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Montag, 28. März 2011

Die Welt hat sich verändert, WEIL Gracq schrieb

















SPIEGEL ONLINE Forum "Literatur - Was lohnt es noch, zu lesen?"

10.08.2009 


river runner:
Was sagt der Künstler selbst?






Christian Erdmann:
Was soll ich sagen, außer, daß jeder auch sein eigener Schleusenwärter ist. Ich kann doch nicht entscheiden, wie jemand liest, was er liest, und warum, ob zur bloßen Zerstreuung, oder um abtauchen zu können in eine andere Welt als die, die ihn umgibt, und daraus Kraft und Inspiration zu schöpfen, oder um in Literatur etwas zu finden, das einem Schubkraft aus Sein in Unwahrhaftigkeit geben kann, oder um einfach Sprache zu genießen, oder um sich eine vertraute Geschichte neu erzählen zu lassen, oder um sich eine ungeahnte Geschichte mit vertrauten Worten erzählen zu lassen, oder um sich den Boden unter den Füßen wegreißen zu lassen, oder um sich Boden unter die Füße zu schieben, um sich bestätigen zu lassen, um sich Räume öffnen zu lassen, um einfach nur etwas über Zeiten zu erfahren oder über Charaktere, um sich erotisieren zu lassen durch das, was möglich ist, um mitzufühlen oder um amüsiert, mit interesselosem Wohlgefallen die Menschliche Komödie zu genießen, um Mantras daraus zu ziehen fürs Leben oder sich zu sagen, all das, all diese verschiedenen Beschreibungen der Condition humaine zusammengenommen, gehören zur Definition von "Realität", ob man sich auch via Literatur anfüllt mit dem Chaos, das man nach Nietzsche noch in sich haben muß, um einen tanzenden Stern gebären zu können, oder ob man gelassen Kunst schlürft, ob man dazu kommt zu fühlen, daß jemand, der 1871 schrieb, mehr Zeitgenosse sein kann als die Zeitgenossen, oder ob man über Rilke einen Essay schreiben muß, oder will, ob man sich was konstruieren lassen will oder lieber was dekonstruieren, ob man widerlegen will, daß man nach Sade-Lektüre zum Sadisten wird, oder es beweisen, ob ob ob und noch mehr ob – ich sagte schon, ich bin nur eine Billionstel Kalorie im Urknallsperma, alles, was ich will, ist, daß hier jeder weiter in die Manege schmeißt, was er für lesenswert hält, und daß keiner dem anderem vorschreibt, was er überhaupt für Literatur zu halten habe und wie er darüber spricht.







KLMO:
Damit hast Du fast alles gesagt - jeder nach seiner Fasson.






Christian Erdmann:
Gracq, "Witterungen II", bist Du durch, übrigens? Hatte Dir ja vom Sog erzählt, in den "Das Ufer der Syrten" einen zieht: ein derartiges Aufgehen in Wirklichkeit, daß es fast unwirklich ist; wie eine präzis beobachtende Trance. Habe vor ein paar Tagen gefunden, daß Gracq schon als Junge von geologischen Karten fasziniert war, die wie ein magischer Schlüssel auf ihn wirkten. Mit diesem magischen Schlüssel scheint er zu "sehen", Schichten von Wirklichkeit, die er in Bilder überführt, die zugleich extrem dicht und extrem klar sind: als hätte die Sprache selbst einen luziden Traum. Metaphern, die zugleich so präzise und so seltsam sind, daß man ahnt, was Gracq meinte, als er sagte, er sehe die Welt wie Novalis, es gibt keinen Bruch, nur "magische Entfaltung, die auf einer tiefinneren Umkehrung der Aufmerksamkeit beruht".

"Erst sehr viel später wurde mir wirklich bewußt, daß sie die Gabe besaß, mit einer Landschaft oder mit einem Objekt sogleich untrennbar eins zu werden. Allein ihre Gegenwart schien den Dingen die Befreiung zu schenken, die ein geheimer Wunsch erhofft, und sie zu sinnvollen Attributen zugleich zu erniedrigen und zu erhöhen."

Was der Protagonist Aldo da von dem Mädchen Vanessa sagt, trifft in gewissem Sinne auch auf Gracqs Sprache zu; man hat den Eindruck, als kehre seine souveräne Syntax ständig aus sonst unzugänglichen Bereichen zurück, als wäre er ein schwebendes Auge in einer Textur der Dinge, für die unsere eigenen Augen verklebt sind.

