Rest in Peace, Ray.







Antirat zieht um:
-> Das Cabinet des Christian Erdmann





Mittwoch, 20. Februar 2019

Dieter Kurzhorst-Faust (Slight Return)







The Return of -> Dieter Kurzhorst-Faust: Leider hat ray05 seinen Blog "Letzte Lockerung" ins Nihil befördert. Im April 2011 erschienen dort Lebenszeichen von DKF, die nun also wieder verschwunden sind. Zur Strafe für dieses nichtgutzumachende Verbrechen drucke ich hier die von mir damals verfaßten Kommentare ab.




Zu "Neues von Dieter Kurzhorst-Faust"

Auch in diesem Film, der uns in Hoffnungslosigkeit zu entlassen droht, verweigert sich Kurzhorst-Faust einem pessimistischen Ende. Doch bei aller Brülljanz bleibt er hochkontrovers. Formulierte Blixa Bargeld einst als sein Movens: "Türen aufmachen, wo es vorher gar keine gab", scheint für Kurzhorst-Faust mittlerweile zu gelten: Gegen Türen bumsen, wo es immer noch keine gibt. Mit unverstelltem Blick. Wenn in einer atemberaubenden Einstellung dieses Films ein Kind Löwenzahn zerstückelt, bedeutet das in Kurzhorst-Fausts Welt ja letztlich nichts anderes als die Bedrohung des Kunstgewerblichen mit einem Korkenzieher. Vorbei die Zeiten, in denen Kurzhorst-Faust in Ermangelung eines wirklichen Feindes ein metaphysisches Hohnlachen anstimmte. Nein, Kurzhorst-Faust ist zurück als Spion in trügerischen Idyllen, als wütender Niederbrenner der kleinen Spaßhäuser, in denen immer der gleiche Irrtum der vermeintlichen Puristen aufhört, die Welt zwischen die Zeilen zu schreiben.




Zu "Der fünfte Stein von Dieter Kurzhorst-Faust"

Dankenswert, wie die Antipodie herausgewerkt wurd. Herzog wollte ja immer mit Jack Nicholson drehen, doch es kam nie zustunde, weil Nicholson "an island of sanity" sei. Verglochen mit Kinski. Wie nun hier Jack Nicholson, der seinen Gefährten schiebt, bei 2:14 den Kopf einzieht, unter der ganzen Wucht Kurzhorst-Faustscher Herangehensweise - das ist denkwürden, das ist epochell. Die Lüneburger Heidi. Die Lüneburger Alpen, eine mächtige Quelle des Erhabenen. Bei all ihrer strangulativen Majestät doch eine Königin der effektiven Unruhe. Es ist die große Kette der Fünf-Uhr-Sachen, die Kurzhorst-Faust zu interessieren scheint. "Der fünfte Stein" zieht uns zum Thron Gottes hin, den Gott sich eben dahin zu stellen beliebte, volle Möhre in die schwundelerregenden Höhen der Lüneburger Hochgebirge, wo auf speziöse und doch grazielle Weise die Schwerkraft werkt, zwischen diesen visuellen Objekten von immenshaften Dimensionen. Wenn Kurzhorst-Faust die Flachwelligkeit dieses norddeutschen Tourismusschwerpunkts gänzlich ausblendet, ist das nicht bloße Willkür. "Der Landkreis Soltau-Fallingbostel ist von so ausdrucksvoller Ungewißheit, daß mir die Sprache verschlug", sagt Kurzhorst-Faust. So bricht denn auch der verstörende Soundtrack (Gogol Wu und die Frau von Hans Moser) urplötzlich ab, die Stimmigkeit der Stummigkeit der Pferde, am Ende der einsame Mann - ist es Jack, ist es ein Heidebewohner? -, der mit seinem Veloziped noch einmal das Fundament der Proportionen zu durchglöten scheint: um hier affiziert zu sein, ist Mitwirkung des Willens unnötig.


























