Sonntag, 6. August 2017

Alfred Schnittke




Nicht weit entfernt von meinem Neorenaissance-Schlößchen (a.k.a. Zauberberg für Idioten) gibt es eine Straße namens Beim Andreasbrunnen. Würde ich nicht ohnehin in Hamburg leben, wäre sie für mich ein Grund, nach Hamburg zu pilgern, denn in dieser Straße hatte der Komponist Alfred Schnittke sechs Jahre lang sein Domizil: von 1992 bis zu seinem Tod im August 1998 wohnte der 1934 in Engels an der Wolga geborene Schnittke im Altbau Nr. 5.
 









Schon für "Endstation Sehnsucht" hatte John Neumeier, Choreograph, Direktor des Balletts an der Hamburgischen Staatsoper und godlike genius, ein Werk Schnittkes verwendet, die Sinfonie Nr. 1. 1985 bringt Neumeier sein atemraubendes, herzzerfetzendes "Othello"-Ballett auf die Bühne; Schnittkes Concerto grosso Nr. 1 ist im 2. Akt präsent, als Verzweiflung und Wahnsinn ihren Lauf nehmen. Ich sah dieses Ballett einige Jahre später zum ersten Mal, ich sah "Othello" insgesamt siebenmal, stets in der Besetzung mit Gamal Gouda  als Othello und Gigi Hyatt als Desdemona, beim ersten Mal ging ich allein, sechsmal dann mit IHR. Nach dem ersten Mal schrieb ich ihr.

"Gamal Gouda. Mein Gott, der 2. Akt - als sich die Musik von Schnittke in das Stück bohrt wie die nagenden Würmer der Eifersucht in Othellos Herz - wie er zusammenbrach unter dem Hohnlachen Jagos und der Primavera. Ich weiß nicht, irgendwas stimmt nicht mit mir, wenn ich im Ballett bin. All das nahm mich so sehr in Bann - so muß das griechische Theater gewirkt haben, mit dem, was Aristoteles Katharsis nannte. Jago trieb mich in die Vorstellung, wie es sein müßte, Dich in fremden Armen zu wissen - so zu fühlen, und - als Zuschauer - doch gleichzeitig zu wissen, daß Desdemona unschuldig ist ... es zerriß mich. Die Szene, als die letzte der Grazien - die letzte Erinnerung an das Schöne, das letzte mögliche Zurück - fällt, und Othello Desdemona festhält - ihr Entsetzen, namenlos - und wie Gamal Gouda von nun an für lange qualvolle Minuten nur noch düsterste Entschlossenheit ausstrahlt, das ist so erschütternd.
Und als Othello Desdemona schließlich tötet, gleich darauf mit der blitzartigen Erkenntnis ihrer Unschuld alles über ihm zusammenbricht - die Minuten, in denen Gamal Gouda vor ihr saß. Gebrochen, regungslos, leer, dumpf, mit einem Gesichtsausdruck, der nicht mehr von dieser Welt war, in dem alle Vergeblichkeit, alles Scheitern, alle Verblendung war, grenzenloses Geschlagensein, der allerletzte Blick, der dem Menschen möglich ist, der betrogen ist, der sich aufgelehnt hat und nun erkennt, daß er das einzige getan hat, was nicht wiedergutzumachen ist, daß er das einzige verloren hat, das einzige - ich hatte Tränen in den Augen.
Und all das geschah ganz in Deiner Welt."

Und all das geschah zur Musik von Schnittke, in der genau dies zu hören ist: "Selbst das Firmament ist erschüttert. Die Himmelssphären sind aus dem Gleichgewicht. Es ist, wie wenn der Wahnsinn von den Sternen auf die Menschen niederkäme." [1]

Desdemona. Der Shakespeare-Exeget Jan Kott sagt über sie:
"Sie weiß nicht einmal, daß sie durch ihre bloße Anwesenheit beunruhigt, daß ihre bloße Anwesenheit ein Versprechen ist. Othello wird es erst erfahren, Jago weiß es von Anfang an. Desdemona ist treu, aber sie muß etwas von einer Dirne an sich haben. Nicht in actu, aber in potentia. Sonst kommt das Drama nicht zum Tragen. [...] Desdemona ist besessen von Othello, aber alle Männer [...] sind besessen von Desdemona." [2]

Nach der ersten Liebesnacht verhält Othello sich so,
"... als hätte er eine andere Desdemona vorgefunden als die erwartete. [...] Es ist, als ob ihn die Explosion der Sinne bei dem Mädchen verblüfft und schockiert hätte, das noch vor kurzem mit niedergeschlagenen Augen seinen Erzählungen lauschte. Desdemona fühlt sich von der ersten Nacht an als Geliebte und Frau. [...] Je heftiger Desdemona sich in der Liebe vergißt, desto mehr wird sie in Othellos Augen zur Dirne." [3]

Jago, der dämonische, nihilistische Psychoanalytiker, bringt Othello dazu, Desdemona namenlose Orgien zuzutrauen. Und wenn seine Frau ihn betrügt, dann betrügt ihn das ganze Universum. "Die Engel verwandeln sich in Teufel. Allesamt." [4]

Ich verließ nahezu jedes Ballett von John Neumeier mit dem Gefühl, gerade sein bestes Werk gesehen zu haben - was nur beweist, daß er in Bereiche führt, in die das Sprechtheater - zumindest mich - niemals führen könnte. Der erste Pas de deux von Desdemona und Othello aber - zur Musik von Arvo Pärts "Mirror In A Mirror" - ist das Bewegendste & zugleich Sensationellste, das man in der Weltgeschichte der Choreographie erleben kann... bis zum letzten Pas de deux von Desdemona und Othello.

