Dienstag, 22. Mai 2018

Barry Lyndon
















SPIEGEL ONLINE Forum

20.03.2007 

Während hier alles brachliegt, breche ich eine Lanze für Stanley Kubricks "Barry Lyndon". Entgegen aller anderslautenden Gerüchte ist der Film nur lang, aber in keiner Sekunde langweilig. Im Zeitalter der screenshots ist es möglich, sich Gainsborough-Bilder an die Wand zu hängen, die nicht von Gainsborough sind, weil sie von Kubrick sind. Schauspieler, von denen man das nicht unbedingt erwartet – Ryan O'Neal, Marisa Berenson – gehen einem plötzlich mit der stillen Intensität an die Nieren, die Kubrick in ihre Gesichter gezaubert hat. Von Nebendarstellern wie Murray Melvin als Reverend Runt mal gar nicht zu reden, der seine geheime Liebe zu Lady Lyndon unter seiner zimperlichen Pietät verbirgt; wenn man Melvin am Spieltisch sieht, wie er der Blicke zwischen Barry und Lady Lyndon gewahr wird, und man Zeuge wird, mit welch minimalen Mitteln er ausdrückt, daß für ihn gerade eine Welt zusammenbricht, möchte man Helmut Berger zustimmen: "Es gibt keine Charlotte Rampling mehr".

Der Film ist ebenso ätzende Satire wie distanziert-zärtliche Annäherung. Man fällt in Szenen hinein, bis die Erzählstimme ironisierende Kontrapunkte setzt. Ein ständiges Wechselbad zwischen tiefer, süßer Romantik (Barry und Lady Lyndon auf dem Balkon) und knallharter Entlarvung von Opportunismus und Oberflächlichkeit.

Bei der Duellszene zwischen Barry Lyndon und Lord Bullingdon nach 2½ Stunden war seinerzeit die Hälfte der Kritiker, die nach "Clockwork Orange" von Kubrick offenbar alles, nur nicht dies, erwartet haben, vermutlich bereits eingeschlafen; mir hingegen stockte der Atem. Über 10 Minuten hinweg. Im Grunde ist "Barry Lyndon" ein Actionfilm par excellence, nur daß der special effect, den Kubrick dabei einsetzt, darin besteht, die "Action" aus Gesichtern hervorscheinen zu lassen, Gesichter entweder von einer dem Zeitalter entsprechenden Maskenhaftigkeit, oder, wie bei Redmonds Barrys Mutter, dem höflichen Highwayman-Räuber und seinem Sohn, oder dem englischen Offizier, den Redmond zu Beginn des Films brüskiert und hernach in einem Duell zu töten vermeint, von einer gnadenlos überzeugenden Authentizität, in jeder Sekunde von Kubrick höflich, aber bestimmt, in die Mitte des 18. Jahrhunderts geleitet.

Händel, Schubert, The Chieftains – nicht nur setzt Kubrick mit dem Einsatz der Musik immer, IMMER, auf unübertreffliche Weise Stimmungen, die Musik gehört so sehr zu diesen Bildern, daß man hinterher Schuberts Klaviertrio (opus 100) nicht mehr hören kann, ohne an Marisa Berensons stummes Leiden zu denken. Dös is faktisch, wie Joseph Roth immer sagte, außer für jene, die bei Schuberts Klaviertrio an Catherine Deneuve in "The Hunger" denken, natürlich.
Unterschätztes Meisterwerk, ganz großes Kino.







Gwynplaine:
Auf jeden Fall! "Barry Lyndon" bewundere ich sehr. Die Duell-Szene ist in der Tat sehr intensiv. Auch der Hass in Bullingdons Augen, als er von seinem Stief-Vater demütigende Prügel bezieht.







Und ich habe noch nicht fertig: das Großartige, Wunderbare ist, daß Kubricks angeblich immer so "kühler" Blick und diese permanente Desillusionierung nicht verhindern, daß man genuine compassion mit diesen Figuren empfinden kann, noch nach 27 Stunden, als Redmond und Lady Lyndon am Bett ihres sterbenden Sohnes sitzen. Kubrick bringt einem, bei aller Kritik an ihnen, diese Figuren näher, als es viele andere "ach so intime" Filme der 70er heute – wenigstens bei mir – vermögen. "Das siebente Siegel" wird immer groß sein, aber "Szenen einer Ehe"? Glaubhaft, gut, wichtig... aber nichts für mich.
 































 
 
21.03.2007

BerSie:
Also bei "Barry Lyndon" möchte ich ergänzen, dass in den Innenräumen mit lichtstarken Objektiven nur bei Kerzenlicht gefilmt wurde! Damals eine Innovation!







Mit Equipment von der NASA! Marisa Berenson hat erzählt, daß bei manchen close-ups die Schauspieler sich keine Handbreit rühren durften, sonst wären sie aus dem Fokus verschwunden.
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 












 
 
10.03.2008

Ich könnte gar nicht aufzählen, wo überall ich, seit Marisa Berenson in "Barry Lyndon", überhaupt nicht mit mir handeln lasse, auf Einwände bezüglich tatsächlicher schauspielerischer Leistung nur verständnislos glotze, im günstigsten Fall die Virtuosität zartester Mundwinkelbewegungen rühme und insgeheim eine Karriere als Minnesänger ins Auge fasse. Kann mich noch gut erinnern, wie mal, als ich 15 war oder so, Wolf von Lojewski den Film "The Jungle Princess" mit Dorothy Lamour ansagte und dabei schwer didaktisch wurde. Als der Film vorbei war, beschloß ich: ich höre dich nicht, Wolf von Lojewski, nie mehr.
 
 





















10.07.2008

"Barry Lyndon"? Marisa Berenson in Kubricks Film ist so verstandraubend, ich krieg' immer so'n Hals wegen diesem Lyndon.
 






















30.05.2009

Sagte ich schon, daß "Barry Lyndon" Brian Enos Lieblingsfilm ist? Wahrscheinlich schon.
Das Leben ist ja auch deshalb oft so unverständlich, weil es Menschen gibt, die sich nicht sofort beim ersten Auftauchen von Lady Lyndon in Spa in sie verlieben. Spätestens als Barry seinen Tabakqualm in ihr Antlitz bläst, weiß man doch alles über den Hund.

















