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Dienstag, 12. April 2016

Alfred Kubin: Die andere Seite








Briefe, die man aus dem Traumreich zu senden versucht, kommen nach Jahren als unzustellbar zurück hinter den Vorhang aus Wolken. Einbildungen werden Realitäten in Perle, aber vielleicht auch deshalb, weil Realitäten immer schon Einbildungen sind.










SPIEGEL ONLINE Forum

"Literatur - was lohnt es noch, zu lesen?"

Mai 2008









Muffin Man: 
Es hat übrigens diverse Bildende Künstler gegeben, die in zunehmendem Alter Schriftsteller wurden (...)











Da empfehle ich "Die andere Seite" von Alfred Kubin, 1909 geschrieben, sein erster und einziger Roman.

"Patera, absoluter Herr des Traumreichs, beauftragt mich als Agenten, Ihnen die Einladung zur Übersiedelung in sein Land zu überreichen." Dieses Traumreich befindet sich angeblich irgendwo in Mittelasien, die Hauptstadt heißt Perle. Patera, dessen Reichtum unermeßlich zu sein scheint, kauft Häuser in ganz Europa zusammen und läßt die Baulichkeiten in sein Reich transportieren. Agenten dieses Traumreichs leben nämlich in allen Teilen der Welt. Auch diverse Kulturgüter und bedeutende Kunstwerke seien dorthin verschwunden. Reiche künstlerische Ausbeute seines Abenteuers erwartend, willigt der Erzähler ein, in dieses Traumreich zu ziehen.

Nach langer Reise gelangt man an eine im Dunstschleier liegende, ungeheure, grenzenlose Mauer, die sich unerwartet öffnet für ein gewaltiges schwarzes Loch, das Tor des Traumreiches von kolossalen Dimensionen. Nach Eintritt in dieses Gewölbe überfällt den Erzähler "ein ganz unbekanntes, gräßliches Gefühl", er dreht sich um zu seiner Frau, die leichenblaß mit zitternder Stimme sagt: "Nie mehr komme ich da heraus."

Was dann folgt, hat sowohl Franz Kafka als auch Gustav Meyrink gehörig in Bann geschlagen.

Ende des offiziellen Teils.

Kubin hat einen Plan der Stadt Perle angefertigt, der für jeden hochinteressant ist, der das Gefühl kennt, es gebe tatsächlich ein Traumreich mit exakt festgelegter Architektur. Ich für meinen Teil kannte eine Traumstadt aus vielen Träumen, und versuchte immer wieder in ein Areal im Nordosten zu gelangen, beim ersten Aufenthalt in dieser Stadt war ich zuvor umgekehrt, so wurde es in der Traumseelenarchitektur das geheimnisvolle Andere, Ausgesparte.
 









Muffin Man: 
Das klingt hochinteressant! Stofflich unbedingt - und, äh, wie steht es um die Ausführung?











Glaubst Du, Kafka und Meyrink ließen sich von irgendeinem literarischen Nichtsnutz beeindrucken? :) Natürlich agiert Kubin mit einer Spontaneität, die keine so ziselierte Sprache produziert wie etwa Meyrink im "Golem", wo immer eine kalkulierte Gleichzeitigkeit herrscht zwischen dem, was diese Sprache an schwüler Beklemmung beschwört, und den eruptiven Ausbrüchen daraus. Bei Kubin gibt es aber auch eine seltsame Gleichzeitigkeit: eine gewisse Distanziertheit im Angesicht des immer Ungeheuerlicheren. So wie Meyrink eher dem "Caligari"-Film gleicht mit seinem expressionistischen Gestus, so wäre Kubin eher mit Carl Theodor Dreyers "Vampyr – Der Traum des Allan Gray" zu vergleichen, wo jemand zugleich im Geschehen ist und es beobachtet, mit dem Effekt überraschender Schroffheit der Wendungen in den Wellen der grotesken, phantastischen Bilder, die eine immer wieder vor den Kopf schlagende Unmittelbarkeit herstellt.

Kostprobe für diese Bunuelsch schroffen Wendungen:
"'Die Liebe des Fleisches ist nichts als der Wille des Dings an sich, in die Zeitlichkeit einzudringen. Wie könnt ihr so vermessen sein, das Ding an sich zu zwingen? Ihr unterscheidet nicht das Ding an sich von den anderen Dingen. Vom philosophischen Standpunkt aus muß ich eure Handlungen verdammen.' So sprach der Friseur angesichts der Saturnalien auf den Tomassevicfeldern.
Da er mit seinen zur Feier des Tags durchaus nicht passenden Tiraden nicht aufhören wollte, warf man ihm eine Schlinge um den Hals und hing ihn an das Schild seines Barbierladens."

Extrem reichhaltig, nicht nur philosophisch – Patera ist ja, auch, Nachfahr (des Robespierreschen Umschlagens von Menschheitsvision in Schreckensherrschaft) und Vorläufer -, aber die andere Seite bleibt Innen, und wo Meyrink näher am Horror ist, bleibt Kubin näher am Surrealismus, mit dessen Mischung des Makabren und Komischen. Und wo Horror immer zumindest zur Lösung der Rätsel drängt, das "Phantastische" deren Unauflösbarkeit zumindest akzeptiert, sympathisiert der Surrealismus ja gerade mit dieser Unauflösbarkeit.

Geschrieben in zwölf Wochen, you get the idea.











Muffin Man: 
DAS mag ich an Deinen Beiträgen: Du schilderst Bücher und Filme aus der Perspektive eines "Besessenen" (...) Sorry, bei den meisten der von Dir genannten Filme muß ich passen, vielleicht hab' ich einzelne mal in jungen Jahren gesehen, so im 3. Programm des Norddeutschen Rundfunk, als das Fernsehen (jedenfalls im Wohnzimmer meiner Eltern) noch schwarz-weiß war.

Zitat von Aljoscha der Idiot: 
Geschrieben in zwölf Wochen, you get the idea.
Zwölf Wochen hast Du für dieses Posting gebraucht?!
*staun* ;-)
Ich hatte natürlich "Kubin" und "Perle" sofort angegoogelt - und hab' da was von 8 Wochen gelesen.











Zitat von Muffin Man: 
Zwölf Wochen hast Du für dieses Posting gebraucht?!
*staun* ;-)
Ja, während The Lost Weekend warfen die Uhren resigniert die Zeiger ab. 

Zitat von Muffin Man: 
Ich hatte natürlich "Kubin" und "Perle" sofort angegoogelt - und hab' da was von 8 Wochen gelesen.
Schönes pdf-Dokument, erwähnt auch "Perle" als in ewiges Grau getaucht, das war ein beherrschender Leseeindruck, dieses Grau, ähnlich wie die Omnipräsenz des Weiß in Melvilles "Moby Dick".

8 Wochen gar nur, das Vorwort meiner Ausgabe sagt 12, aber ach, siehe oben.