Freitag, 15. Februar 2019

Helmut Griem












2. September 2018. Nach einer ersten erfolglosen Mission im Frühjahr fand ich schließlich beim zweiten Versuch das Grab von Helmut Griem, versteckt und überwuchert. Ich schnitt einige Zweige ab, die den Grabstein verdeckten, entfernte Efeu, betrieb tatsächlich ein bißchen Grabpflege beim großen Helmut Griem. Ein Edelmann, wenn man den - erschreckend wenigen - Berichten, die man findet, zuhört. Nur eine kleine Auswahl seiner Filme: 1968 "Bel Ami" mit Erika Pluhar. 1969 Aschenbach in "Die Verdammten" von Luchino Visconti. 1972 Baron Maximilian von Heune in "Cabaret". Dürckheim in "Ludwig II.", erneut Visconti. 1976 Hans Schnier in "Ansichten eines Clowns". Auch in der "Zauberberg"-Verfilmung von 1982 - jener Dreiteiler mit Christoph Eichhorn und Marie-France Pisier, für den ich eine inkurable Schwäche habe - taucht er auf, als James Tienappel. Chabrols "Wahlverwandtschaften" mit Stéphane Audran. "Die Spaziergängerin von Sans-Souci" mit Romy Schneider. Im TV-Mehrteiler "Peter der Große" (1986) ist er zu sehen als Alexander Menshikov.

Einige Fundstücke:

"Das war der Udo Proksch. Und der war ein ganz faszinierender Kerl, ein sprühender Mensch, der mich mit seiner Ideenfülle und Unbekümmertheit anzog. Ich war ja eher brav und pflichterfüllt. Obwohl er ein kleiner, klobiger Mann mit breitem Gesicht war, sind ihm die Frauen buchstäblich nachgerannt. Diesen seltsamen, leicht verrückten Menschen habe ich sehr geliebt. Die Ehe war sehr schwierig. Er war immer unterwegs und hat mich ständig beschissen. Und er wurde Alkoholiker. Das war das Schlimmste. Im Alkohol hat er mich zweimal wirklich verprügelt. Was mich da gerettet hat, und das sage ich mit großer Zuneigung, war der Helmut Griem, mit dem ich beim Drehen von Bel Ami eine Affäre hatte. Diese Beziehung gab mir die Kraft, mich von meinem Mann scheiden zu lassen."

(Süddeutsche Zeitung Magazin, Interview mit Erika Pluhar, Oktober 2011)


"Helmut Griem war von so einer unglaublichen Bescheidenheit, wie ich es sonst nie erlebt habe. Er war ein so besonders feiner Mensch. Er hat sich immer zurückgenommen und ist in einer ganz feinen, respektvollen Weise mit allen umgegangen. Er hat sich nie beschwert, auch wenn wir etwas ein paar Mal drehten und er warten musste. Er war ein ganz uneitler, sehr aufmerksamer, sehr leiser, sehr angenehmer Mensch.

Griem hat sich in sein Privatleben nicht hineingucken lassen, das machen die wenigsten Schauspieler, weil sie Sorge haben, dass sie etwas preisgeben, was die anderen nichts angeht und sie schützen das. Sie wollen für sich einen Bereich erhalten, wo kein anderer Zutritt hat und das ist absolut richtig und verständlich, weil ein guter Schauspieler so viel in seine Rollen hineinlebt - von seinem Leben - bei Griem war das viel von seiner Melancholie und das ist ein ganz heikler Vorgang vor der Kamera, denn die ist unbestechlich. Griem war immer sehr konzentriert und immer in seiner Rolle...

Ich war erschrocken, wie man damit umgegangen ist, als er starb. Da stirbt ein Weltstar, der so bekannt war, und man hat ihn nicht gewürdigt."

(Bernd Böhlich, Regisseur und Drehbuchautor)


"Wir sind uns beim Drehen leider nicht begegnet, aber im Hotel in Budapest. Ich ging auf ihn zu, ich sagte, Herr Griem, ich bin so froh, dass ich endlich die Gelegenheit habe, Ihnen mal was zu sagen, ich war in München auf der Schauspielschule, damals, ich habe sie gesehen, live, damals, am Resi, als Philoktet ..., ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, aber ich glaube, Sie haben mich für das ganze Leben beeindruckt. - Er lächelte, und sagte: "Hast Du auch Hunger?"

(Peter Sattmann)




6.4.1932 - 19.11.2004


























Sonntag, 3. Februar 2019

Nietzsche IV










SPIEGEL ONLINE Forum "Literatur - Was lohnt es noch, zu lesen?"
Juli / August 2009 





Haio Forler. 
Zitat von Aljoscha der Idiot: 
Ihre Interpretation des "Übermenschen" jedenfalls ist aus Nietzsche heraus NICHT zulässig. 