(erstveröffentlicht / first published 06.03.2012)

















Donnerstag, 17. Mai 2018

Alfred Schnittke, John Neumeier: Peer Gynt















"To live is to war with trolls / In the vaults of the heart and the mind." - Henrik Ibsen



In Bergmans Film Das siebente Siegel kehrt ein Kreuzritter in die Gefilde seiner nördlichen Heimat zurück, und dort, am Meeresstrand, erwartet ihn der Tod. Der Ritter, Antonius Block, fordert den Tod zu einer Schachpartie heraus, mit der er um Aufschub spielt. Im Angesicht des Todes wird ihm die Sinnlosigkeit seines Lebens bewußt, das ganze Dasein als unbeantwortetes Rufen; der Fragende und Zweifelnde, der in existentialistischer Manier nun die Bedeutung des Augenblicks erkennt, der eine Schale mit frischer Milch und köstlichen Erdbeeren, das Zusammensein mit unverfälschten, unkorrumpierten Menschen im Sonnenuntergang wie eine Erleuchtung erlebt, entlarvt die Ideale seines Lebens als Schein, der in die Irre führte: zehn sinnlose Jahre liegen hinter ihm, eine Kreuzfahrt in das Absurde. Als er zurückkehrt zu seiner Frau, die so geduldig wartete wie Solveig in Peer Gynt, hat er die Partie mit dem Tod bereits verloren.

Sein Diener Jöns ist ein skeptizistischer, zuweilen zynischer, doch den Erniedrigten und Ausgestoßenen stets tatkräftig Schutz und Gerechtigkeit verschaffender Pragmatiker, der kein Gut und Böse kennt; ein Mädchen, das er eben noch vor der Vergewaltigung rettet, macht er im nächsten Augenblick zu seiner Magd. Jöns, Antonius, der Schmied, dessen Frau mit dem Prinzipal einer Schauspielertruppe durchbrennt, die den Grobschlächtigen dann, als das flüchtige Paar gestellt wird, falsch wie eine Schlange wieder betört und den Prinzipal verrät: sie alle holt der Tod, der sie nach seiner Fiedel tanzen läßt. Allein eine Schauspielerfamilie erlebt einen neuen Morgen: Jof, bei dem wie bei Peer Gynt der Übergang von Phantasie zu Schau einer anderen Wirklichkeit fließend ist, Mia und ein kleines Kind - die wahre, reine Liebe: nur in ihr ist Glück, sie allein besiegt Horror und Tod, Sinnlosigkeit und Zweifel. Alles andere ist Sichverlieren im Unerklärlichen und Leeren.

Genau dies erkennt Peer Gynt am Ende seines Lebens, vielleicht auch erst danach. "Was du immer siehst", sagt Mia zu Jof, der die Prozession der Abgeholten beschreibt, so wie er zuvor die Erscheinung der Jungfrau Maria gesehen haben will. "Was du immer siehst." Was gibt es denn zu sehen? Ich liebe dich, das ist alles, was du wissen mußt.

So hätte auch Solveig zu Peer sprechen können. Am Ende ist Solveig blind. Aber ihre Liebe war immer sehend.









The ballet Peer Gynt has already been labeled by some as Alfred Schnittke's masterpiece. Written for American choreographer John Neumeier's adaptation of Ibsen's play, Schnittke's score is a monumental work of will -- a massive score for huge orchestra which Schnittke continued to work on even after his first major stroke in 1985. And as a collective whole, the ballet offers perhaps the best single introduction to Schnittke's music -- to his characteristic sound-world and gestural vocabulary, to his famous "polystylistic" approach, and to his larger aesthetic philosophy.

(...)

Stylistically, Peer Gynt is all over the map. Schnittke pays due homage to Edvard Grieg's famous precedent with the "fakes" of Act II. But on a larger level, Schnittke's ballet also constitutes a tribute to the great ballet-tradition of his own Russian heritage, from Tchaikovsky's Sleeping Beauty and Romeo and Juliet, through Stravinsky's Firebird and Petroushka, to Shostakovich's The Bolt, and especially the particular melodic brilliance of Prokofiev's Romeo and Juliet. Upon this scaffolding Schnittke piles yet more allusive density, from faux-ragtime (on a mis-tuned upright piano reminiscent of Berg's Wozzeck), to ruthless parodies of schlocky Hollywood film scores, to the venerable Russian choral tradition summoned by Peer Gynt's extraordinary Epilogue. Finally, Schnittke's ballet is a tour-de-force of leitmotivic associations worthy of Wagner's music-dramas, its themes returning in countless and perpetual transformations through the very last bars.

As a representation of Schnittke's aesthetic stance, Peer Gynt occupies a special position, bridging the gap between his earlier career and the work he would produce following his 1985 stroke -- after which Schnittke felt everything "must be different." Whereas the Schnittke of the 1970's and early 80's "had the sense that things outside [him]self had a specific crystalline structure," he confessed in 1988 (after finishing Peer Gynt) that "things [were] different: [he] [could] no longer see this crystalline structure, only incessantly shifting, unstable forms. -- Our world seems ... to be a world of illusions, unlimited and unending. There is a realm of shadows in it..."

It is difficult to imagine Schnittke speaking in such terms before writing Peer Gynt; the entire story of Ibsen's original play deals with the search for reality amidst "a world of shadows," in which the greatest evils are distraction and illusion, and the will of self-discovery is constantly threatened by corruption, temptation, triviality, and betrayal.

Seth Brodsky [allmusic.com]









26.10.2010, SPIEGEL ONLINE Forum

Wünschte, ich könnte Euch zu einer Synapsenkonferenz einladen, um 130 Minuten "Peer Gynt" von Alfred Schnittke zu hören.
Nach seinem Schlaganfall 1985, Schnittke war klinisch tot, sprach er von einer grundlegenden Veränderung seines Zeitgefühls, von einer neuen Fähigkeit, "die sich nämlich ausdehnende Zeit zu empfinden." Genau darin muß das Geheimnis seiner "Peer Gynt"-Musik liegen. Wie in Marienbad halt.

