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Sonntag, 3. November 2019

Traum ohne Ende / Dead of Night [1945] - Teil 2
















Dead of Night, oder: Horror als Identitätskrise männlicher Architekten des scheme of things 

Teil 2 



Diese vierte Geschichte von Dead of Night gilt manchen als unpassender humoristischer Exkurs, spoiling the atmosphere. Dabei gibt es in jeder englischen Tragödie, siehe die Pförtner-Szene in Shakespeares Macbeth, eine burleske Einlage. [18] Es geht um zwei Golfer, George und Larry (Basil Radford und Naunton Wayne, unzertrennlich seit Hitchcocks "The Lady Vanishes"), deren Rivalität noch über das Grab hinaus besteht. Man könnte auch sagen, es geht um Männer, die mit Instrumenten, die Freud als Phallusersatz zu deuten keine Mühe hätte, versuchen, etwas in einem Loch unterzubringen ("Das war's! Drin ist er!"). Beide verlieben sich in Mary, und Mary bleibt ebenfalls eine Frau zwischen – oder mit – zwei Männern. Ihre Rivalität tragen die Männer naturgemäß auf dem Golfplatz aus, bis George dank einer Schummelei Mary "in der Tasche" (" ... with Mary in the bag") hat. Der unterlegene Larry geht auf der Stelle ins Wasser / in den Tod und verfolgt George als Geist, greift ihm in den Schläger und verhindert das Einlochen. Aber auch die Geisterrolle wechselt, und Mary wird vermutlich noch sehr lange eine Frau mit zwei Männern bleiben, die sich gegenseitig am Einlochen zu hindern suchen. Man soll nicht überall Symbole sehen, sagt Herodes in Ken Russells Salome's Last Dance

Unübersehbar allerdings ist der Phallusersatz in der fünften Episode. Als Foley seine Geschichte erzählt hat, sehen wir auch Craig wieder in der Runde. Craig rechtfertigt gleichsam den komischen Exkurs mit seiner Frage an Foley: "Sie haben mir nur helfen wollen, nicht wahr?" Tatsächlich droht nun der Horror, den Craig voraussah: das Grauen würde ausbrechen, nachdem Eliot vom Tod eines Mannes spricht, von dem Craig noch nie gehört hat. Aber das Grauen scheint nicht auszubrechen. Mrs. Foley erklärt entzückt, da der Bann gebrochen sei, könne sie sich um das Essen kümmern, und Van Straaten gibt zu, daß es auch in seiner Berufskarriere einen Fall gegeben hat, der ihn erstaunte. Nämlich diesen: 

Maxwell Frere, ein Bauchredner, ist wegen versuchten Mordes an seinem amerikanischen Kollegen Sylvester Kee angeklagt. Van Straaten wird in diesem Fall um ein Gutachten gebeten. Frere äußert, keine Hilfe von Van Straaten zu wollen: "Nur Hugo ist in der Lage, mir zu helfen!" Hugo ist die Bauchrednerpuppe, mit der Frere aufgetreten ist. "Hugo should be here with me." ("Ich rede kein Wort ohne meinen Hugo!") Aber Hugo wurde beschlagnahmt. Frere erklärt, Hugo trage die größere Schuld. "Wie ist egal, Hugo muß zu mir!" Frere wird wieder abgeführt, und Van Straaten liest Kees Aussage.






Kee und Frere waren sich begegnet, als Frere in einem Pariser Nachtclub auftrat. Kee erkundigt sich bei Madame [19]: "This guy Frere, they tell me he's pretty good." - "I'll say he is!" - "What's he got that I haven't got?" 