Aljoscha, bitte; verrate nicht alles. Es soll und muß spannend bleiben. ;) 





ray05. 
Zitat von Aljoscha der Idiot: 
[...] Kunst / Kultur / Kultivieren / Selbstkultivierung als lebensdienliche Alternative zur "Wahrheit" [...]
Immer ist Sichhin- und drangeben und Sichbewahren zugleich - nur selten zu gleichen Teilen. :)

Ich würde da noch einen "Zacken draufsetzen" [P. Lahm] und die Selbstkultivierung Nietzsches als Beispiel für einen "bicklhoarten" [H. Krankl], fundamentalästhetischen Selbstversuch sonderbezeichnen. Wenigstens ab dem Zeitpunkt der Arbeit am "Zarathustra" durchmaß Nietzsche die Metamorphose vom ressentimentgeladenen, höchstens desillusionierten, Kritiker zum "Übermenschen" am eigenen Leib; sich allen gesundheitlichen / mentalen Konsequenzen dieses Schrittes bewusst aussetzend.

Wenn Nietzsche schmerzgebeugt, aber triumphierend und frohlockend den "Zarathustra" runterschreibt, ist das der Wille zur Macht über sich selbst, der Wille zur fundamentalästhetischen Identität. Das "gefährliche Denken" wird eins mit dem "gefährlichen Leben" wird eins mit dem "gefährlichen Schreiben" = Stil, weil Leben um des Lebens Willen im gleichen Maße gefährlich ist, wie Leben um des Erlebnisses Willen ungefährlich und touristisch ist: "Fundamentalästhetisch" bedeutet nichts anderes als das Leben in der Tatsache, dass Stil gleich Ausübung von Macht und das Ziehen der Konsequenzen daraus ist.





Aljoscha der Idiot. 
Ja. Man muß mit geradezu methodologischer Penetranz den "Übermenschen" mißdeuten, um Nietzsche überhaupt als "Schwächling" bezeichnen zu können. Man muß auch eine ziemlich alberne Vorstellung davon haben, was Schreiben bedeutet. Was es in einem Leben bedeuten kann. Was es darüberhinaus bedeutet, derart zu investieren, derartige Opfer zu bringen. Sich derart vorzuwagen, sich derart auszusetzen wie Nietzsche: das ist kein Scheitern im Vergleich zu einem von Nietzsche selbst Postulierten, das ist punktgenaue Erfüllung. 





oliver twist aka maga. 
Zitat von BerSie:
Was hat "Rope" mit Nietzsche zu tun? Das Motiv der beiden Mörder war wohl so etwas wie spätpubertärer Größenwahn. War übrigens ein Experiment - der Film. Hitch wollte den "echtzeitmäßig" in einem Take aufnehmen. Ging allerdings damals noch nicht, da die Länge der Filmrollen nur eine knappe halbe Stunde erlaubte...
Aber das hat nichts mit Nietzsche zu tun! ;)

Doch, es geht in dem Film um das von jeglicher Moral, "jenseits von Gut und Böse" stehende "Übermenschentum".





Aljoscha der Idiot. 
Dear Oliver Twist,
nein, es geht um ein paar Leute, die Nietzsche mißverstehen. :)
Ihr Copperfield 





oliver twist aka maga.
Dear Mr. Copperfield,
wahrscheinlich ist es nicht schwer, anhand des Nicks meinen Lieblingsschriftsteller zu erraten. :-)

Natürlich haben die beiden Studenten Nietzsche missverstanden. Der Übermensch ist ja nicht einfach ein ethisch schlecht handelnder Mensch, sondern die Beurteilung seiner Taten entzieht sich Kategorien wie gut und böse. Dennoch sollte man Nietzsche auch von seiner Wirkungsgeschichte her sehen, genauso wie man es bei Marx und anderen Philosophen / Literaten tun sollte. Und die Wirkungsgeschichte von Nietzsche ist hochgradig problematisch, wenn man sich das 20. Jahrhundert vor Augen führt.

Anmerkung 1: Haben Sie als Nietzsche-Kenner die Biographie von Safranski gelesen? Sie steht bei mir im Regal und "wartet" darauf, gelesen zu werden.

Anmerkung 2: Mich wundert, dass wir uns hier mit Nietzsche und Thomas v. Aquin beschäftigen und nicht mit dem Philosophen des 20. Jahrhunderts, Karl Popper. Wird Popper unmodern? ;-)

Beste Grüße auch an Mr. Dick und Mr. Traddles

Ihr Maga





Aljoscha der Idiot. 
Gelesen ja. Aber alles vergessen. :) Hatte es damals aus der Bibliothek, auch rechtzeitige Rückgabe vergessen. Denn schließlich, "Ich hatte die Fähigkeit, mich zu wundern, offenbar verloren. In der Welt des Stoffes gab es nichts das Erstaunen wertes, außer Dora Spenlow." :)