02.07.2011, SPIEGEL ONLINE Forum

Alfred Schnittke, der Epilog aus der phantastischen Ballettmusik zu "Peer Gynt", "Aus der Welt / Out of the World". Wenn man die ganze Ballettmusik durchgehört hat, ist man hier bereits komplett durch den Wind, und der Epilog stellt merkwürdige Dinge mit einem an. Die letzten fünf Minuten sind überirdisch. Kopfhörer sinnvoll.








Jürgen Rose, Kostümentwürfe zu Peer Gynt







John Neumeier im Gespräch mit Angela Dauber, 29.12.1988

Es kommt mir vor, als wirke der Moment einer Kreation wie ein Magnet. Er zieht Dinge an, die scheinbar nichts mit der Arbeit zu tun haben, verknüpft Unzusammenhängendes und stellt neue, merkwürdige Beziehungen her, die mich überraschen und faszinieren.

Der erste Kreis, gleichzeitig unser erster Akt, ist noch relativ anekdotisch [...] Er folgt in großen Zügen den ersten drei Akten bei Ibsen, spielt in Norwegen und entwickelt, analog zur realen Handlung, ein ziemlich normales Zeitgefühl, was die Länge der verschiedenen choreographischen Einheiten betrifft. Unser zweiter Akt, der zweite Kreis, ist eigentlich eine Reise in den Wahnsinn. [...] Der zweite Akt läuft im Ballett fast wie im Zeitraffer ab, die verschiedenen Spielorte sind nicht mehr zu unterscheiden, werden durcheinandergewürfelt, die Szenenübergänge fließen ineinander ohne erkennbare Zäsur, das Raum- und Zeitmaß gerät aus den Fugen. [...] Das Ende des dritten Kreises bringt die Erkenntnis: Ich bin nichts anderes als die anderen, und gibt die Antwort auf die Frage: Was bin ich? Ich bin unverwechselbar in den Augen dessen, der mich liebt [...] Das ist die Tür der Erlösung: Weil mich jemand liebt, bin ich nicht nur Durchschnittsmensch. Weil Solveig mich liebt, bin ich Peer. Da beginnt im Ballett der Epilog.

Er ist eine in sich abgeschlossene Einheit. Musikalisch klingen in ihm noch einmal alle Motive auf. [...] Der Epilog führt in einen Bereich, der von Ibsen höchstens berührt, aber nicht betreten wird. [...] Die Idee zu einem abschließenden "endlosen Adagio" kam mir wohl während der Arbeit an "Othello", wo ich zum erstenmal mit einem langen Pas de deux aufgehört habe. Da man Zeit hatte zu schauen, sich auf zwei Menschen zu konzentrieren und einzulassen, entstand ein fast hypnotischer Sog. Das hat mich fasziniert, und ich versuche in "Peer Gynt" etwas Ähnliches, allerdings noch extremer: eine - fast möchte ich sagen - rituelle Beziehung jenseits alles Realen. Der vierte Kreis ist der spirituelle und metaphysische Kern des Stücks. [1]






 Ivan Liska (Peer Gynt), Gigi Hyatt (Solveig), Probenfoto







Alfred Schnittke im Gespräch mit Angela Dauber, 29.04.1987

In John Neumeiers Fassung hat "Peer Gynt" drei reale Ebenen und eine vierte, imaginäre. Der erste Kreis ist Norwegen. Der zweite ist die Welt draußen, Peers ganzes langes Leben, mit all seinen verschiedenen Stationen, die in der Welt des Varietés, der Music Hall, des Films und im Irrenhaus angesiedelt sind, eine Scheinwelt. Peers Rückkehr nach Norwegen ist der dritte Kreis, und danach kommt etwas, das Ibsen andeutet und das wir im Ballett zu zeigen versuchen: Der vierte Kreis. Im realen Leben gibt es ihn nicht. [...] Zwei Worte stehen dazu nur im Libretto, "endloses Adagio", sonst nichts. Mehr kann man nicht sagen, das sagt alles. Was in den ersten drei Kreisen geschah, rollt noch einmal ab, aber man erlebt es auf ganz andere Art. Man betrachtet das Geschehen nicht wie früher von innen, aus dem engen Blickwinkel des Beteiligten, sondern aus einer anderen, allumfassenden Perspektive.

Die Musik klingt im ersten Akt eigentlich noch wie Ballettmusik, auch wenn sie alle stereotypen Formulierungen zu meiden sucht. [...] Der zweite Akt mit seiner Folge von Scheinwelten verlangte geradezu nach Klischees und falscher Regelmäßigkeit, um diese Multi-Media-Welt zu charakterisieren. Das ist ihr Prinzip, und es ist überall dasselbe, auch bei uns in Rußland: Man will einen schönen Betrug schaffen. Die dritte Darstellungsebene kehrt, szenisch wie musikalisch, auf die reale Ebene des ersten Akts zurück, aber alles wirkt ein bißchen befremdlich. Eine sonderbare Welt, in der heimliche Gefahren lauern.

[Zum Epilog:]
Es kam zu Schattenklängen. Diese Schatten haben die Klangdimension erweitert, man nahm die zweite Wand hinter der ersten wahr, ahnte die dritte, vierte, fünfte... Es tat sich ein neuer, irrealer Klangraum auf.
[Der Schattenklang]: Man hört ihn nicht, nein, man hört ihn, aber sehr leise. Wir nehmen ihn nicht bewußt wahr, wir hören ihn unbewußt mit. Die meisten Menschen meinen, die Musik zu verstehen, aber sie wissen gar nicht, wie dieser Eindruck entsteht. Was für ein Klang es ist, kann niemand sagen! Es sind die Schattenklänge, die ihn ausmachen. [1]


Die Figur des Peer Gynt entzieht sich einer endgültigen Deutung, und das macht sie für mich besonders anziehend. Es ist genau wie im Leben: Immer gerät man irgendwie daneben, wenn man einen Menschen zu fassen sucht. Immer bleibt etwas Ungelöstes, Unlösbares. Ich umkreise die Gestalt des Peer in verschiedenen Schichten und Niveaus, in denen seine gesamte Lebensproblematik immer und immer wieder dargestellt wird - drei reale Existenzschichten und eine imaginäre, die aber auch Wirklichkeit werden könnte. - Alfred Schnittke [2]







Ballett von John Neumeier
Musik von Alfred Schnittke
Ausstattung von Jürgen Rose
Uraufführung 01 / 1989

Prolog: Eintritt in die Welt
Erster Akt: Norwegen
Zweiter Akt: Draußen - Scheinwelten
Dritter Akt: Zurück
Epilog: Aus der Welt


Englische Passagen: Exzerpte aus dem Booklet-Essay von Ronald Weitzman, 1994, zur CD: BIS-CD-677/678 - Alfred Schnittke: Peer Gynt - Orchestra of the Royal Opera, Stockholm / Eri Klas.