"Seine Puppe." Die Bauchrednerpuppe Hugo gehört zu Frere wie ein Teil seines Körpers. Wie ein bestimmter Teil seines Körpers. Wir sehen Frere bei seinem Auftritt: Hugo, die Puppe, scheint tatsächlich mit eigener Stimme, mit eigenem Geist begabt – zumal Michael Redgrave, Darsteller des Frere, die Lippen über weite Strecken nicht einmal ansatzweise bewegt. Nur zeitweilig zuckt sein Mund kaum merklich, und Redgraves Virtuosität in diesen Szenen besteht darin, einerseits die Möglichkeit offen zu lassen, daß Frere tatsächlich ein begnadeter Bauchredner ist, andererseits aber den Anschein zu erwecken, daß Frere hier, nervös darum bemüht, den Schein zu wahren, Hugos Rede nur nachempfindet - weil er nicht weiß, was Hugo sagen wird. Frere und Hugo setzen sich an Kees Tisch, und Hugo findet Gefallen an Kee. Frere wird sichtlich unruhig, als Hugo Kee vorschlägt, mit ihm zusammenzuarbeiten: "You interest me quite a lot. We two could make beautiful music together." - "Das wär' wundervoll, Hugo, aber wir machen lieber Musik mit Frank!" Als die Musik einsetzt und Frere mit Hugo die Bühne betreten hat, erklärt Hugo, er habe jetzt keine Lust zu singen. "Du machst heute mal den Kanarienvogel", bestimmt er; Hugo will lieber mit Sylvester Kee sprechen.






Es kommt also zu keinem Lied; Maxwell scheint keine Kontrolle über Hugo zu haben. Am Tisch mit Kee stellt die Puppe Hugo den Puppenspieler Frere als seinen Assistenten vor. Hugo fragt Sylvester Kee erneut: "Wollen wir zwei zusammen arbeiten?" 

Zunächst scheint es also, als wäre Hugo der operative Phallus, mit dem Frere die Welt zugleich penetriert und auf Distanz hält. Bei ihrem Auftritt macht die Frere-Hugo-Einheit spitze, anzügliche Bemerkungen über die Besucher des Nachtclubs, insbesondere die weiblichen. Hugo erklärt, eine der Damen aus dem Folies Bergères zu kennen. 

Der operative Phallus aber operiert selbsttätig; Frere ist vielmehr das Organon der Puppe und in dieser Beziehung der passive Teil. Als Hugo äußert, "mit dem billigen Kerl" Frere nichts mehr am Hut zu haben, versetzt Frere ihm eine Ohrfeige, und Hugo kontert: "Immer diese Launen!" ("Temper, temper. You'll be sorry for this later, you know.") 

Auch "Launen" sind weiblich konnotiert. Hutchings erkennt die Situation als "representing (...) a homosexual love triangle, with Sylvester (...) at one point, Maxwell (...) at the second, and the dummy, Hugo, at the third. The 'bitchiness' of the dialogue between Maxwell and Hugo, and Maxwell's neurotic fear of Hugo leaving him for Sylvester, both testify to this level (...) Maxwell's highly pitched, nervous voice and his 'feminine' mannerisms also signal him as the passive / 'female' half of the relationship" [20]. 

Sofern Frere also ein passiv homosexuell eingestellter Mann ist, der diese seine Einstellung gleichwohl vor sich selbst zu kaschieren sucht, steht auch hier die männliche Identität auf dem Spiel. In dieser Situation scheint Hugo als "a kind of detachable phallus" [21] zu fungieren. Der Männlichkeit "sichernde" Hugo aber desertiert Maxwell. Zum einen erscheint Maxwell damit als ein weiterer männlicher Charakter dieses Films, der in gewisser Hinsicht nicht genügt und der in mörderische Eifersucht getrieben wird; gleichzeitig aber agiert Hugo so autonom in seiner Partnerwahl, wie es Maxwell möglicherweise gerne täte. 