Über die angebliche Vorläuferschaft zum Dritten Reich läßt sich Safranski nicht groß aus, angenehm unvoreingenommen. Fasziniert ist Safranski vom "Zweikammersystem", von dem Nietzsche in "Menschliches, Allzumenschliches" spricht, und die Passage kann ich zitieren. :)

"Zukunft der Wissenschaft. ... Deshalb muß eine höhere Kultur dem Menschen ein Doppelgehirn, gleichsam zwei Hirnkammern geben, einmal um Wissenschaft, sodann um Nicht-Wissenschaft zu empfinden: nebeneinanderliegend, ohne Verwirrung, trennbar, abschließbar; es ist dies eine Forderung der Gesundheit. Im einen Bereiche liegt die Kraftquelle, im anderen der Regulator: mit Illusionen, Einseitigkeiten, Leidenschaften muß geheizt werden, mit Hilfe der erkennenden Wissenschaft muß den bösartigen und gefährlichen Folgen einer Ueberheizung vorgebeugt werden." (I / 251)

Nietzsche weiter: "Wird dieser Forderung einer höheren Kultur nicht genügt, so ist der weitere Verlauf der menschlichen Entwicklung fast mit Sicherheit vorherzusagen: das Interesse am Wahren hört auf, je weniger Lust es gewährt; die Illusion, der Irrtum, die Phantastik erkämpfen sich Schritt für Schritt, weil sie mit Lust verbunden sind, ihren ehemals behaupteten Boden: der Ruin der Wissenschaften, das Zurücksinken in Barbarei ist die nächste Folge; von neuem muß die Menschheit wieder anfangen, ihr Gewebe zu weben, nachdem sie es, gleich Penelope, des Nachts zerstört hat. Aber wer bürgt uns dafür, daß sie immer wieder die Kraft dazu findet?"

(Kann man nicht eigentlich aus dem Duktus schon einer solchen Passage erkennen, was Nietzsche vom nationalsozialistischen Völkermord, aber auch von der pseudowissenschaftlichen Rassenhetze, die diesen stützte, gehalten hätte?) (Und auch von den Hitchcock-Studenten?). (Ich meine, schon.)

Safranskis Faszination für den Zweikammer-Begriff erinnere ich deshalb, weil David Bowie vor langer Zeit mal in einem Interview ein Buch empfahl mit dem Titel: "The Origin of Consciousness in the Breakdown of the Bicameral Mind". Nie gelesen, aber Titel eingeätzt in den Bregen. :)

Ansonsten erinnere ich Safranski als sehr gut lesbar; auch, wie er die besondere Bedeutung der Musik für Nietzsche hervorhebt, fand ich sehr gut.

Mein Dickens-Favorit ist übrigens Sidney Carton, "A Tale of Two Cities". Lektüre wird aber, Asche auf mein Haupt, nicht unwesentlich durch die Verfilmung mit Dirk Bogarde, Dorothy Tutin, Christopher Lee und Marie Versini (seufz) beeinflußt. :) 





oliver twist aka maga.
Die "Tale of Two Cities" habe ich als sehr schöne Ausgabe 1983 auf einer Klassenfahrt in Prag günstig erworben. Im Ostblock hatten sie zum Teil sehr viel schönere Bücher als im "Westen". Den Film kenne ich leider nicht. Mein Lieblingsbuch ist tatsächlich Copperfield - ich wollte mir den Nick nicht geben, weil man mich dann für einen Magier gehalten hätte :-) -, aber Dora Spenlow wie auch Agnes Wickfield und zahlreiche andere Frauenfiguren, mit Ausnahme von Copperfields Tante und Miss Murdstone, habe ich immer als eher schwach empfunden. Dickens hatte m. E. kein Talent für interessante Frauengestalten.

Den Safranski sollte ich lesen. Ich denke auch, dass Nietzsche eine komplexere Figur war, dass seine Religionskritik - im Gegensatz zu der vieler anderer Kritiker - sehr bedenkenswerte Elemente in sich trägt und dass man ihn natürlich nicht einfach als geistigen Vorläufer des Nazismus brandmarken sollte. Dennoch ist er sowohl von seinem Ansatz her als auch wirkungsgeschichtlich nicht unproblematisch. Zugleich ist Nietzsche zweifellos eine imposante Figur und auch literarisch ein viel höherer Genuss als etwa ein Kant, ein Hegel oder ein Heidegger. (Weiß der Himmel, warum deutsche Philosophen oft meinen, sie müssten besonders unverständlich und scheußlich schreiben, um ihre Gedanken kundzutun?).





