierung des Status quo für vermittlungsbedürftig zu halten? Der Horrorfilm ist hier in solchem Maße offen für Ambivalenzen, daß zu fragen ist, ob die ihm lange zugeschriebene Intention nicht eine aus bestimmten Gründen propagierte Fiktion ist; es sind längst ganz andere Botschaften empfangbar als Konformismus, Konsolidierung der Ordnung und Exorzierung des Anderen.

Im Horrorgenre wird auch das nicht aufzuhebende Andere im Ich thematisiert; aus dem desintegrierten Ich eine neue Haltung dem Anderen und Fremden gegenüber zu entwickeln, ist der Ansatz von Julia Kristeva in Fremde sind wir uns selbst. Wo Immanenz des Fremden im Eigenen konstatierbar ist, bedeutet das Fremde hassen und bekämpfen nichts anderes als: das eigene Unbewußte, das eigene "dunkle" Andere hassen und bekämpfen. Wenn ich mir selbst Fremder bin, gibt es keine Fremden, die fremder wären als ich.

Dies eröffnet den Blick für die subversive Ethik des Horrors. Integrale Andersheit zu erkennen, kann bedeuten, das Andere integral zu behandeln. Grenze, Form, Identität, Ordnung sind geschlossene Konzepte; Horror ist ein Weg ins Offene, und das Offene ist ein Weg aus dem Horror. Der Zustand Horror birgt hochexplosives erotisches Material; wenn Horror eine erotisch aufgeladene Konfrontation mit dem Anderen und Fremden ist, heißt dies zumindest für die Dauer des Affekts: sich in größerer, erweiterter Einheit mit dem Anderen und Fremden zu befinden. Worauf es ankäme, wäre: den Affekt dadurch letztgültig aufzuheben, daß etwas an ihm ins Unendliche verlängert wird – der intensive Austausch mit dem Anderen und Fremden. Die Bilder des Horrors bedeuten in diesem Sinne: Öffnungen zur Andersheit.

Der Zustand Horror befreit kurzfristig von der Rationalität. Aber ein Zustand namens das Offene könnte längerfristig vom Horror befreien. Nach Jaspers ist die existenzerhellende Grenzsituation immer auch Durchgangssituation. Wohin also? Zur Fortsetzung von Kierkegaards Der Begriff Angst mit anderen Mitteln: nicht der Sprung in den Glauben wie bei Kierkegaard, sondern der Sprung ins Offene ist zu wagen, als Geste gegen die einseitig verengte und verengende, verselbständigte Rationalität, die "lebensfeindlich (…), (selbst)zerstörerisch, imperialistisch" (Collmer 1994, 344) wirkt, sofern sie die grausame Geschlossenheit der Form und die lediglich ausgrenzende Grenze verlangt, aus dem Konzept der Ordnung Ambivalenz und Widerspruch, aus dem Konzept der Identität "verstörende" Metamorphosen herauszuhalten sucht, sofern ihre Logik nicht Alogik zu umgreifen lernt und sofern ihr Bezug zum Anderen permanent genau jene Geister beschwört, die sie zu bannen sucht.

Die Beschäftigung mit dem Zustand Horror ist notwendig auch eine Zustandsbeschreibung der westlichen, abendländischen Rationalität. Der Zustand Horror reflektiert präzise, wie diese Rationalität sich konstituiert, was sie bedroht und wo ihre Defizite liegen. Sich auf den Zustand und das Genre Horror einzulassen heißt, sich auf das Unbehagen in der Rationalität einzulassen. Wo Rationalität in Hyperrationalität umschlägt, die Hypermuster schafft, Hyperordnung oder Hyperidentität einschleusend, kann Horrorkunst als Korrektiv wirken. Der Zustand Horror ist dezentrierte Rationalität; das Genre Horror ist kalkulierte Dezentrierung hypertropher Rationalität. Wenn Hyperrationalität ihrem immanenten Horror ständig ausgeliefert ist, bedarf es der Offenheit nicht für Irrationales, aber für Para-, Kontra- und Neorationales. Das Gegenteil von Hyperrationalität muß nicht Obskurantismus sein.

