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Dienstag, 19. Dezember 2023

John Cale










 
 
John Cale erschien mir immer wie eine Shakespeare-Gestalt, der sinistre Calevolio, freilich ist da sein Song "Macbeth" und sein diabolisches Gekicher auf "King Harry" ("All hail, King Harry, all hail! But a whisper of your former self! Your wives, your wives, your wives are all dead!"), die Anspielung auf "a second hand Shylock" in "Wilson Joliet", einem Song von "Honi Soit" (1981), der mit "We are shuffled like a pack of cards in the dead of night" auch eine der besten Shakespeare-Zeilen enthält, die Shakespeare nie schrieb, da ist das Shakespeare-Zitat auf dem Cover von "Fragments Of A Rainy Season" (Banquo: "It will be rain tonight." - 1st Murderer: "Let it come down.") und weiß Gott was noch, vor allem aber hatte Cale immer diese Aura des hintersinnigen Bösewichts, des undurchschaubaren Verschwörers, des Mannes mit dem secret plot, den er unter durchgedrehtem wit und gnadenlosen Sprachspielen verbirgt: bösartige Intelligenz in paranoischer Spannung und over the top. Songs "wie unlösbare Rechenaufgaben" über "das Trügerische in uns allen", wie Jan Wigger schrieb.

Nach Erscheinen von "Honi Soit" bezeichnete Cale sich als "musikalischer Hamlet", der sich auf Worte konzentriere, "weil mich die Musik langweilt, ich will mich von der Musik absondern. Ein ironischer Schritt (murmel murmel)." Tatsächlich befindet sich Cale in ironischer Position zu allen Ironie-Behauptungen. Über Rockmusik despektierlich zu sprechen, war ein täuschendes Markenzeichen des klassisch geschulten Musikers und Komponisten, während das Oeuvre seiner "Rock"-Platten immer weiter anwuchs mit Songs, die zwischen fragiler Schönheit und Psychose oszillierten, Songs über die seltsamen Beziehungen der Menschen aus der Perspektive eines Mannes, der dabei ist, jeden Respekt für anything human zu verlieren und doch Zärtlichkeit für something human aufrechterhält. Songs, deren Urgrund eine überwältigte, überwältigende Melancholie ist, a most humorous sadness, die eben nur noch in Shakespeareschen Verkleidungen auftreten kann.

"I have neither the scholar's melancholy, which is emulation; nor the musician's, which is fantastical; nor the courtier's, which is proud; nor the soldier's, which is ambitious; nor the lawyer's, which is politick; nor the Lady's, which is nice; nor the lover's, which is all these: but it is a melancholy of mine own, compounded of many simples, extracted from many objects; and indeed, the sundry contemplation of my travels; which, by often rumination, wraps me in a most humorous sadness." - Shakespeare, As You Like It

Was kann ein Mann noch tun, der auf "All Tomorrow's Parties" und "Venus In Furs" mitgespielt hat? Vom Donner gerührter Hausmeister der Wahnideen, als ich dieser Frage nachging. (Ledas Frage "Kann traurige Musik dich traurig machen?" galt dem Widerschein, den sie bei einem Song von John Cale sah. Es war "Riverbank".)










"Vintage Violence", "Fear", "Slow Dazzle", "Sabotage", "Honi Soit" und vor allem "Paris 1919" sind Platten, denen ich immer dankbar sein werde. Für die Weite, die sie eröffneten in der traumhaften Schwere eines Zimmers. Sie sind, alle zusammen, wie ein einziges Bild in allen Farben von Schönheit und Wahnsinn, Melancholie und Surrealismus. Weite: allein das Piano auf "Charlemagne" kann Verzweiflung exorzieren.






Diedrich Diederichsen über "Paris 1919" von 1973: "Sagen wir mal: die beste Kollektion romantischer Songs seit Schuberts 'Winterreise'. Der Titelsong 'Paris 1919' war für mich immer eng an Proust-Lektüre geknüpft."







Cale: "Paris 1919 ist über Sehnsüchte. Diese Platte hat mit den Sehnsüchten nach anderen Zeiten und Umgebungen zu tun. Nostalgie eben. Ich bin wahrscheinlich nicht Realist genug, um Nostalgie für ein Gift zu halten."





 
 
 
Stephen Holden im Rolling Stone: "The subject of Paris 1919 is nothing less than the entirety of Western European high culture, viewed roughly from a post-World War I, Dada-Surrealist perspective. The album is an epic reassessment of history, geography and art itself.  At its most accessible, the poetry is highly illusory and multifaceted. The clearest example is in the album's most beautiful cut, Andalucia, in which impressions of a woman, a place and history are woven inextricably into a moving and mysterious entity."