Aljoscha der Idiot. 
Ich habe meine "Tale of Two Cities"-Ausgabe (mit Illustrationen von A. A. Dixon) aus Kopenhagen! Da gibt es einen "Booktrader" im Universitätsviertel, bei dem ich im Laufe einiger Jahre fast einen Meter englische Literatur through the ages in wunderschönen, alten, gebundenen Ausgaben zusammengetragen habe, Chaucer von 1926, Robert Burns von 1856, Wordsworth von 1914, Swinburne von 1873, Tennyson von 1906, Shelley von 1892, die gesammelten Briefe von Shelley in zwei Bänden von 1914, Byron, Keats, die ganze Bande, alles zu einem Spottpreis! Außerdem fand ich dort einmal ein 1972 erschienenes, französisches Buch mit Abbildungen von Werken des Malers Clovis Trouille, den ich sehr liebe, sehr seltenes Exemplar, also ich kann einen Besuch dort nur unbedingt empfehlen! Wie man -> hier sehen kann, war auch William S. Burroughs mal da. 

Das nur am Rande, zum Morgenkaffee! :) 





ray05.
[an oliver twist aka maga]
Schau, es war ja gerade der, wie Du schreibst, wissenschaftsgläubige, imperialistische Kontext, gegen den Nietzsche mit allem, was er hatte, ankämpfte. Und es war darüberhinaus die "bürgerliche Gesellschaft" seiner Zeit mit ihrem unausstehlichen Philistertum und ihren im Gewand der Moralhuberei daherkommenden Ressentiments, gegen die Nietzsche mit allem, was er hatte, anschrieb. Und es war der, ganz wichtig!, Untertanengeist jener Zeit, gegen den Nietzsche mit allem, was er hatte, anschrieb - jenen Untertanengeist, der ja in Heinrich Manns Figur des "Diederich Heßling" fast schon zum Phänotypen wurde.

Nietzsche war OPPOSITION, mehr noch als das, was man heute niedlich einen "Kulturkritiker" nennen würde; er lehnte all das, was ein "monströses Weltbild" (Maga) als Zeit- oder Epochensignet hätte sein können, FUNDAMENTAL AB. Er kann also gar nicht an diesem Weltbild, das Du als entscheidende Beeinflussung der Nazi-Ideologie kennzeichnest, mitgewerkelt haben. ANDERE haben da mitgewerkelt, diejenigen, gegen deren Auslegung seines Werkes sich Nietzsche nicht mehr wehren konnte, weil er tot war ...

Nochwas, ein weiteres Mißverständnis scheint bei der Beurteilung Nietzsches hinsichtlich "Nihilismus" und "Gott ist tot" zu bestehen. "Nihilismus" KONSTATIERT Nietzsche als Folge der Tatsache, daß wir Gott abgeschafft haben. Nietzsche hat Gott NICHT abgeschafft ... :)

Nein, Nietzsche ist derjenige Denker, der uns Menschen das Allerhöchste ZUTRAUT. In diesem Punkt ist er der Höhepunkt des Idealismus. Er traut jedem einzelnen von uns zu, in einer gewaltigen Willens- und Lebensleistung über uns hinauszuwachsen, unsere "Sklavenmoral" zugunsten der "Herrenmoral" zu überwinden, also FREI zu werden. Fast schon eine frohe Botschaft, oder. :)





oliver twist aka maga.
Ray, ich bin ja kein vehementer Anti-Nietzscheaner, wenngleich ich ihn kritisch sehe. Was Du über ihn schreibst, ist in meinen Augen alles richtig. Auch habe ich nicht behauptet, Nietzsche habe Gott abgeschafft. Was ich als Christ als sehr problematisch ansehe, ist der innere Zusammenhang zwischen der Abschaffung Gottes und der Überwindung der "Sklavenmoral". Auch verhält es sich mit Nietzsche ähnlich wie mit Marx. Auf Marx, der vom Absterben des Staates schrieb, beriefen sich jene, die ein nie wieder erreichtes Maß an Staatsallmacht herbeigeführt haben. Zur Rezeptionsgeschichte, erst recht zur Wirkungsgeschichte, gehören eben auch die falschen Rezeptionen.