Selbst dort, wo im Plot die Interaktion mit dem Anderen und Fremden jäh abgebrochen wird, mahnt der Horrorfilm doch unentwegt zur Überprüfung des eigenen Bezugs zum Anderen und Fremden. Selbst dort, wo er Repression bebildert, kann er progressiv wirken. Selbst dort, wo der Plot restriktiv zur Ordnung ruft, kann der Film sie destabilisieren. Horror als die Kraft, die stets das Eigene will und doch das Fremde schafft. Der Stoff, aus dem die Alpträume sind, verdient einen Traum am Grenzstein: über die Grenze als Sicherheitsfaktor und als Unsicherheitsfaktor, über die Weisen, sie zu überschreiten, über den Wert der Grenzerfahrung und die Horizonterweiterung durch den Grenzgang. Ist das noch (oder schon) Philosophie? Philosophie bedeutet: Liebe zur Weisheit. Philosophie des Horrors bedeutet: Liebe zur Weisheit des Horrors.

Die Philosophie des Horrors ist interdisziplinär und zuweilen disziplinlos. Sie versucht sich objektiv am Aufspüren eines Urphänomens, erlaubt sich aber auch gnadenlose Subjektivität. Sie ist geboren aus der Erkenntnis, daß Philosophie dem Horror nicht entkommen kann – und Horror der Philosophie nicht entkommen können sollte.

 









 

Literatur:

Aristoteles: Metaphysik, Reinbek bei Hamburg  1994.
Collmer, Thomas: Pfeile gegen die Sonne. Der Dichter Jim Morrison, Augsburg 1994.
Heraklit: Fragmente, München und Zürich 1986.
Leppmann, Wolfgang: Rilke. Sein Leben, seine Welt, sein Werk, Bern und München 1993.
Paglia, Camille: Die Masken der Sexualität, München 1995.
Platon: Sämtliche Werke, Band 4, 25. Auflage Reinbek bei Hamburg 2019.
Schadewaldt, Wolfgang: Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen, Frankfurt am Main 1978.
Schmid, Hans: Fenster zum Tod. Der Raum im Horrorfilm, München 1993.
Van der Leeuw, Gerard: Vom Heiligen in der Kunst, Gütersloh 1957.

















12 Kommentare:

  1. Jörn Bünning17.8.12

    Lieber Christian,

    mit Deiner Philosophie des Horrors hast Du einen beachtlichen "Brocken" hingelegt, was trotz des beachtlichen Umfanges vor allem für den Inhalt gilt.

    Mein Kompliment und meinen Dank zur philosophischen Begründung dieses Genres, die in ihrer Ausführlichkeit und Tiefe auch die psychologischen Grundlagen von Kognition und Wahrnehmung nicht auslassen kann. So wie Grenzziehungen für Wahrnehmung und Verständnis grundlegend sind, so gehört das Spiel an und mit den Grenzen zum Faszinosum dieser Kunst. Wo das Horror-Genre unmittelbar auf den Bereich hinter dem Verstandenen und Verstehbaren verweist, vermischt sich Angst mit Neugier zu einer trefflichen Mischung, die uns bis in die Haarwurzeln hinein mit wohligem Gruseln überschauert.

    Vielleicht sind es gerade diese physiologischen Effekte, die zu einer Abwertung als "trivial" führten, weil sie die Kunst im Lichte eines Fahrvergnügens erscheinen ließen, der - Katharsis hin oder her - hauptsächlich an der Erzeugung weicher Knie gelegen war, der Erzeugung eines möglichst nachhaltigen Schocks mit allen Mitteln.


    Doch liegt Trivialität weder im Genre noch in einer Thematik begründet, sondern höchstens in der Umsetzung in ein konkretes Werk. Diese kann sich als leicht "durchschaubar" erweisen, wenn sie zu offensichtlich und ausschließlich auf die bekannten üblichen (und häufig verachteten) Vorlieben des Publikums spekuliert. Wer mit dem Hinweis auf Trivialität hingegen ein ganzes Genre pauschal ablehnt, verrät seine Borniertheit, die sich häufig nur auf Unkenntnis gründet.

    Vieles würde ich zu Deinem Text gerne anmerken und am liebsten noch um eine kleine "Psychologie des Horrors" ergänzen, möchte aber auch das Dialogische in Deinem Block nicht zu kurz kommen lassen.
    Bis bald.