Das heißt, der Phallus agiert autonom. Mit Hugo versucht Maxwell sein Bild von "Männlichkeit" zu behalten. Wenn Hugo eine Beziehung mit einem anderen eingeht, wird auch Maxwell sich seiner Homosexualität bewußt. Genau das aber bedroht seine männliche Identität. Sein Horror davor, daß Sylvester ihm Hugo raubt, bedeutet, daß Freres "very identity, his 'completeness'" [22] auf dem Besitz von Hugo ruht. Tatsächlich fühlt sich Maxwell ja außerstande, ohne Hugo sprechen zu können - eine interessante Variante des von Lacan betonten Zusammenhangs von Phallus und Sprache. 

Hugo macht Maxwell vor dem Publikum lächerlich: "Would you believe it, this guy thinks he carries the act." Nach Maxwells Auftritt ruft Hugo noch einmal durch den Vorhang, Sylvester solle in seine Garderobe kommen. Als Sylvester dort an die Tür klopft, ruft Hugos Stimme: "Come in!" Sylvester findet die Puppe allein im Raum und hört wiederum Hugos Stimme: "Glad to see you, Sylvester!". Erst dann erscheint Frere aus einem Nebenraum, Zigarette im Mundwinkel. Sylvester hebt Hugo empor, Maxwell reißt ihm Hugo aus den Armen: "Sorry, but I can't bear anyone touching him."






Sylvester ist verwirrt: "Say, I sure liked it how you pulled that gag." - "What gag?" - "For a moment, I could've sworn it was the dummy speaking." Sylvester weiß nicht, was er von Hugos Angebot halten soll, meint, Hugo scheine ja wirklich einen eigenen Willen zu haben, "this fellow's almost human", worauf Hugo den Kopf wendet, offensichtlich ohne daß Maxwell ihn bewegt, und feststellt: "Maxwell, der Typ ist genauso blöd wie du. Vielleicht sollte ich ihn erstmal aufklären." – Maxwell fährt mit unterdrückter Panik dazwischen: "Das läßt du schön bleiben!" Das Wortgefecht führt dazu, daß Maxwell der Puppe den Mund zuhält, und Sylvester wird die Sache unheimlich: "Sagen Sie mal, was geht denn hier eigentlich vor?" Maxwell fordert Sylvester auf, endlich zu gehen. Während Frere Hugo den Mund zuhält, hören wir Freres Stimme und die unartikulierten Protestlaute, die Hugo von sich gibt, gleichzeitig. Sylvester meint, Maxwell solle dringend einen Arzt aufsuchen: "Sie haben was am Kopf!". In diesem Augenblick preßt entweder Frere die Zähne der Puppe so stark in seine Hand, daß blutende Abdrücke zu sehen sind - oder Hugo hat Maxwell in die Hand gebissen. Hugo ruft Sylvester zu: "Verlaß mich nicht, mein Freund!" Aber Sylvester hält Maxwell für übergeschnappt und verläßt die Garderobe. 

In London begegnen sich Maxwell und Sylvester erneut. Frere sitzt an der Hotelbar, abgerissen, betrunken und mit den Nerven sichtlich am Ende, Hugo stumm neben ihm. Ein Mann erscheint mit zwei Frauen an der Bar, sie reden über Frere und die Puppe, eine der Frauen sagt: "Ich würde ihn am liebsten mal anfassen, den Burschen!" ("Oh, I'd just love to pick him up!") Gesagt, getan. Hugo, schließlich macht er sich nichts aus Frauen, reagiert ungehalten und droht der Dame mit Schlägen. "Hau ab! Was sagst du, Maxwell! Dieses Flittchen geht mir glatt an die Wäsche!" Maxwell kassiert die weiblichen Verwünschungen. Der Begleiter der "Ladies" stellt ihn zur Rede. "Wo ist hier 'ne Lady?" quakt Hugo. Maxwell kassiert den männlichen Boxhieb. Sylvester Kee hat die Szene beobachtet. Er bringt Maxwell auf sein Zimmer, legt den Betrunkenen ins Bett – und richtet zum ersten Mal ein paar Worte an Hugo: "If my pal Fancy Pants got me down the way you do your boss, well I guess I'd want to be rid of him."