Ein weiterer Punkt: Mich würde interessieren, wie Nietzsche in unserer Zeit schreiben würde. Das Philistertum ist geblieben, nur hat es inzwischen viele verschiedenen Facetten - das unterscheidet es vom damaligen Philistertum. "Moralhuberei" - die Kritik daran ist auch für einen Christen richtig, denn Christentum ist eben kein Moralismus - und Untertanengeist existieren in allen politischen Lagern, in vielen Schichten. Und der Diederich Hessling lebt ebenfalls weiter, wenn auch in veränderter Form. Auch der in Dickens "Edwin Drood" beschriebene Philantrop, der eigentlich ein Misanthrop ist. Warum ich bei der Figur immer an Michael Moore denken muss? Jedenfalls glaube ich, dass Nietzsche die Heuchler schnell entlarven würde.





Aljoscha der Idiot. 
Zitat von hans-werner degen: 
Der Übermensch war die Speerspitze dieser Bewegung 
-> Sozialdarwinismus
Und an der Diskussion nahmen alle bekannten Philosophen, Literaten und Wissenschaftler Anteil.
Und ausgerechnet der Professor Nietzsche soll davon nix gewußt haben... soll nicht gewußt haben, dass der Begriff der Eugenik entstammt?

Treffer "Nietzsche" im Wikipedia-Artikel "Sozialdarwinismus": 0

Treffer "Übermensch" im Wikipedia-Artikel "Sozialdarwinismus": 0

Aber, doch, Nietzsche hat eine Menge Dinge deutlich gesehen. Zum Beispiel, 1878:

"Beiläufig: das ganze Problem der Juden ist nur innerhalb der nationalen Staaten vorhanden, insofern hier überall ihre Tatkräftigkeit und höhere Intelligenz, ihr in langer Leidensschule von Geschlecht zu Geschlecht angehäuftes Geistes- und Willens-Kapital in einem neid- und haßerweckenden Maße zum Übergewicht kommen muß, so daß die literarische Unart fast in allen jetzigen Nationen überhand nimmt – und zwar je mehr diese sich wieder national gebärden -, die Juden als Sündenböcke aller möglichen öffentlichen und inneren Übelstände zur Schlachtbank zu führen."

Herr Degen, Nietzsches "Der Starke" hat nichts mit irgendeinem darwinistisch gedachten "Stärkeren" zu tun. Nietzsches "Der Starke" meint Souveränität, nicht: Angewiesensein auf Demonstration der Stärke. Ich glaube fest daran, daß dieser Unterschied auch in einem fundamentalchristlichen Schädel ankommen kann. I have a dream. 





KLMO.
Nach dem letzten Satz selten so gelacht...





chevy57.
Dem kann ich mich nur unumwunden anschließen. Die Hoffnung stirbt zwar bekanntlich zuletzt, aber in diesem speziellen Fall auf Einsicht bezüglich der eigenen Voreingenommenheit, Ideologie-Hörigkeit und schlichter Unkenntnis zu hoffen ist denn doch schon SEHR optimistisch.





hans-werner degen.
In Sozialdarwinismus gefunden:
Eine besonders krasse, inhumane Variante des Denkens des Sozialdarwinismus, die verbunden ist mit einer Verkennung der neuen höheren Qualität des Menschen, ist die Philosophie Nietzsches. Eine besonders krasse und praktizierte Form des Sozialdarwinismus ist der rassistische Faschismus, besonders in seiner deutschen Variante mit der millionenfachen Vernichtung von (angeblich) rassisch minderwertigen und kranken Menschen.

Im Ikonenmagazin gefunden (3. Link)
Wer sich ernsthaft mit einer Ethik und Theorie des Sozialdarwinismus auseinandersetzen möchte, ist mit Redbeard - vor allem aber mit den eigentlichen Quellen dieser Strömung (etwa Nietzsche) - erheblich besser bedient.

Den Faschismus auf Antisemitismus zu verengen, nur um Nietzsche zu helfen, find ich impertinent.
Und hierauf keine Reaktion, nur Schweigen:
Auszüge aus "Der Antichrist"
"Es steht niemandem frei, Christ zu werden: man wird nicht zum Christentum »bekehrt«, - man muss krank genug dazu sein."
"Die Schwachen und Missratnen sollen zu Grunde gehen: erster Satz unserer Menschenliebe. Und man soll ihnen noch dazu helfen."
Das ist Faschismus, der Faschismus des Nietzsche Verehrers Duce... der Antisemitismus ist deutsche Beigabe eines unmenschliche Konzepts.





river runner. 
Zitat von Aljoscha der Idiot: 
Herr Degen, Nietzsches "Der Starke" hat nichts mit irgendeinem darwinistisch gedachten "Stärkeren" zu tun. Nietzsches "Der Starke" meint Souveränität, nicht: Angewiesensein auf Demonstration der Stärke. Ich glaube fest daran, daß dieser Unterschied auch in einem fundamentalchristlichen Schädel ankommen kann. I have a dream. 