Wolfgang Bauduin nannte "Paris 1919" ein "mit Stahlnägeln angereichertes Glas Honig". Half Past France:






Vielleicht stammt Cales Macht, Schönheit nicht geheuer erscheinen zu lassen, schon aus der Konstellation bei Velvet Underground, die Cale in die Rolle des Sideman drängte, der Finsteres im Schilde führt. In den 80ern ist Unberechenbarkeit Cales zweiter Name. Eine meiner liebsten Reliquien aus dieser Zeit ist ein Zeitungsausschnitt mit dem Titel: "Cale not normal, claims critic". John Cale am 7. März 1983 in der Hamburger Markthalle: die bedrohlichste Präsenz, die ich jemals auf einer Bühne sah. Auch wenn sich über einer verstimmten Gitarre die unheilschwangere Spannung schließlich löste. Damals war Cale wie Captain Kurtz: horror has a face and you must make a friend of horror. Man wußte einfach nicht, wo er noch hingeht, nachdem er etwas wie "Fear Is A Man's Best Friend" auf der Bühne hinter sich gebracht hatte, und seine Schwarz-wie-die-Nacht-Version von "Heartbreak Hotel", bei der man ihn zu 90% sterben sah, war so haarsträubend intensiv, daß ich bis heute jedem seiner gutgelaunten Scherze nur zu 90% traue.
 


 

 
 
Als Cale 1977 auf dem Höhepunkt von Punk durch England tourt, ist er angewidert von den Gewalttätigkeiten und der zur Schau gestellten toughness der Pogo-Meute. Er nimmt ein totes Huhn mit auf die Bühne und köpft es während der zweiten Strophe von "Heartbreak Hotel".

"Thwock! I decapitated it and threw the body into the slam dancers at the front of the stage, and I threw the head past them. Everyone looked totally disgusted. The bass player was about to vomit and all the musicians moved away from me. Even the slam-dancers stopped in mid slam. It was the most effective show-stopper I ever came up with."
Angeblich sollen auch die Worte gefallen sein: 'Okay, if you're into violence, here's some Haiti for you."

Bald darauf: "Sabotage". R. Jäger auf amazon.de:

"Sabotage, live mitgeschnitten im New Yorker CBGB's im Juni 1979, ist reine Klaustrophobie, eine der radikalsten Aufnahmen des Rock'n'Roll, die bis heute viele, die sich aus vergleichbaren Positionen heraus explizit zu vergleichbaren Thematiken äußern, fast harmlos erscheinen läßt. Cales Hass ist reif, unerbittlich, unanfechtbar, systematisch und niemals kopflos. Ebenso radikal wie subtil entstellt der ausgebildete Orchestermusiker und Cage-Schüler die von Deerfrance gesungene, trügerisch hübsche Ballade 'Only Time Will Tell' durch eine einzelne, wohlgesetzte, disharmonische Note (...) Exzellente Band mit u.a. dem (kurz darauf verstorbenen) Ex-Contortion George Scott, dessen knurrend kriechender Bass einem wirklich den letzten Nerv rauben kann, und dem späteren Lounge Lizards-Drummer Doug Bowne. Eine ähnliche Platte existiert nicht."

"Mercenaries (Ready For War)": psychotischer Rasseldassel ohnegleichen.
 






 

Mercenaries are useless, disunited, unfaithful
They have nothing more to keep them in a battle
Other than a meager wage
Which is just about enough to make them wanna kill for you
But not enough to make them wanna die for you
I'm just another soldier boy
Just another soldier boy
Looking for work
Looking for work
Looking for war
My rifle is my friend
My rifle is my friend
I clean my rifle every day
I clean my rifle every day
That's why my rifle is my friend
Ready for war, ready for war
Ready for war, ready for war
Did some work in Zaire, the jolly old Belgian Congo
Went back to Geneva to get paid
Back there in Geneva, that's were the money grows
That's were the money grows, that's were the honey flows
They didn't wanna pay me
They didn't wanna pay me, but they did
Tryin' to separate me from my money is like separate me from my life
Ready for war, ready for war
Ready for war, ready for war
Let's go to Moscow, let's go to Moscow
Let's go, let's go, let's go to Moscow
Find the backdoor to the Kremlin
Push it down and walk on in
Say Howdy-owdy-doody-aye-doody-aye-a
5000 feet and closing
Target visibility 1-9
4000 feet and closing
Target visibility 3-6
3000 feet and closing
Target visibility 7-9
2000 feet and closing
Visibility 1-10
1000 feet and closing
Visibility 7-4
500 feet and closing
Visibility zero!
Ready for war, ready for war
You better be ready for war
 



Deerfrance: "He was decades ahead of his time, always has been. John never left a room in the state he found it, onstage or off. I have never seen a performer give more and being on stage with him was like being strapped into an Apollo spacecraft. There was nothing he wouldn't do to make the performance unforgettable, or to raise the consciousness of the crowd. He really never left a performance without rearranging the audience's chromosomes. All life must be lived that way. There is an expression in France about being serious. Really, if you are not serious, what are you, kidding?"

