Nachts wird Sylvester in seinem Hotelzimmer von Maxwell geweckt, weil Hugo verschwunden ist. "Er ist hier! Ich weiß, daß er hier ist!" Tatsächlich ist Hugo anwesend. Hat er sich heimlich in Sylvesters Zimmer begeben? Maxwell schießt auf Sylvester. 

Das Ende der Episode zeigt, wie Van Straaten Hugo zu Maxwell bringen läßt. Maxwell sitzt apathisch in seiner Zelle, die rechte Hand so erhoben, als würde er mit ihr eine Puppe dirigieren. Als Maxwell Hugo sieht, reagiert er zunächst panisch, dann erfreut und erleichtert: "I knew you wouldn't leave me, Hugo. I knew you'd come back!"






Aber Hugo blökt: "Not for long, my boy. Not for long!" Van Straaten beobachtet, wie Maxwell Hugo anfleht, für ihn auszusagen; Hugo erklärt jedoch, daß er für seine Karriere schließlich einen neuen Partner brauche, wenn Maxwell im Gefängnis sitze, und Sylvester werde bald aus der Klinik entlassen.






Als Maxwell erkennt, Hugo nicht behalten zu können, zerstört er die schreiende Puppe, auf ihrem Kopf herumtrampelnd. Van Straaten ruft - für einen Rationalisten sinnloserweise - in die Zelle: "Stop, Frere! Frere! You fool!", wie um Maxwell von einem Mord abzuhalten. Später, in der Irrenanstalt, bringt Van Straaten Sylvester zu Maxwell, der nicht mehr spricht (schließlich hat er keinen Phallus mehr). Endlich spricht er doch - mit Hugos Stimme. "The destruction of the dummy / phallus – equivalent to the self-inflicted throat-cutting in 'The Haunted Mirror' – has, quite simply, left Maxwell a castrato" [23]. Nicht nur das. Maxwell sagt: "Why hello Sylvester... I've been waiting for you.."  - mit Hugos Stimme, unter Anstrengung, als wäre sein Kiefer der einer Puppe. Selbst nun ohne Phallus, ist er bereit, Sylvesters Puppe zu werden, aber der Preis für diese Erkenntnis ist Wahnsinn. Seine unterdrückten (homosexuellen) Wünsche vermag er nicht in seine Identität zu integrieren. 

Die personifizierte Ratio Van Straaten behauptet all dies als Fall von Schizophrenie, von gespaltener Identität: die eine Hälfte von Frere war er selbst, die andere war seine Puppe. "Schön und gut", bemerkt Foley, "nur, wie konnte Hugo die Zimmer wechseln?" Schön und gut, warum liegen in einer Szene zwei Stimmen übereinander? Warum versucht Van Straaten offensichtlich, den Mord an einer Puppe zu verhindern? Hugo eignet sich eine Persönlichkeit an, und mit der Persönlichkeit kommt der Nachname: irgendwann im Lauf der Geschichte heißt die Puppe Hugo Fitch. 

Als Grainger Van Straaten ein Glas Whiskey reicht und der Psychiater im selben Moment seinen Arm hebt, zerbricht dessen Brille. Dies ist der Augenblick, den Craig vorausgesehen hat. "It's... started.", sagt er düster. Die anderen Anwesenden versuchen Craig zu beruhigen, doch der will mit Van Straaten alleingelassen werden. Van Straaten erklärt Craig, er habe sich dazu durchgerungen, dessen Traum zu akzeptieren. Jovial fordert die Stimme der Ratio den Träumer auf, nur weiter zu sprechen. Aber Craig erhebt sich langsam aus seinem Sessel und sagt: "If only I'd left here when I wanted to... when I still had a will of my own. You tried to stop me... you wouldn't have done it if you'd known..." 