Ich sehe, dass Herr Degen sich gegen Ihre Ausführungen wehrt. Wenn Sie versuchen, einem alten Katholiken einen Autor als empfehlenswert zu verkaufen, der Cesare Borgia als den letzten Papst sehen wollte, konnte das nicht sofort den ersehnten missionarischen Erfolg haben.

Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, 61: "Cesare Borgia als Papst ... Versteht man mich? ... Wohlan, das wäre der Sieg gewesen, nach dem ich heute allein verlange -: damit war das Christentum abgeschafft!"





Aljoscha der Idiot. 
Pupertär 
Du sollst nicht lügen, Herr Degen. Das steht nicht im Wikipedia-Artikel "Sozialdarwinismus", sondern in Ihrem "Schul-Wiki"-link, in unmittelbarer Nähe dieser Passage:

"Was bei einer solchen Übertragung vergessen bzw. nicht erkannt wird, ist die neue, höhere Qualität, die der Mensch als bewusstes, vernunftbegabtes Wesen (alle Schüler des Gk 12???) der übrigen Natur gegenüber darstellt. Wenn auch die natürlichen Evolutionsgesetze im Verhalten des Menschen und in der menschlichen Gesellschaft eine Rolle spielen, so müssen sie doch nicht das Geschehen dominieren. (z.B. Balzverhalten und Trinkrituale am Oktoberfest; militärisch, pupertäres Auftreten, Prestigedenken und ritualisierte Machtdemonstrationen ...)"

Zitat von hans-werner degen: 
Den Faschismus auf Antisemitismus zu verengen nur um Nietzsche zu helfen find ich impertinent.

Man hat, um jene Teile der Hl. Schrift, in denen Ressentiment sich verbal austobt, überhaupt als annehmbar zu rechtfertigen, genau von dem auszugehen, was Taureck über Nietzsche sagt: Bilder. Entweder das, oder man hat in der Bibel ein Buch, das, "logisch", Haß und Gewalt rechtfertigt. Mit zweierlei Maß messen kann man jedenfalls nicht. Sie können nicht Nietzsche beim Wort nehmen, wo es Ihnen paßt, und bei einem anderen, Ihnen liebwerten großen Poesiebuch die Augen zukneifen. Nur einige Beispiele: die Juden sind, laut Paulus, Gottesmörder und "allen Menschen zuwider" (1 Thessaloniker 2,15). Im Titusbrief (1,10 ff.) fordert Paulus, man müsse den Juden "das Maul stopfen", sie sind "freche, unnütze Schwätzer und Verführer".

Nietzsches Meinung über Paulus ist bekannt, lassen wir den mal weg, der hatte auch konkrete Gründe für Römerbrief 13, die wir ihm zugutehalten müssen, wenn wir nicht in eine Diskussion verfallen wollen darüber, ob er da, "protofaschistisch", theoretisch, auch Naziherrschaft und Drittes Reich legitimiert.

Das Unkraut soll brennen, erklärt Jesus (Matthäus 13, 24-40), gemeint sind die "Kinder der Bosheit" (Matthäus 13,38), die im "Feuerofen" (Matthäus 13,42) landen werden. Lukas 19,27: "Doch jene meine Feinde, die nicht wollten, daß ich über sie herrschen sollte, bringet her und erwürget sie vor mir!"

Aufrufe zum Massenmord an Andersdenkenden finden Sie bei Nietzsche nicht. Wann immer bei Jesus die Rede ist von "Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert", hat man, um die ständigen Vernichtungsphantasien überhaupt irgendwie zu rechtfertigen, davon auszugehen, daß es um den Anbruch der Heilszeit, das Reich Gottes geht, das sich aber schon konkret als aktives Erdenhandeln darstellt und in das Jesus sich einbezogen sieht. Daran kann man dann auch 2000 Jahre danach noch glauben oder es als Beleidigung menschlichen Geistes ansehen, als Beginn der selbstverschuldeten Unmündigkeit, daß die lang zurückliegenden internen Fehden eines kleinen Häufleins von Piepel auf einem Fleckchen dieses Globus noch immer maßgeblich sind. Spielt aber keine Rolle jetzt. Entscheidend ist, daß Jesus wie Nietzsche, offensichtlich, für ihr Anliegen Bilder benutzen.





Aljoscha der Idiot. 
Zitat von river runner:  
Wenn Sie versuchen, einem alten Katholiken einen Autor als empfehlenswert zu verkaufen, ...