"Peer Gynt is an enigmatical figure in literature to whom we lack a key: he is even more cryptic than the figure of Faust." These words of Schnittke indicate how important the subject is to him personally.

Peer enters the world and is brought up in Norway; he soars into illusory worlds before he collapses; he then makes a journey home, as much a journey of the spirit as a return to Norway: these are the first three Kreise. The fourth Kreis (the Epilogue) does not exist; but for Schnittke this sphere, which he calls "sound-space" (Klangraum), matters most. "The entire music of the ballet," says Schnittke, "is like a preliminary stage to this last Kreis."









Prologue: Into The World. Before a note of music is heard - that is, for over five minutes - the audience is furnished with X-ray eyes, so as to witness a foetus forming in Åse's womb. Already there are seven "aspects" to this foetus: Neumeier names them Childhood, Flying, The Erotic, Pushy, Aggression, Doubt, Anima. They are represented on stage by seven dancers, the last (Anima) by the dancer of the role of Solveig. To each of these "aspects" Neumeier has choreographed distinguishing leitmotifs-in-movement. (...)
And so, silence gives way to Schnittke's world of sound (Klangwelt), which starts by being girded by a succession of chords. Choreographer and composer have given us their respective interpretations of the "Bøyg", whose invisible, sphinx-like presence will crawl round and about at unexpected moments in time to dictate to Peer Gynt's inner self.








Act I: Norway

Peer and his mother Åse. Åse scolds her lying, ne'er-do-well of a son: she derides his claim that he can ride through the air (though she will also defend his claim before others who would censure him). [...] And so, the trolls stirring within Peer are awaiting the moment to pounce and befuddle him: the music stresses increasingly how equivocal is the bond between Peer and his response towards the feminine.

Peer's Imagination. The somewhat unfocused Klangwelt now becomes distinctive and outwardly assertive. The trolls lurking in the shadow of Peer's soul are no less assertive (...) The theme is infused with the search for - indeed, is an elemental craving for - liberation by way of the feminine (...)
Dance, and physical activity allied to dance, occur frequently in Ibsen's text. The teasing banter between mother and son is the first of such happenings. Åse hoped that her son would find a wife in one Ingrid of neighbouring Haegstad; now that Ingrid is to wed another, Peer is intent on intervening at the celebrations.

Peer at Ingrid's wedding celebration (Dance of the locals). Peer arrives uninvited at the courtyard of Haegstad Farm, taking up his place among the local peasants and mountain farmers as they celebrate Ingrid's marriage to the dimwit, Mads Moen.

Appearance of Solveig and her parents. At the first sight of Solveig (elder daughter of strangers to the local community), the accompanying motif on bells and vibraphone foreshadows another Kreis, indeed, another world altogether, cutting through the salt-of-the-earth festivities.

Pas de deux: Solveig - Peer. A yearning phrase on cor anglais marks the first private encounter between Solveig and Peer. (...) The impossibility of union within this Kreis becomes harrowingly clear with the impassioned statement on strings - for this motif contains those uncontrollable emotions which signal what is causing the tension that tethers Peer to one Kreis while his fancies send him flying elsewhere.

In the mountains with Ingrid. Schnittke's marking Allegretto at this point, with measures changing bar by bar, signals Ingrid's abduction. (...) Between and amidst the astonishing commingling of contrapuntal writing, most of the themes and motifs heard so far are brought together: they envision Peer's dementia to come. Solveig's theme is twisted almost beyond recognition (...)
Yet Peer is incapable of having a single spark of insight into what is now possessing him.
(...) Peer has abandoned Ingrid; and, in a momentary effort to return to his senses, Peer finds that within himself he is confronting the Troll-World. This opens with a theme (...) It is seductive, yet also intentionally fatuous and lacking purpose; and it includes the motif associated with a bizarre Woman clad in Green (in Ibsen, the troll-king's daughter). The whole section has a somnambulistic, spiral-like quality to it (...)

Only when Solveig sets the bells ringing is the trance broken. And it is then that the music symbolizing 'The Bøyg' returns. Is Peer to move straight ahead to Solveig? Or is he to take a circuitous, evasive route, round and about? One side of Peer (who has been outlawed by the community as a result of his abduction of Ingrid) now wants to assert "the good" within himself.

Peer's Solitude. Facing life in the mountains alone, Peer builds his house.

Solveig comes to Peer. This is the emontional climax of the act. It is not a transformation, but "shadows" the pas de deux heard earlier. The good that Peer would want to do, the steadiness that one side of him would wish to acquire, another side of him chooses to reject. The funeral tread in low strings stresses the essentially tragic implication that what this man and woman mean to each other is not to be realized in the present Kreis.

Transition: The Woman in Green. It is the troll-king's daughter (now accompanied by the child she has supposedly had by Peer) who comprehends Peer with devastatingly accurate, mirror-like mimicry, and she mercilessly ridicules his yearning for Solveig. (...) In addition to Solveig's theme being made mock of, the swaying chords now appear distorted (...) Then, in the strings, just as Peer could be just about to sign away his soul, 'Bøyg' chords are heard, and Peer, filled with a sense of stupefaction, deserts Solveig and transports himself to the side of his dying mother.

Åse's Death. A chill wind blows through Åse's theme (...) after having fled to his mother's side, and having closed her eyes when she has breathed her last, Peer sets out towards a new life filled with adventure (...) With a tremendous arc-like symphonic sweep, we are brought within thirteen bars of the close of Act I. Then midnight strikes; and the act ends with the damnatory, slicing plunge of a released guillotine blade, leaving us in no doubt to where Peer's choice is taking him.