    Liebe Grüße
    JB

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    1. Lieber JB,

      nur kurz zwischen echtem, trivialem Fieber und Reisefieber thanks loads for your words. Zu sagen, zur Psychologie kommen wir noch, wäre nicht richtig, wir sind schon längst mittendrin, und wahrscheinlich zeigen sowieso alle Kompaßnadeln auf Poesie. 001 ist wie eine Galeonsfigur für die Schiffsladungen, die schon existieren, also die Seele des Schiffes, nur ich selbst war länger abwesend, the engines powered down years ago when Aljoscha sailed The Good Ship Hope, auch darum fühle Dich bitte berechtigt zu jeder Form von allem - because all is work in progress. Der Block hilft jedenfalls, in meinem eigenen Horror-Wolfenbüttel mal den Lessing zu spielen. :)
      Ja, guter Punkt, die Abwertung als "trivial" eben im Zusammenhang mit dem angestrebten physiologischen Effekt, und schön formuliert, "weil sie die Kunst im Lichte eines Fahrvergnügens erscheinen ließen" - in dieser Hinsicht steht der Horrorfilm neben dem pornographischen Film in der Buh-Ecke, weil er unerschrocken das Ziel hat, zu erregen - sexuelle Erregung oder der thrill der Angstlust. Dennoch verwunderlich, wie marginal dieser Punkt im Grunde werden könnte, gegenüber all den Leistungen, die etwa eine Academy of Motion Picture Arts and Sciences *nicht* würdigte.
      Until soon, all good wishes,
      C

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    2. Jörn Bünning21.8.12

      Lieber Christian,

      Du hast natürlich recht: Thematisch befinden wir uns hier schon inmitten einer Psychologie. Es sind sogar ganze Containerschiffsladungen an Psychologie in den Fahrwassern des Horrors unterwegs. Dennoch wage ich zu behaupten, dass darin die Psychologie bestenfalls angerufen und beschworen, aber eben nicht angewendet wird. Nach wie vor zitiert zwar alle Welt das Unbewusste als unerschöpfliche Quelle unserer Ängste und Lüste und folgt Michael Balint auf den Spuren der Lust an der Angst, die er als "Thrill" bezeichnete. Doch enden die psychologischen Theorien des Thrill in einer eher ratlosen Phänomenologie oder Postulierung der apollinisch-dionysischen Ambivalenz des Menschen.

      Eine Theorie, wozu etwas offensichtlich sehr Unangenehmes unter kontrollierbaren Bedingungen auch lustvoll erlebt werden kann, habe ich noch nicht gefunden. Sie müsste nämlich erklären, was es bringt, wenn der Mensch seinem Gaul auch mal emotional die Sporen gibt.
      Die Lust an körperlicher Anstrengung verspüren zunehmend weniger Menschen mit den bekannten negativen Folgen für die Gesundheit. Dagegen hinterlässt die Flut an medialen Horror-Lust-Träumen kaum einen spürbaren Gesundheitseffekt. Die Mär von der Katharsis diente schon den alten Griechen als Feigenblatt für ihren Voyeurismus, mit dem man das Blut auf der Bühne stets zu rechtfertigen wusste. Davon ist die Konsolidierung des Selbst in der Auseinandersetzung und Integration unbewusster Inhalte nur einen Steinwurf entfernt. Verstanden ist das aber noch längst nicht.

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    3. Lieber Jörn,

      hochinteressant Dein "Die Mär von der Katharsis". [Wobei als erstes mit dem Mißverständnis aufzuräumen wäre, daß es Aristoteles um Reinigung *von* Affekten gegangen sei; es ging um Reinigung *der* Affekte.] Denke, wir kommen zu dem, was Du ansprichst, vor allem in der Abteilung "Die Lust an der Zufügung", wird u.a. einen Blick auf die S/M-Inszenierung enthalten und die Perversion einer Theorie Freuds. Muß jetzt aber erstmal zum Städtele hinaus. :)

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    1. Next stop: der heilige Raum. Die Geburt des Raumgefühls aus dem Geiste des Horrorschauers. :)

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  3. Christian, meine uneingeschränkte Bewunderung für Deine '001 – Philosophie des Horrors'. Jörn hat es ja bereits geschrieben, SO und überhaupt habe auch ich noch niemanden das Phänomen 'Horror' betrachten sehen, phänomenal inspirierend … und dabei so goddamn beautiful! (Allein schon der sechste Satz im zweiten Absatz, eine immens kraftvolle, begriffs-, konnotations- und assoziationsgeladene Geschichte, wirklich wunderschön. Ein klein wenig so wie das letzte rasante Viertel von Aljoscha, eine Art Achterbahn-Essenz davon. :)

    Mich faszinieren im Moment ganz besonders Deine Überlegungen zum kulturell-philosophischen Hintergrund und dem diesbezüglichen Kontext der menschlichen Horrorerfahrung. Dabei scheint im Hinblick auf westliche und fernöstliche Realitäts- und Begriffskonstruktion die Granularität derselben eine ausschlaggebende Rolle zu spielen. Während 'die große Welle im Hafen' zum Beispiel als Tsunami in Japan einen Begriff, ein Konzept verkörpert, oder das Tao die widerstreitenden und sich doch gleichzeitig gegenseitig bedingenden Elemente inklusive Kern des jeweils Anderen als untrennbare Einheit repräsentiert, scheint aus westlicher Perspektive 'These, Antithese, Synthese' der Weisheit immer noch letzter Betrachtungsschluss zu sein.