Sehr sympathisch auch seine Weigerung, an den Mechanismen des Literaturbetriebs teilzunehmen: "Für mich ist der Schriftsteller jemand, der schreibt. Ich habe keine Lust, mich vor meine Bücher ins Schaufenster zu stellen. Wenn das Arroganz ist, dann kann man da nichts machen."







ray05:
Nun, vielleicht ist ja Sprache für Gracq genau das, was die "Seele" für Platon war. Sie - Sprache bzw. Seele - sieht sich am Schönen, Guten, Wahren satt, das der Demiurg für sie aus der Urmasse herauswerkelt, wandert in den Autor zurück, der sich während des Schreibprozesses an all das Geschaute seiner Seele erinnert. Mit Schaudern. - Gefällt mir, das Bild ... :)







11.08.2009


Christian Erdmann:
Gestern nacht gelesen in "Das Ufer der Syrten", ein Friedhof, der für Aldo zum "unseligen Geist der Stadt" selbst wird:

"Zu ebener Erde erhielt sich diese gefräßige Stadt auf dem schwindelnden Gipfel eines Gerüsts aus Verkrüppelten, aus lebendig zurechtgehobelten Knochen. Sie war und blieb eine hauchdünne Membran, hochempfindlich, aber gänzlich von einem unerhörten Gewebeschwund befallen, sie verbrauchte ihren Lebenssaft bis zum letzten Tropfen, um Knochen, Knochen und Knochen abzusondern und unter der Erde im senkrechten Absturz eines Alptraums eine beständig wachsende Schicht aus Gebein zu formen, gleich geologischen Epochen breitete sie ein einziges gigantisches Gerippe aus."

"Im senkrechten Absturz eines Alptraums" – allein das.







19.03.2010


Achras:
Die Werke Julien Gracqs sind im Verlag Droschl vor einigen Jahren erschienen. Was darin "surrealistisch" anmuten soll, ist in Wirklichkeit nur schwerverdauliches Verfehlen treffenden Ausdrucks für das, was er in Worte zu fassen versucht... schade eigentlich!






Christian Erdmann:
Phantastisch! Abgesehen davon, daß Du vor ein paar Jährchen Julien Gracq hier noch als "sehr lesenswert" erwähnt hast: Du hast irgendeine Form von Being Julien Gracq hinter Dir und weißt jetzt, was er angeblich "in Wirklichkeit" in Worte zu fassen "versuchte", dabei aber regelmäßig den "treffenden" Ausdruck verfehlt hat? Phantastisch, einfach phantastisch! :)







Achras:
Natürlich gibt es Leser, für die die Lektüre Julien Gracqs eine völlig neue Leseerfahrung darstellt, daraus folgt jedoch nicht zwangsläufig, daß die Lektüre der "Witterungen" Gracqs wirklich für jeden Leser einen Gewinn oder einen Genuß darstellt...

Gern bestätige ich, daß es eine Phase gegeben hat, in der seine Werke mir eine inspirierende Abweichung oder Ablenkung vom "Literaturkanon" waren. Dennoch sind beträchtliche Teile dieses Lebenwerkes weder sonderlich erhellend für den "Geist des Surrealismus" in der Literatur noch erschiene es mir als angemessen, innerhalb des breiten Spektrums der (möglichen) Literatur überhaupt etwas als "zeitlos" oder "zwingend" zu rühmen...

Die Welt hat sich verändert, seit Gracq phantasierte...






Christian Erdmann:
Ändert nichts an der Anmaßung dieser Aussage: 

Was darin "surrealistisch" anmuten soll, ist in Wirklichkeit nur schwerverdauliches Verfehlen treffenden Ausdrucks für das, was er in Worte zu fassen versucht...

Nochmal: wo hast Du den Codex "Was Gracq tatsächlich in Worte zu fassen versuchte" gefunden? Wie wäre es, davon auszugehen, daß Gracq genau so schrieb, wie er schreiben wollte, und genau beschrieb, was er beschreiben wollte? Es gibt übrigens Menschen, die behaupten, Kafka wäre mehr Realist als die sogenannten "Realisten". Das könnte man selbst dann nur sinnvoll bestreiten, wenn man versteht und akzeptiert, wie es dazu kommt. Gracq ein "verfehlendes" Phantasieren zuzuschreiben, ist eher Indiz fürs Gegenteil. Es bräuchte keine Literatur mehr, wenn es einen Kanon des gefälligst zu Beschreibenden gäbe, den ein Autor zu erfüllen hat, um nicht eines "Verfehlens" geziehen zu werden. Gar besser als der Autor wissen zu wollen, was treffender Ausdruck sei – im übrigen bei einem Stil, der andernorts gerade dafür gerühmt wird, daß er durch äußerste Prägnanz gekennzeichnet ist –, wirkt auf mich dann aber doch schon kurios.

"Natürlich" gibt es Leser, für die die Lektüre Julien Gracqs eine völlig neue Leseerfahrung darstellt; ein neu entdeckter Autor ist eine neue Leseerfahrung. Es sei denn, man verstellt sich mit der – ohnehin nur angemaßten – Haltung des hartgesottenen Alleskenners den Blick. – Die Welt hat sich verändert, seit Gracq phantasierte? Die Welt hat sich verändert, auch weil Gracq schrieb. Daß Weltwahrnehmung in dieser Form möglich ist, ist die viel aufregendere Entdeckung gegenüber der Erkenntnis, daß man von "Surrealismus" sprechen kann oder auch nicht.