Act II: Out in the World - Illusions

Schnittke has commented on how this act lends itself to the highlighting of the cliché. Shrewdly he pares down to barest essentials each musical motif, and this in turn gives to the act a menacing, inexorable unity.






As we bathe in the simple, sweet Andantino theme to which the Overture to Act II of Peer Gynt opens, Schnittke gives us one of his many tunes which, with embarrassing perfection, calls up the idiom of another composer. Schnittke, though, is neither imitating nor parodying, nor is he stealing: he is here both paying genuine tribute to, while at the same time deliberately "faking" Grieg - fälschen, Schnittke's own choice of verb. (...) The composer paints a rosy picture, thus forewarning us that deception lies at the heart of worlds that exist only within one's own mind. The orchestration of the pastoral theme thickens, suddenly growing very chromatic (...) the chaotic central section, where we hear motivic material indicative of Peer's relation to the troll-world.

Auditions. In Ibsen, Peer sets forth for Africa, while in Neumeier's ballet Peer is intent on realizing to the full his freedom of choice by fanning his whims of fancy and entering the world of film. He is intent not only on becoming a star, but becoming a star of stars. (...) We join Peer as he prepares to audition. An upright piano, ("slightly out of tune" Schnittke specified when consulted before the recording), plays through a ragtime polka in the style of Scott Joplin (...) 'Bøyg' chords quietly shadowing the piano (...)

With the anticipated excitement of a circus event, a sustained drum-roll paves the way to what in the score is entitled Tap Quartet (and which Neumeier then choreographed as a Rainbow Sextet).

A second drum-roll announces Peer as Slavedealer. The rhythmic propulsion underlies a semiquaver theme, which is but a paired down, frantic "re-run" of Peer euphorically acting out his passion.

Scene and Opening Night Party. After the opening piano solo, the music of the troll-world reappears, exhibitionistic in its contrapuntal meandering. At the peak of this swirl, three chords glare out - the first two lofty, for Peer is indeed now about to realize his ambition to become Emperor of the World. The third chord exposes Peer's true state of mind. The obtuse build-up to the Great Movie, starring Peer Gynt, complete with piano introductions, is stretched out.

Emperor of the World. If there is something of the Hollywood epic about the big tune, the theme also has a distinctly noble demeanour about it. (...) There is an intermingling of the motifs associated with the feminine, and a vying between those of the Woman in Green and of the Solveig-Peer pas de deux. Threading its way through all this, but at the same time wholly split off from it, is a string obbligato passage - an intrinsic lack of navigation is now poised to take control.

Peer's dance with the whip. The semiquaver motiv of the Slavedealer episode returns, rhythmic obsessiveness reaching a new level.

Solveig's Dance. While Ibsen's play casts a glimpse at Solveig patiently waiting back home in Norway, Schnittke's music suddenly pitches straight into the different orbit Solveig inhabits. The powerful organ solo (...) plays only the Solveig features of the Act I pas de deux. Richard Traub remarks that "the totally alien Klangwelt of the organ suggests Solveig and Peer now inhabit entirely different Kreise; Peer is hermetically sealed in his, and he cannot communicate with her, even if he may 'see' her in his mind. Her countenance now is that of a stiff religious icon, a purely symbol-like form evoking another, 'truer' world beyond. The organ's intense but expressionless, flat two-dimensional quality captures this (...)" (Neumeier has both Solveig and Peer's dead mother glide across the stage at this moment.) From the depths of Peer's soul a theme wells up in the strings, alongside the swaying chords, and with a horrifying inevitability throws Peer into his Mad Dance.
The possessed world of Peer's wilder emotions sounds with increased distortion and a disarray calculated by Schnittke with the greatest care. That world has now fossilized into a crazed ritualistic dance. The sudden interruption by 'Bøyg' music offsets in Peer's mind the vision of the waiting Solveig.

Peer's coronation. Richard Traub comments: "Peer has truly become emperor of his exclusively private world; now even the Bøyg's image seems to waver and flicker."

Finale. In total contrast to the close of the previous act, all Peer's positive aspirations capsize in the huge symphonic coda of Act II. Neumeier brings on stage with Peer every one of his "aspects". The "Emperor" motif howls, but before long Peer's screams are lost amidst those of his asylum inmates. They are none other than his own "aspects", who pull fast the straps of the straitjacket into which he has put himself. His soul gapes into the abyss of total shipwreck.









Act III: Return

In an interview he gave in Hamburg in 1987, Schnittke says of this third Kreis that it is "a peculiar world where dangers lurk. Perception has become sleepy. To all appearances, everything musically is the same as before, yet the music has undergone transformations."








The opening of Act III (Mesto) (...) in its sheer desolateness (...) Schnittke's cor anglais theme, its mourning tone buttressed by a bell that doubles every note, harbours the motif evoking both the dying Åse and the megalomaniacal Peer riding through the air. Though the ageing Peer, now rowing back to Norway and clad in grey, has begun the process of being a penitent (in the Hebrew of the Old Testament the words "to return" and "to repent" are synonymous), this very process will not be without Peer kicking hard against the goads. The cell associated with the Woman in Green now takes on an overwhelming sadness, as does the immediately following theme played by two oboes.

Two horns invoke the Bøyg (Andante) (...) Though Schnittke has woven into his scheme of motifs an astonishing range of imaginative discipline and interplay throughout the ballet, he now unexpectedly introduces totally fresh material which is not in any explicit way related to his thematic and structural scheme. (...) No less gripping is the swell in low strings of the Woman in Green's theme, now a chilling shudder (...) Idea after idea, motif after motif, shadow each other in this act in a domain different from anything heard hitherto. We need to absorb this musical observation of "shadowing" into our very beings, so as to be permitted to appreciate the process of unreeling that has now begun in Peer's mind.

Peer's memories. The lid is taken off Peer's chimeric condition. Yet this detonation by no means leads straight to a grasping of the "whole truth". (In the choreography, Peer's boat capsizes at this moment.) The music instructs us that there will be a series of such shocks. Jung insisted that the sluice-gates of the mind must be opened only bit by bit if total destruction is not to be the result. This is precisely what Schnittke does. The blows, while terrifying in themselves, are but blows that accompany Peer's peeling and unwinding of the layers of delusion within himself.