I wo, nur ein bißchen justice for Nietzsche, und...
... Tucholsky schrieb ja in seinem Essay zu Panizza, das "Liebeskonzil" sei ein "grandioses Drama". D'accord. Wohl solle man die religiösen Gefühle seiner Mitbürger schonen. D'accord. Schließlich hat man selber welche. Aber: es wäre eine Anmaßung der Mitbürger, zu verlangen, "... wir sollten im selben Tempo fühlen wie sie und im selben Rhythmus leben wie sie. Ihr Lachen ist nicht unser Lachen, und ihr Schmelzpathos ist uns keines." D'accord. 





ray05. 
Zitat von oliver twist aka maga:
Auch die Schriften von Philosophen werden ausgelegt. [...] Lässt man die Rezeptionsgeschichte einmal beiseite und konzentriert sich nur auf den Autor, bleibt ihre Philosophie dennoch sehr problematisch. Bei dem einen sind es die Unterscheidung von Über- und Unterbau und die Vergötterung der Geschichte, bei dem anderen die Unterscheidung von Herren- und Sklavenmoral und die Vergötterung des Übermenschen.

Hallo Maga. Deiner Logik folgend, wäre die einzig UNproblematische Philosophie eine Philosophie, die sich einer Auslegung verschlösse bzw. die keiner Auslegung bedürfe. Eine solche Philosophie kann es für meine Begriffe aber nicht geben. Wenn wir uns in der (politischen) Philosophiegeschichte umschauen, entdecken wir ausschließlich Theoriebildungen, die "problematisch" sind - aus der heutigen Sicht des aufgeklärten Bürgers der westlichen Hemisphäre wohlgemerkt: Platons Primat der staatlichen Kinderaufzucht [sic!] oder nimm gleich ganz sein Modell der "Philosophenherrschaft" - problematisch! Nimm Aristoteles' Herren- und Sklavenmodell - problematisch! Nimm Machiavellis System des "Zweck heiligt jedes politisches Mittel" - problematisch! Nimm Hobbes' funktionalistisches Staatsmodell des "Leviathan" als notwendige Überwindung des "Naturzustandes" - problematisch! Nimm Hegels "sittlichen Vernunftstaat" als ultima ratio des "Geistes" - problematisch! Marx - problematisch! Max Weber und Carl Schmitt - problematisch! Jeder Theorie über den Menschen und der zu beschreibenden Beschaffenheit seiner (Sozial)Verbände liegt EINE entscheidende Grundprämisse zugrunde, die SELBST problematisch ist: Mein ureigenes "subjektives" Bild des Menschen, das als Ausgangspunkt jeder Betrachtung bzw. System- oder Theoriebildung wirkmächtig einfließt. Das Problem der problematischen Theoriebildung ist der problematische Mensch selbst. (Unter anderem dies meinte Nietzsche mit dem Satz: Der Wille zur Systematik ist ein Mangel an Redlichkeit.)

Gruß, Ray





oliver twist aka maga.
[...] Die Verachtung von Systematik dürfte aber ein Grundzug des Denkens Nietzsches gewesen sein, der ja keine etwa Hegel vergleichbare Systematik entwickelt hat, sondern eher genialisch im Ungefähren, im Nebeneinander Stehenden geblieben ist. Insofern ist bei ihm die Auslegung noch notwendiger und je nach Standpunkt des Betrachters noch unterschiedlicher. Und insofern mag in seinem Satz auch etwas wie Rechtfertigung mitschwingen. [...]





ray05.
Du meinst, aus Unfähigkeit oder Unlust, ein systematisches Lehrgebäude zu errichten, zieh er, sich dadurch rechtfertigend, einfach die Schulwissenschaft der Unredlichkeit? :)

Nein. Nietzsches "Methode" ist DEZIDIERT künstlerisch. Sein Denken und Schreiben in teils sehr mächtigen Bildern ist der Überzeugung geschuldet, daß das "Logosgemäße", in Modelle "wissenschaftlich" Zusammenkausalisierte und -systematisierte KEINESFALLS wahr oder wahrhaftig ist, weder noch. Alle jene, die ein "logosgemäßes" Zustandekommen von "Wahrheit" dennoch behaupteten, z. B. Marx, bezeichnete Nietzsche deshalb als "unredlich". Dem "Wahren" komme man stattdessen einzig auf dem Weg subjektiver, ästhetischer bzw. künstlerischer Betrachtung bzw. im ästhetisch-künstlerischen LEBEN und Schaffen wahrhaftig nah.