Und was soll das überhaupt, "die Welt hat sich verändert, seit" - ? Sind Lampenschirme jetzt Polizeibeamte? Ist Beethoven schlecht, weil es Nick Cave gibt? Das ist doch ein gar zu sehr unter Mißmutdrogen stehender Satz, den Du da schreibst. Es gibt zeitlose, die Menschen in der Tat zwingende Phänomene, die seit Jahrhunderten in immer neuen Anordnungen, Facetten, Sichtweisen Thema von Literatur waren und immer sein werden, die ganze Literaturgeschichte ist da ergänzendes Entbergen. Daß Literatur immer auch formal, unterm Stil- und Strukturaspekt rahmensprengend in den Bereich des Möglichen vordringt, wird sich ebenfalls hoffentlich nicht ändern, aber es gab einmal ein kluges Wort vom Stehen auf Schultern von Giganten.







20.03.2010


Achras:
Zitat von Julien Gracq:
"Bis in mein fünfzehntes Lebensjahr, und vermutlich weit darüber hinaus, war eines meiner Lieblingsbücher - neben den periodischen Zusendungen des Chasseur francais, worin ich die Streckenbeschreibungen für Radtouristen verschlang - ein veralteter Michelin-Führer, der auf dem Dachboden neben einer Sammlung des Vermot-Almanachs stand und so manchen Nachmittag eines unfreiwilligen Fastens ausgefüllt hat, an dem ich mich über keinen Jules Verne, keinen Fenimore Cooper hermachen konnte."

Der Guide Michelin war von seinen ersten Ausgaben an keine Lektüre für Fahrradwanderer...






Christian Erdmann:
... was in dieser Passage ja auch nicht behauptet wird:

"... war eines meiner Lieblingsbücher - neben den periodischen Zusendungen des Chasseur francais, worin ich die Streckenbeschreibungen für Radtouristen verschlang - ein veralteter Michelin-Führer, der auf dem Dachboden neben einer Sammlung des Vermot-Almanachs stand..."







Achras:
Und wenn Gracq in jungen Jahren diese Lektüre jeder anderen bisweilen vorgezogen haben mag, wieso verblieben diese Bücher auf dem Dachboden?






Christian Erdmann:
Da steht nur, daß er da stand. Eines der Lieblingsbücher meiner Freundin, so mit 12, war die von Lo Duca herausgegebene zweibändige Enzyklopädie der Erotik, Kurt Desch Verlag 1963, Exemplare nummeriert, die in der Bibliothek ihres Vaters stand.







Achras:
Aha. Was lernen wir daraus ...






Christian Erdmann:
Aha. Langsam verstehe ich.

Zitat von Julien Gracq:

Neben ihr aufgestützt, sah ich ihr schlafversunkenes Haupt wie von Welle zu Welle auftauchen, immer weiter von mir weggespült. Ich blickte um mich, fröstelnd allein in diesem aschenfarbenen Tag, der mit dem Widerschein des Kanals durch kalte Scheiben ins Zimmer sickerte. Was mich getragen hatte, war nun völlig versiegt, und selbst der Raum um mich schien sich zu leeren und wegzuströmen durch die nachtdunkle Schlucht eines Schlafes voll bedrückender Träume. In ihrer hochfahrenden Laxheit, überlegen leichtgesinnt, ließ Vanessa die hohen Türen ihres Gemachs beständig weit offen. Die zarte Asche des Dämmerlichts entsank der Glut dieser kurzen Tage, dumpfen Herzens lag ich matt auf den Laken, und über meine nackte Haut strich der kühle Hauch aus der Flucht der verfallenen Räume. In diese Höhle geduckt, waren wir von einem schon erstorbenen Wirbelsturm vergessen worden, aber wider meinen Willen lauschte ich in das sinnende Dunkel, als käme von fern her und wie vom Grund der horchenden Stille belagerter Städte das Tosen eines Massakers.

Was lernen wir daraus? Eben. Nicht einmal Vanessas Schuhgröße. Wir lernen höchstens, was Literatur ist bzw. was sie auch sein kann: Beschwörung dessen, was sich der Sprache vermeintlich zu entziehen scheint, der nahezu unauslotbaren Tiefe eines einzigen Augenblicks, einer einzigen Situation, eines einzigen Anblicks, jener Tiefe, aus der uns die Zeit, das ist ihr Auftrag, permanent fortreißt.







KLMO:
Aljoscha, was Du richtig beschreibst kann man nicht lernen! Entweder man hat es oder man hat es nicht. Den Rest kann man sich sparen.







21.03.2010


ray05: 
Die zarte Asche des Dämmerlichts entsank der Glut dieser kurzen Tage, [...] 

"Onkel Aljoscha Onkel Aljoscha, das hier kann überhaupt nicht stimmen, der Bericht lügt! In unserem Pfadfinderhandbuch steht ausdrücklich, dass Tage nicht brennbar sind. Und Licht wird auch in der Dämmerung niemals zu Asche."






Christian Erdmann:
"Auch Rosenkohl ist eigentlich mehr eine Rose als Kohl."
"Hoffnungsloser Fall! Ihm fällt nur noch Gemüse ein."

(Barks / Fuchs: Donald Duck - Pflanzenfimmel)