Ingrid's burial. Ibsen does not mention Ingrid by name but merely puts into the mouth of a mourner: "The bride, poor thing, is food for worms." (...) a motto burgeoning from just three rising notes, as Peer witnesses the funeral cortège. Even though we have already been shaken by what has so far been unravelled, the introduction of this motif (...) at this moment adds to what is already overpowering in its impact.

Scene with Solveig (Largo). The Act I pas de deux is heard complete, its intrinsic melancholy intensified by its being pitched lower. (...) Solveig has been waiting - a waiting immeasurable by time. That Peer is quite incapable of coping with the significance of such preternatural waiting in this Kreis becomes apparent as the swaying chords now accelerate. Material from the troll-world returns (...) Peer's quickened soul is filled with renewed anxiety and dread.

Peer surrounded by his "aspects". Pursuing Peer is the incessantly wrong identification within his mind as to who's who among the other women.

Song of the Wind. The music of Peer and his mother, turned upside down and now in whole tone, not half tone, steps.

The Onion. The germ evoking the elemental power of the feminine is now wrapped in a haze. There is an unravelling of the "Bøyg" chord - that is, as Peer allows more and more layers to be peeled away, Peer finds nothing at all at the core of his being.

Despair and escape. The music allied to the Woman in Green again bewitches Peer's mind. In brass and strings the motifs of Peer out of control are again in the ascendant.

The tension he feels within any orbit of "reality" is altogether too much: the moment has come for his Deliverance.






Ivan Liska, Gigi Hyatt




Epilogue: Out of the World






An uncanny gift haunting Schnittke is his straining to hear utterances that simply are not audible in the visible world. (...) time and again in many of his orchestral works he hovers on the edge of two worlds. (...) In Peer Gynt Schnittke travels further along this uncharted path than in any other work of his up to this time. One might well ask: had Neumeier not invited Schnittke to collaborate with him on Peer, when would Schnittke have allowed himself to explore this far?

When it came to the Epilogue, Neumeier signalled to Schnittke this code: "Endless Adagio". The composer suffered his stroke before starting on this.
(...) Schnittke and Neumeier spell out what Ibsen barely hints at. Solveig, now blind, searches for and finds Peer in this fourth Kreis. A pre-recorded a cappella chorus, whose theme is treated as an unending passacaglia, transfixes us. The chorus is always just audible behind the shifting tonalities of the themes we will recognize from previous Kreise, each theme thereby transformed. Schnittke calls this extension of sounds "the sounds of shadows" (Schattenklänge), sounds "we don't perceive consciously but listen in on unawares".

In this purgatorial Kreis, terrible dangers continue to lurk. But, with Solveig now permanently by Peer's side, a true apotheosis, if not inevitable, becomes a genuine possibility. On stage, Solveig removes Peer's clothes, then Peer removes Solveig's, before being joined by Peer's other "aspects", by his mother - by everybody. All advance, naked, before the Judgment-seat. Yet, at the height of the most searing climax of the ballet, it is the motif earlier associated with the troll-world, and all this might imply, that is roared out last. Only after this do the hidden voices, now exposed, fade away little by little from the realm of audibility.











Marie Luise Kaschnitz, 1971
Die Frage nach dem wahren Ich eines Menschen ist in Ibsens Drama "Peer Gynt" die Rätselfrage von Anfang an. Peer Gynt, "wie ihn Gott gemeint und verstanden hat", kommt in dem Stück kaum je zum Vorschein, er lebt nur im Herzen der Mutter und im Herzen der unschuldigen Solveig [...] In den Augen der Welt ist Peer lügenhaft und eitel, ruhmsüchtig und hart. Seine Lebensgeschichte ist eine Kette von Irrtümern und Mißverständnissen, von Wünschen, deren Erfüllung nicht befriedigt, und Abenteuern, die nichts zurücklassen als Reue und Scham. Trotzdem hängt Peer Gynt an seinem so unvollkommenen Ich mehr als mancher, dem ein bescheidenes Streben beizeiten die Richtung wies. Er hängt an seiner Phantasie, die ihm immer wieder die berauschendsten Bilder vorspiegelt, an seiner Liebeskraft, die ihm die Welt verschönt, an seinen klaren Menschenaugen, die er sich auch um den Preis seines Lebens von den Trollen nicht scheel machen lassen will.

Julius Bab, um 1922
Die meisten Gestalten sind ja nur Schatten von Peer Gynts Wesen, gespenstisch verdichtete Stimmen seines Innern - der Dovre-Alte so gut wie der große Krumme, der fremde Passagier und der Knopfgießer; selbst die Mutter ist nicht viel mehr als sein Echo; die Grüne und Anitra kaum unterschieden als ein Spuk seiner Sinnlichkeit, und eigentlich nur in Solveig überwächst Wirklichkeit seinen eigenen Traum, bekommt das Du Gestalt.

Georg Groddeck, 1927
Er hat sein Leben lang nichts andres getan als träumen. Und er braucht nicht einmal zu schlafen, er träumt am Tage, er träumt unablässig [...] Er träumt, aber er weiß ganz genau, daß er träumt und phantasiert. Die Menschen - seine eigne Mutter voran, das erste Wort, das auf der Bühne gesprochen wird, kommt aus ihrem Munde, sie ruft ihm zu: "Du lügst!" -, die Menschen schelten ihn Lügner, Lügenprinz; wie dumm das doch ist ihm gegenüber, der so wahrhaft ist. [...] Es gibt eine andere Realität, und auch das lehrt Ibsens "Peer Gynt". Peer erlebt seine Träume, unmögliche, unreale Träume, so real, daß sie wirklich werden. Er kommt wirklich ins Rondeschloß, er soll wirklich Troll werden, er spricht wirklich mit dem fremden Passagier, dem öden Moralisten, über seinen Kadaver, er begegnet dem Krummen, er verhandelt mit dem Knopfgießer, er betrügt den Teufel [...]