    Vielleicht auch ein Grund, warum die aus westlich-abendländischer Sicht seltsame Ruhe und Gelassenheit der Japaner angesichts der Fukushima-Katastrophe in der öffentlichen Reflexion derartig große Wellen geschlagen haben. Der Super-GAU ist womöglich – nicht nur aufgrund der fürchterlichen Erfahrungen mit den Atombombenangriffen zum Ende des Zweiten Weltkriegs – in die Konstruktion und Wahrnehmung des Themas 'Kernenergie' dort quasi bereits "eingebaut".

    Ansonsten wünsche ich eine wunderbare und erlebnisreiche Reise, kommt gut hin, durch und wieder zurück, auf bald! Ich freue mich schon jetzt sehr auf die nächste Station Deines Horrorritts ...

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    1. Liebe AugenBlickerin,

      danke Dir sehr! :) Zu westlich / fernöstlich, es gab einen japanischen Schriftsteller und Philosophen, Tetsuro Watsuji, der explizit vom Gedanken der "Nicht-Zweiheit zwischen Selbst und Anderem" sprach, die im japanischen Empfinden und in der japanischen Kultur in vielen Spielarten zum Tragen kommt. Ich weiß nicht so viel über das Fernöstliche wie Jörn, aber wahrscheinlich erklärt sich selbst ein Phänomen wie diese dünne Schiebetür - shoji - in japanischen Häusern vor diesem Hintergrund. :) Jenem nämlich, daß Abgrenzungen aufhebbar und beweglich sind.
      Oder der japanische Garten, der die Natur als etwas Irrationales behält, das nicht gebändigt und "erobert" werden soll, sondern als etwas, dem eine unendliche Tiefe innewohnt, die man nur betont. Ausgewogenheit der Kräfte, die zum Herzen spricht, und nicht äußere Regelmäßigkeit.
      Aus dem Komplex Kernenergie ist letztlich auch Godzilla entsprungen, und es ist auffallend, wie die Japaner ihr Monster lieben. :)
      Tanizaki, ein anderer japanischer Schriftsteller, fand übrigens, die Menschen des Westens sind Schattenverscheucher. :) (In: "Lob des Schattens").

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  4. Jörn Bünning7.9.12

    Gegen den "Fernostexperten" muss ich mich aber gleich verwahren, denn dazu gehört wohl etwas mehr, als nur einige rudimentäre Kenntnisse nebst familiären Bindungen.

    Auch bin ich mittlerweile etwas misstrauisch gegenüber vielen geläufigen traditionellen Vorstellungen über den Osten geworden, denn mittlerweile hat auch die mentale Annäherung an den Westen ganz erheblich zugenommen und dies wird den Japanern selbst erst allmählich klar.

    Sicher ist die traditionelle östliche Denkweise vom Dao geprägt, deren abendländisches Gegenstück sich ansatzweise in der Auffassung Heraklits (vom Streit als dem Vater aller Dinge) spiegelt. Allerdings lassen sich viele Dinge auch unter Zuhilfenahme dialektischer Denkmethoden verstehen: Zu jeder Aussage über Japan gibt es auch eine gegenteilige, die ebenso richtig ist.

    Wenn z.B. behauptet wird, der Westen steht für das Individuum, der Osten für die Gemeinschaft, dann ist das vollkommen richtig und zeigt sich schon daran, dass in Asien zuerst der Familienname und dann der "Vorname" genannt werden. Die dünnen Zimmerwände gestatten kaum eine Abgrenzung. Der ausgeprägte Individualismus des Westens war hier lange verpönt und doch lässt sich auch feststellen, dass kaum irgendwo auf der Welt die psychische Abgrenzung des Individuums so hoch ist wie hier. Die Urangst des Ostens, sein Gesicht zu verlieren, lässt Emotionen einfrieren und führt nicht selten bis zum Suizid aus Scham.

    Ein beeindruckendes Dokument dieser Denkart liefern die Werke des in Japan verehrten Schriftstellers Natsume Soseki, einem Zeit- und Geistesgenossen Watsuji Tetsuros. In seinem Roman "Kokoro" schildert er den Fall eines emotional zurückgezogenen Lehrers, der, von Schuldgefühlen innerlich zerfressen, schließlich Suizid begeht. Der soziale Anpassungsdruck, dem engen Zusammenleben geschuldet, hat offensichtlich seinen Preis für die Psyche.