Craig tötet Van Straaten. Das träumende Ich würgt die Stimme der Ratio ab, der Psychiater bezahlt seinen Skeptizismus mit dem Leben. Der Verfechter der psycho-logischen Erklärung ist aus dem Spiel, und in den folgenden Sequenzen eskaliert das Schreckensszenario mit atemberaubender Geschwindigkeit. 

Craig empfängt den Impuls, sich zu verstecken, und wird dabei im surrealistischen Schnelldurchlauf noch einmal durch die Schauplätze der erzählten Episoden gejagt, ist jetzt selbst ihr Bestandteil, fragt Peter, ob er sich im Spiegelraum verstecken könne, schleppt Sally in eine Rumpelkammer; das Mädchen ruft den Verfolgern zu "Here he is, up in the lumber room!" Craig schlägt Sally nieder. "Ist ein Polizist anwesend?" keift Hugo im Nachtclub, auf Sylvesters Knie sitzend, und der Leichenkutscher / Busschaffner wiederholt sein "Just room for one more inside, Sir!" jetzt vor einer Gefängniszelle.









Als Craig auf der Gefängnispritsche liegt, erhebt sich - für Dyson "the film's most horrific moment" [24], für Justin Mory "one of the most frightening images in horror movies bar none" [25] - ein mannsgroß gewordener Hugo und beginnt Craig zu würgen, der Mob der Verfolger, zombiehaft gewordene Besucher des Nachtclubs, schaut durch die Gitterstäbe zu. 

Ein Telefon klingelt. Craig erwacht, völlig verstört. Seine Frau betritt das Zimmer. "Darling, whatever's the matter?" - "Another nightmare." - "You poor sweet." Seine Frau geht ans Telefon. Es ist für Craig.
"Wie war der Name, Sir?"
"Eliot Foley! F-o-l-e-y!" [26]
Craig steht auf, erklärt seiner Frau, ein Freund von Bill habe angerufen und ihn zum Weekend eingeladen. "Die Leute wollen ihr Haus umbauen, ziemlich alter Kasten." ("A reconstruction job.").

Seine Frau rät Craig zu, spielerisch wirft er eine Münze: "Kopf ist annehmen, Zahl ist ablehnen." Kopf. "Ich tu's." - "That's just what you need, Darling. It'll help you get rid of those horrible nightmares." 

Craig fährt mit dem Wagen zu dem Landhaus, in das er telefonisch bestellt wurde. Er hält kurz an, wirft einen Seitenblick auf das hinter einem Waldstück zum Vorschein kommende Haus, schüttelt ratlos den Kopf und fährt weiter. Er scheint verwirrt von dem, was er sieht. Aber Craig bewegt sich durch ein endloses Déjà vu, und er befindet sich an dem Punkt, an dem sein Bewußtsein dafür langsam – wieder – erwacht. 

Ad infinitum, ausweglos. Es sei denn, einmal erscheint Zahl, vielleicht. Oder Van Straaten wird einmal nicht erwürgt, vielleicht. 

Nach dem "Aufwachen" also spricht Craig darüber, daß er geträumt habe, erinnert sich aber noch nicht daran, daß er, wenn er mit dem Wagen auf das Landhaus zufährt, wieder zur Traumfigur werden wird, die mit den Figuren seines Traums auf einer luziden Ebene über seinen Traum sprechen wird. Dead of Night verleiht dem Zuschauer nicht das versichernde Gefühl, alles war nur ein Traum, und ersetzt es durch das zutiefst verunsichernde Gefühl, daß der Punkt, an dem man zwischen Wachen und Träumen unterscheiden könnte, nicht mehr existiert. Das Ende ist wieder der Anfang, und mit jedem Anfang versinkt Craig tiefer in seinen Traumabgrund.

Dead of Night provoziert intellektuelle Unsicherheit: "Not only are the images in the mirror now questionable but also every character and object before the mirror and indeed even the mirror itself (and also the 'dreamer', Walter Craig). One does not even know whether this is an actual dream that one is seeing" [27]. 