Wilhelm Reich, 1942
Ibsen hatte einfach die Misere undurchschnittlicher Menschen geschildert. [...] Die Peer Gynts sind eine Gefahr für die Seelenruhe. [...] Peer Gynt wird den Kragen brechen mit seinem Aberwitz. [...] Er hält zu seinen Idealen. Aber die Welt kennt nur Business. Alles andere ist komischer Spleen. [...] Peer Gynt aber ist ein Träumer, der nichts Gescheites gelernt hat. Er will die Welt verändern und trägt sie in sich. [1]






Die Zeit, No. 05
Heinz Josef Herbort
27.01.1989, S. 60

Leben jenseits aller egozentrischen Träume

Wenn der gealterte Peer Gynt von seiner Reise durch die Welt und durch sein Ich an die Stätten seiner Jugend zurückkehrt, läßt Henrik Ibsen ihn eine Zwiebel auseinanderbrechen und dabei erkennen, daß sein Leben kaum mehr war als diese Haut-Schalen: ohne Kern, ohne Charakter — lauter Episoden. Und so nimmt Solveig den Kopf des großen alten Kindes in ihren Schoß: "Schlafe und träume". Die Welt als der nur zur Vorstellung gewordene Wille? Das Leben: wirklich nur ein Traum?

Wenn dieser Peer Gynt in John Neumeiers neuem abendfüllenden (und offenbar einen Jahrzehnte-Traum verwirklichenden, vielleicht sogar einen Lebensabschnitt resümierenden) Ballett aus einer Superkarriere aussteigt und, ein grauer Mann in grauem Trenchcoat und Hut, in einem grauen Boot sich zurückrudert an die Stätten seiner Jugend, lösen sich aus der Kulisse immer neue Peer Gynts, blicken auf eine Armbanduhr und formieren sich zu einer in hektischer Mechanik gestikulierenden Masse. Der Zweidutzend-Jedermann Peer weiß: Die Zeit läuft ab, es ist Eile geboten.

Aber dann bricht die wilde Motorik zusammen — und von der Kindheits-Schaukel im Haus im Gebirge löst sich die altersblinde Solveig, ertastet sich den zusammengesunkenen Peer, entkleidet den Grauen seiner Alltags-Utensilien, breitet diese sorgfältig auf den Boden aus: Da liegt der alte Adam, nur noch eine unscheinbare Fläche, eine farblose Hülle, ein Umriß, ein Fleck. Der eigentliche Mensch aber, nackt und bloß zwar, aber mit neuer Kraft und Schönheit, findet die Person, die ihn und die er liebt. Zwar versuchen sie noch einmal kurz, rückwärts zu laufen, schnell und im Kreis, als könnten sie Vergangenes zurückgewinnen, Versäumtes einholen, verpaßte Chancen doch noch nutzen — aber dann fällt auch von ihnen die Zeit ab, und in einem schier unaufhörlichen Strom weicher Bewegungen, Gänge, Gesten, Blicke tauchen sie ein in die große Schar derer, die in der Zeitlosigkeit sich und den / die Andere(n) gefunden haben. Die Überwindung aller Vorstellungen und allen egozentrischen Wollens durch die Liebe, das Leben jenseits aller Träumerei, aber auch frei von zeitlichen Zwängen, Aktualitäts-Neurosen, politischen / sozialen / ideologischen Querelen in der Zuwendung zu diesem anderen Menschen: John Neumeier als Utopist, der seine Endstation Sehnsucht nicht mehr nur als erotische Extravaganz (1983) vor Augen hat, sondern in der Mitmenschlichkeit einen neuen Lebenssinn erkennt?

Zuvor freilich muß dieser alte Adam sein Leben leben und seine Welt zu erfahren versuchen: Aase, die Mutter (Anna Grabka in erhabener Strenge ...), entwickelt aus sich sieben "Aspekte" Peers, sammelt sie in ihrem Schoß und gebiert den heldenhaften Träumer — ein starkes Bild von großer Dichte und tiefer Empfindsamkeit. Peer: das ist der außerordentlich athletische, souverän kraftvolle, vehemente und impulsive, aber eben auch ungemein sensible, zarte, selbst in kleinsten Bewegungen intensive und beherrschte Ivan Liska, der von sich und seiner Rolle wissen ließ, daß er einen "Phantasten und Pragmatiker" tanze, der aber unter aller Skrupellosigkeit den gewaltigen Ernst, das Leben- und Lernen-Wollen erkennen läßt und uns die Frage nicht erspart, ob nicht doch das Sein das Bewußtsein schafft.

Sein Peer Gynt durchlebt seine Episoden, und die "Aspekte" begleiten ihn wie ein jeweiliges zweites Ich: die rigorose Ellbogen-Mentalität der Kindheit, die im Erstaunen sich selber bestärkende erste Wahrnehmung zärtlicher Gefühle zu der kindhaft an Mutters Rockzipfel hängenden Solveig und deren scheue, allmählich bewußter werdende Reaktion auf seine innige wie stürmische Werbung. Gigi Hyatt steigert diese Rolle aus der tumben Naivität und trotzigen Infantilität heraus über ein Erwachensmoment in die frühe Reife der den Geliebten Suchenden, weiter in die milde Ruhe der überzeugt Hoffenden bis in die abgeklärte Welt-Distanz jener Frau, deren Goethesches Ewig Weibliches weit weniger uns anzieht als ihre wissende Menschlichkeit und ihre allen Feminismus bis auf den letzten Grund skeptisch befragende Güte. Das alter ego begleitet weiter den wilden Trotz des Verlachten und Ausgestoßenen, der brutal die puppenhafte Braut entführt und ebenso brutal schnell wieder verläßt; den steilen Aufstieg eines Show-Stars vom talentierten, aber auch glückbegünstigten, auf jeden Fall skrupellosen Gruppentänzer zum umschwärmten Titelhelden hollywoodnaher Celluloid-Kunst und routinierten Partylöwen (...); schließlich den letzten Brachialakt des kaltblütig sein Überleben erkämpfenden Seereisenden.

In Jürgen Roses erfreulich konzentrierten, in Farben und großen Formen und mit ganz wenigen Versatzstücken auf Wesentliches zurückgehenden und dadurch aussagekräftigen Bildern erleben wir diese Episoden als poetische Spiegelbilder, als Chiffren einer individualisierten Menschheits-Alltäglichkeit. Vom dritten, dem "Jedermann"-Akt bis in den transphysischen Epilog freilich verwandelt sich die Szene in ein von Zeit und Raum enthobenes Irgendwo: Was jetzt verhandelt wird, geht an das nicht mehr Definierbare, an unser Innerstes und Wesentliches.