    Die offensichtliche Gelassenheit der Japaner angesichts von Katastrophen ist nicht nur die lang erprobte Antwort auf die fragilen Lebensbedingungen der Vulkaninseln, sie beruht auf dem Bewusstsein, dass der Tod des Einzelnen keine Katastrophe darstellt. (Viel schlimmer erlebten die Japaner den Rücktritt ihres Kaisers, denn er symbolisierte das ganze Japan.) "Ganbaru" (nicht aufgeben, hartnäckig sein, durchhalten) ist das japanische Ethos und das verträgt keine Panikattacken. Insofern gilt im Osten wie im Westen: Die Not ist die Mutter der Tugend. :)

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    1. Dear J,

      daß alles viel komplexer ist, ist das erste, was mir morgens durch den Kopf geht. Ich gebe dem Wecker eins auf die Rübe und brülle ihn an: " Es ist alles viel komplexer!" :) Als Ray und ich seinerzeit

      Grandpa's Apfelkuchen ins Gesicht

      ausbaldowerten, erlaubte ich mir diesen kleinen Exkurs in die japanische Ästhetik, known from "Theorie des Schönen in Japan", aber wenn du den nächsten Japaner, den du triffst, danach fragst, weiß der von waka und kokoro? Das Lichtgewitter Tokio, today, läßt schwer begreiflich scheinen, wovon Tanizaki in "Lob des Schattens" eigentlich spricht. Immerhin ist Tanizakis Ästhetizismus 1933 tatsächlich Protest gegen die Verwestlichung Japans, und er mahnt in seinem Essay die Japaner an eine "ihrem Wesen entsprechende Richtung", an eine fast 1000jährige Tradition, und man spürt bereits sein Bedauern über den drohenden Verlust.

      "Die dünnen Zimmerwände gestatten kaum eine Abgrenzung", streben auch keine an, stark abgegrenzt ist aber der Bereich des eigenen Hauses gegen das "Außen". So beschreibt es Watsuji: es sei für den Japaner selbstverständlich, das "Haus" als uchi (innen) und die Welt draußen als soto (außen) zu betrachten. Innerhalb des uchi sind die Abgrenzungen aufgehoben. Eine Ehefrau nennt ihren Mann uchi oder uchi no hito (Mann des Innen), ein Ehemann seine Frau kanai (Inneres des Hauses). Die Familienmitglieder sind uchi no mono (die Menschen drinnen), streng unterschieden von "denen draußen". Daß man sich in Japan im Hauseingang die Schuhe auszieht, ist ein Zeichen der Unterscheidung zwischen Innen und Außen.

      Gleichzeitig betont Watsuji die Bedeutung des "Zwischen"; er beschreibt es als Verschmelzung von traurig-sanfter Liebe und kämpferischer Selbstlosigkeit, dem spezifisch japanischen Phänomen der "Entschlossenheit aus Verzweiflung" (yake). Und grundsätzlich versteht er das Wort nin-gen (Mensch) nicht so sehr im Sinne von "Individuum", sondern vor allem als das, was zwischen den Menschen ist. Mensch als "Zwischensein" - von einem solchen Verständnis, soviel ist klar, ist das westliche "Individuum" doch recht weit entfernt.

      Der Tenno, der das ganze Japan symbolisiert: das japanische Volk ist das "große Haus", eine Art Großfamilie mit der Tenno-Familie an der Spitze, aber die Ganzheitlichkeit und die Art der Solidarität ist verschieden von der uchi no mono-"Nicht-Zweiheit". Psychische Abgrenzung also vielleicht daher, daß "Öffentlichkeit" im Grunde als etwas Fremdes empfunden wird. Der Suizid aus Scham: Kokichi Tsuburaya holte beim Marathonlauf 1964 in Tokio "nur" Bronze, wurde auf den letzten 100 Metern überholt. Er nahm sich vier Jahre später das Leben. Seit ich diese Geschichte las, kann ich japanischen Athleten kaum noch zusehen, weil ich mir immer vorstelle, wie sie nach einer "enttäuschenden" Leistung hinter dem "das Gesicht nicht verlieren"-Gesicht in einen Abgrund fallen.

      "Ganbaru": Iggy Pop war mit einer Japanerin verheiratet, und er meinte mal, eine Sache, die sie ihm beigebracht hätte, war: unter Druck ein wenig Würde bewahren.

      Memo: "Kokoro". Danke!

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    2. Ergänzung:
      http://www.youtube.com/watch?feature=player_detailpage&v=ttGzomFcCow#t=336s

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    3. Ja. Gehen unter die Haut, die Bilder. Thank you man.

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