John Cale in Hamburg 2012, Kampnagel: "Hello Hamburg, good to see you", begrüßt er uns aufgeräumt, beginnt mit seiner jungen Band das lange Intro von "Captain Hook", und bei der ersten Zeile, die Cale singt - "I lost my memory today, the day my ship set sail" - habe ich schon fast Tränen in den Augen. Warum? Weil die "Sabotage"-Version von "Captain Hook" mit dem ätherischen Backgroundgesang von Deerfrance in der Kathedrale meines Schädels liegt und weil es so ein weiter Weg war von da nach hier, über die verdammten sieben Meere und bei jedem "Can't you see you're losing me, again", bei jedem Scheitern: BY HOOK OR BY CROOK, I AM THE CAPTAIN OF THIS LIFE. Es folgt "Bluetooth Swings", und es wird viele neue Songs geben heute abend, verkündet Cale, "so fasten your seatbelts."
 
"Hey Ray", "Perfection", dann mit "Guts" der zweite Klassiker, und Cale variiert die berühmte, Kevin Ayers geltende erste Zeile zu "The bugger in the short sleeves fucked his wife". Mittlerweile erweist sich Gitarrist Dustin Boyer, mir bislang unbekannt, als einer dieser mir bislang unbekannten Gitarristen, die als "Hellcat" (Sturgis Nikides auf "Honi Soit") dem "Flight Surgeon" die blitzescharfen Klingen reichen: "anbetungswürdig", wie die MoPo schreiben wird. Mit "I Wanna Talk 2 U" und "Scotland Yard" folgen zwei weitere Songs von "Shifty Adventures In Nookie Wood", dann mit "Praetorian Underground" ein Stück von der bis heute nicht als CD veröffentlichten "Caribbean Sunset". Später wird mit "Satellite Walk" (von "Artificial Intelligence") ein weiteres Stück folgen, das sich zickig-maschinös & funky zielsicher einfügt in die Klangwelt der zwielichtigen Abenteuer im Lustwald, durch die Cale seine Nutty Professor-Erscheinung trägt: würdevolles Peroxidblond über Pepitamuster-Jacke. Dann hängt eine E-Gitarre über der Jacke: "Was folgt, ist eine von hypnotischen Beats getriebene Jahrhundert-Version des Klassikers 'Helen of Troy'. Hammerhart!" (MoPo). 

Mit Akustikgitarre das bewegende "Whaddya Mean By That" von der "Extra Playful"-EP ("You ask if you hurt me / Whaddya mean by that? / Look round the corner / You don't remember that?") und "The Hanging", mechanisierter Power-Pop, Situationistische Internationale-Pop, devianter Populismus. "Catastrofuk", im von Cales Tochter Eden dirigierten Video liefert Cale als Astronaut eine weiße Tulpe bei einer Weltraum-Domina ab, die ihm dafür ein neues Spielzeug schenkt. Und das ist genau, wo Cale sich gerade aufhält, sich verjüngend mit sardonisch-kryptischen Späßen, die keiner so richtig versteht, die aber trotzdem Spaß machen. Letztes Stück ist "Nookie Wood", hypnotisch kriechend, täuschend hymnisch, seltsam unterkühlt im heißen Sexwald, tight und wackelig zugleich.

"Nach einer Zugabe hat das euphorisierte Publikum noch immer nicht genug. Doch auch minutenlanges Klatschen lockt den Meister nicht mehr auf die Bühne. Neulich war es ein Österreicher, der die Menschen begeisterte, weil er sich aus 40 Kilometern Höhe zurück auf die Erde stürzte, nun katapultierte ein Genie das Publikum in die höchsten Höhen des Rock'n'Roll-Himmels. John Cale gibt ein triumphales Konzert auf Kampnagel." (MoPo)

Die Zugabe ist "Dirty Ass Rock'n'Roll", das er genauso spielt wie einer, der mit pink gefärbtem Haar im Buckingham-Palast erscheint, um sich den Order of the British Empire abzuholen. Serious kidding. Schließlich mag die Queen Pink, oder etwa nicht.

Thank you Oleg for being there with me.





























Cale singt "Frozen Warnings" von Nico am Ende des Films "Nico - Icon":