Der Traum ohne Ende, aus dem Craig niemals entkommt, ist auch ein Film ohne Ende, der den Zuschauer mit dem seltsamen Gefühl entläßt, daß die Geschichte bis in alle Ewigkeit weiter läuft, als unaufhaltsame, autonome Endlosschleife. Ontologische Sicherheit ist perdu, wenn das Ende der Nacht nicht das Ende der Nacht ist und das gute alte "alles nur ein Traum" durch klaustrophobische Zirkularität ersetzt wird. Der Film hat kein "recognisable monster"; Dead of Night ist "rather a film where the monster turned out to be the film itself" [28]. Der Film macht mehrere phantastische Drehungen: wenn die Tötung Van Straatens durch Craig bedeutet, daß alles "Übernatürliche" Produkt eines die Ratio ausschaltenden Gehirns ist, demonstriert andererseits eine Episode nach der anderen, daß eben dies nicht der Fall ist. Und: zur selben Zeit, als Craigs rationales Bewußtsein über die Abläufe auf dem höchsten Punkt ist, gibt Van Straaten, bis dahin die reine rationale Skepsis, zu, daß auch er einmal an die Grenze des Erklärlichen gestoßen ist. 

Hutchings betrachtet Dead of Night als "an intense and obsessive meditation on issues arising from the transition from a wartime to a post-war society" [29]. Viele der Filme der Kriegszeit suggerierten die Notwendigkeit für das Individuum, persönliche Wünsche und Ambitionen zugunsten des Wohls der national community zurückzustellen. Die Protagonisten dieser Filme wurden "from home and family" in eine "more community-based social structure" überführt. Dead of Night dagegen verlegt die den Film strukturierende Handlung nicht nur in die Heimstatt eines seiner Charaktere, sondern darüberhinaus "inside a particular character's head" [30]. 

Die unmittelbare Nachkriegszeit bedeutete: verstörte Männer kamen nach Hause, "and many women giving up, willingly or otherwise, their wartime occupations and adopting again the nurturing roles of housewife and mother within the domestic household" [31]. Nach den Zerrüttungen des Krieges sollte es darum gehen, das traditionelle Familienleben mit seinen traditionellen Rollenverteilungen wieder zu installieren. Dead of Night läßt sich vor diesem Hintergrund durchaus als "return to the home" [32] erkennen - aber nicht nur ist dieses home der Traum im Kopf eines Mannes; der Film stellt überdies seine weiblichen Charaktere in das strahlende Licht ihrer neugewonnenen Unabhängigkeit. Joyce und Joan glänzen als starke Frauen, als Repräsentantinnen der Frau, die gelernt hat, gut ohne den Mann auszukommen. Neben sie stellt Dead of Night männliche Charaktere, deren Nichtbewältigung der Entmachtung der traditionellen männlichen Rolle in Paranoia und Horror eskaliert. Innere Zustimmung zur starken Frau gelingt dem Mann in Dead of Night ebensowenig wie der Versuch, latente Skepsis gegenüber der monogamen heterosexuellen Beziehung ohne Horror in Alternativmodelle zu verwandeln. Wo in Dead of Night das Heim gesucht wird, wartet das Unheimliche. Walter Craig ist Architekt. Architekten entwerfen the scheme of things. Und über genau dieses gebietet der männliche Protagonist von Dead of Night nicht mehr; statt dessen wird er gezeigt als Gefangener seines eigenen scheme of things. 

Dead of Night zeigt "a return to the home", aber nicht "a reconstituted family" [33]. Im Landhaus sind Vaterfiguren, Mutterfiguren, Frauen, Männer und ein junges Mädchen präsent, aber als "curiously unintegrated group, the interrelationships of whom (...) are never elaborated in any detail". Eher werde die Gruppe als "in the process of disintegration" gezeigt: "A sense of uncertainty pervades the film; about the respective values of domesticity and community and the roles played by men and women within each; about reality itself" [34]. 