"Tante Anna fragt 'Geht ihr nur so hin, oder muß Deine Freundin auch tanzen?'
Wir gehen nur so hin, nehmen ab Mundsburg ein Taxi – so daß Madame sich in der Halle der blauen Lichtpunkte die Nähte richten lassen kann – wir sehen die weißen Kostüme mit den Schildern MAZON, HERRMANN, CAZZANIGA, FEUILLETTE –
Unser Platz ist ganz oben, am Rand, wenn wir uns umdrehen, sehen wir diesen kleinen Verhau, in dem Tänzer sich umkleiden – wir hören die Moresca-Glöckchen [5] – Eric Miot zieht den Vorhang zu und grinst zu mir hoch – I'll never forget the picture. Er zerbricht wieder seinen Stock. OTHELLO. Ich könnte es jeden Tag sehen."

Says my diary. Das Areal der alten Maschinenfabrik war noch angenehm unübersichtlich, und von der Halle der blauen Lichtpunkte bewegten wir uns unbemerkt an den Kanal, sie hielt sich fest an einem Geländer, und unter dem Großen Wagen schoß eine Fontäne Mondlicht in sie - Schnittke zum Concerto grosso Nr. 1:

"Das Klavier wird durch einige zwischen die Saiten geklemmte Münzen klanglich verfremdet und dabei durch ein Mikrophon verstärkt - es symbolisiert sozusagen eine äußere Macht in diesem Stück." [6]

Concerto grosso Nr. 1 (1976/77) für zwei Violinen, Cembalo, präpariertes Klavier und Streichorchester
Gidon Kremer, Tatiana Grindenko - violin
Yuri Smirnov - harpsichord & prepared piano
The Chamber Orchestra of Europe, Heinrich Schiff - conductor










1989 arbeitete Neumeier mit Schnittke für das Ballett "Peer Gynt" zusammen - extensive Würdigung meinerseits -> hier 

Schnappschuß daraus: 

26.10.2010, SPIEGEL ONLINE Forum

Wünschte, ich könnte Euch zu einer Synapsenkonferenz einladen, um 130 Minuten "Peer Gynt" von Alfred Schnittke zu hören.
Nach seinem Schlaganfall 1985, Schnittke war klinisch tot, sprach er von einer grundlegenden Veränderung seines Zeitgefühls, von einer neuen Fähigkeit, "die sich nämlich ausdehnende Zeit zu empfinden." Genau darin muß das Geheimnis seiner "Peer Gynt"-Musik liegen. Wie in Marienbad halt.

02.07.2011, SPIEGEL ONLINE Forum

Alfred Schnittke, der Epilog aus der phantastischen Ballettmusik zu "Peer Gynt", "Aus der Welt / Out of the World". Wenn man die ganze Ballettmusik durchgehört hat, ist man hier bereits komplett durch den Wind, und der Epilog stellt merkwürdige Dinge mit einem an. Die letzten fünf Minuten sind überirdisch. Kopfhörer sinnvoll.



"Peer Gynt" ist in einer Aufnahme mit dem Orchester der Königlichen Oper in Stockholm unter Eri Klas erschienen. "Oft trägt mich die Musik, dem Meere gleich, zu meinem bleichen Stern" (Baudelaire).

Die Schattenklänge, mit denen "Peer Gynt" endet, beschwor Schnittke auch am Anfang seiner 3. Symphonie, dieses "Moderato" beginnt so unwirklich, wie Musik nur selten wird - als wäre der Beginn des "Rheingold" in den Kopf eines Mannes verlegt, der soeben erkennt, daß es wirklich ein Traumland gibt: weil er sich darin in Zeitlupe bewegt und zusieht, wie die Dimensionen sich aufheben.

Meine Aufnahme ist vom "USSR Ministry of Culture Orchestra" unter Gennadi Roshdestvensky, ich weiß nicht, ob die noch erhältlich ist.











"I set down a beautiful chord on paper - and suddenly it rusts." - Alfred Schnittke












[1] Jan Kott, Die zwei Paradoxe des Othello, Programmheft zu "Othello", 13 (aus: Shakespeare heute, 1964)
[2] ebda. 19 ff.
[3] ebda. 20
[4] ebda. 23
[5] Soldaten mit Glöckchen / Schellen an den Knien, die Tänzer der Moresca, zu denen die von uns sehr geschätzten Eric Miot und Stephen Pier gehörten.
[6] ebda. 62










Donnerstag, 3. August 2017

Today's Best Scene Ever: Twin Peaks - The Return, Episode 11













"Psychedelic magic. This is a textbook on visual art, every sound, every word, every emotion, all in tact, everything forms a melody."

Candie.