Dead of Night zeigt Unsicherheit über die Realität selbst und über die Rolle, die in ihr zu spielen ist, bezeugt aber auch die Suche nach einem Übergang von "wartime collectivity to a more desire-centred, individualistic fictional world" [35], bezeugt die Ambivalenz von Sehnsucht nach dem Heim und dem Unbehagen an ihm. Das Haus und das Heim könnten sich für das überkommene Männerbild als Falle erweisen. Der Film ist "a complex imagining of a gender crisis, one which focuses in particular on fears, anxieties and uncertainties about the role of the male" [36]. Die Wahnvisionen oder übernatürlichen Begebenheiten, die Grainger, Peter und Maxwell Frere ereilen, werden assoziiert mit der Krisensituation männlicher Identität. Horror ist hier eine Erscheinung von masculinity in trouble. Wie "The Haunted Mirror" handelt "The Ventriloquist's Dummy" von bedrohter Identität und Verlust des Selbst. 

Die männlichen Gestalten scheinen die Frau eher als pflegende und tröstende Figur zu wollen; die weiblichen Gestalten übernehmen die Nurse-Funktion auch, reflektieren aber den Männern damit zugleich deren Pflegefall-Dasein und geben ihnen darüber hinaus zu verstehen, daß sie ihre Stärke und Unabhängigkeit als Frau - auch erotisch - auszuleben gewillt sind. Es ist ein Kunststück, Frauenfiguren dieses Films wie Joyce und Joan nicht überaus sympathisch und attraktiv zu finden. Aber man muß die geeignete Psyche mitbringen: sie lassen sich nicht in das scheme of things der männlichen Architekten zwingen. Alles in allem gilt für Dead of Night: "In fact it's hard to think of a more respectable looking horror film that still manages to be so subversive and entertaining" [37]. 

Und dann ist da noch die Performance von Michael Redgrave: 

"The element that raises 'The Ventriloquist Dummy' to greatness is the transcendent performance by Michael Redgrave as Max Frere. He captures our empathy even while disintegrating before our eyes. A moment during their performance when he snaps, slapping Hugo in the face, is still shocking. The way he clutches at Hugo as he shoots Kee while Cavalcanti spins the frame is unnerving. When Von Straaten, playing a hunch, slips Hugo into Frere's jail cell he unknowingly sets the stage for Frere's final meltdown. Redgrave's use of his voice during this scene is brilliant. From his gasp of dread when he first sees Hugo to the tortured sounds he makes as he kicks Hugo's head into a pile of sawdust he shows us his madness but also his horrible pain." [38]










Anmerkungen:

18 Wobei mittlerweile bestritten wird, daß die Szene bei Shakespeare lediglich als comic relief dient.
19 Die Nachtclub-Besitzerin wird gespielt von Elisabeth Welch: zum ersten Mal in einem englischsprachigen Film wird eine schwarze Frau als erfolgreich und unabhängig dargestellt. Bei ihrem Song wird sie von weißen Musikern begleitet.
20 Hutchings 33
21 Hutchings 33
22 Hutchings 33 
23 Hutchings 33
24 Dyson 178
25 Justin Mory, zekefilm.org, Dead of Night Blu-Ray Review, July 22, 2019
26 In dieser Szene sehen wir Foley, ohne daß Craig ihn sieht. Möglicherweise eine Andeutung, daß der nächste Zyklus Wirklichkeit ist.
27 Hutchings 35
28 Hutchings 36
29 Hutchings 26
30 Hutchings 28
31 Hutchings 28
32 Hutchings 28
33 Hutchings 29
34 Hutchings 29
35 Hutchings 29
36 Hutchings 33 ff.
37 Dyson 180 
38 Rich Dishman, classic-horror-com, Dead of Night Review, 24.01.2011























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