Getanzt wird auf die in diesem Rahmen uraufgeführte Musik eines Komponisten, der als deutschstämmiger Sowjetrusse einen auf den ersten Blick epigonalen Take-and-mix-Stil präsentiert, der aber seine — der Begriff ist inzwischen gefestigt — "Polystilistik" als sein ästhetisches Credo vertritt und verteidigt auf eine überzeugende Weise: Sie soll die realen wie idealen Phänomene aus wechselnden Blickwinkeln oder von unterschiedlichen historischen Standpunkten her betrachten. Und so finden sich in der "Peer Gynt"-Musik Alfred Schnittkes fast wie selbstverständlich nebeneinander die Techniken von vier Jahrhunderten; glaubt der Hörer Zitate zu hören, die aber nur eine Art "im Stile von" bedeuten; wiegt er sich noch im Bewußtsein, etwas begriffen zu haben — und ist bereits wieder verunsichert; oder gewinnt die beabsichtigte Distanz.

All solches indes begibt sich nur in den eigentlichen Erzähl-Akten. Noch zu Aases Tod hatte Schnittke Tschaikowskijs Sentiment beschworen (und verfremdend weitergeführt) — und plötzlich wird, von einer Band-Einspielung in eine weltferne Distanz verlegt, ein Chorklang hörbar, der scheinbar Debussy mit Repetitivem à la Phil Glass verbindet, ein harmonisches Nirwana, ein impressionistisches Seelen-Universum. Aber es zeigt sich, daß hier wieder nur der Geist einer Epoche beschworen wurde, daß in der Aufhebung und Ablösung der zuvor so dominanten rhythmischen Parameter durch ein jetzt metrisches Fließen ein klangliches Äquivalent zu einer Erfahrung versucht wurde, die vielleicht nur in einer Extremsituation zu machen ist: dieses "Beinahe schon". Daß Alfred Schnittke diesen Blick durch eine halb geöffnete Tür während der Arbeit an der Peer Gynt-Partitur tat, wissen wir. Daß John Neumeier aus einer intellektuell künstlerischen Vision ein ästhetisches Prinzip ableiten und in imaginativer Kraft ein Werkkonzept gewinnen und mit seinem fabelhaften Ensemble realisieren konnte, hebt diesen "Peer Gynt" weit aus dem Rahmen eines illustrativen oder formalästhetischen Tanzabends auf die Ebene eines großen Welttheaters. 






Hamburger Morgenpost, 24. Januar 1989

Ivan Liska leistet in der Hauptpartie Unglaubliches an körperlicher und geistiger Konzentration und Kraft. Solveig, die unbeirrt auf Peer wartet und den Rastlosen schließlich mit ihrer geduldigen Liebe erlöst, wird von Gigi Hyatt mit verzaubernder Innigkeit und bewegender Schlichtheit getanzt.






Nach der Uraufführung

Lieber John, ich danke Dir für alles und vor allem für die wunderbare Choreographie zu Peer Gynt. Es ist etwas ganz Neuartiges, in all seiner Vielschichtigkeit noch nicht Dagewesenes und darum noch in vollem Maße nicht Verstandenes. Aber das bedeutet ein jahrelanges Eintreten von Sinn und Klarheit in diese ungewöhnliche Situation und den ganzen Irrsinn der schematischen Einschätzungen (denn die Kritik begeht immer denselben Fehler - wenn etwas wirklich Neues entsteht, spürt sie es, aber gleichzeitig wird sie durch ihre eigene Unvollkommenheit gereizt zu falsch-kompetenten Aussagen). Wir reisen morgen ab und hoffen, das durch Dich entstandene Wunder noch irgendwann zu erleben. Erlaube mir, die Partitur von Peer Gynt Dir zu widmen - wenn sie irgendwie dem Sinn des von Dir Gemachten entspricht. Ich hoffe, wir bleiben in Kontakt und danke Dir für alles Gute, das durch Dich entstand - auch für mich. - Beste Grüße von Irina und Alfred Schnittke [2]







Aus John Neumeiers Notizen zu "Peer Gynt"

"Solveig kommt zu Peer: die ehrlichen Klänge Solveigs - Pas de deux (6 Min.) beginnt stotternd, stolpernd: Stops ... Anfänge ... Stops ... wieder Anfänge ... / als ob sie so wichtige Dinge zu sagen hat, daß sie in keinem einzigen Wort lügen möchte, nichts Unwichtiges, nichts Unehrliches, Überflüssiges formulieren will / keine 'Artikulation' für sich, nur die pure, die reine Nachricht ihrer Liebe". [2]






Roland Langer in "Internationales Ballett-Theater"

Optische und akustische Impressionen überfluten die Sinne, gehen eindringlich unter die Haut wie kaum ein anderes Ballett der letzten Jahre.






Le Figaro über das Peer Gynt-Gastspiel in Paris, Februar 1990

John Neumeiers "Peer Gynt"' besteht aus drei Balletten. In sehr harmonischer Sprache illustriert das Erste im Norwegen Ibsens die Legende von der Persönlichkeit, die immer auf der Suche ist. Das Zweite (...) verlagert die Geschichte in die Welt von Music-Hall und amerikanischem Kino. Das Dritte, von magischem Zauber, führt den Zuschauer ins Jenseits, an die Schwelle des Todes, in eine Welt, wo die Wesen sich in erhabener Liebe für alle Ewigkeit vereinen. Das ganze ist noch vielschichtiger, und der Choreograph bereichert die Rolle des Peer um sieben Aspekte, die die verschiedenen Facetten des Menschen symbolisieren. Die Bilder sind stark und von großer plastischer Schönheit, aber was uns vor allem berührt, ist die Zärtlichkeit, die durch die Gesten zu ahnen ist (...) diese Feinheit der Gefühle John Neumeiers wird hervorragend von zwei hochsensiblen Tänzerinnen ausgedrückt: Anna Grabka (Aase) und Gigi Hyatt (Solveig).
Peer Gynt wird von dem herrlichen Ivan Liska verkörpert. Eine lebendige Skulptur, die mit wunderbarer Natürlichkeit alle Widersprüche des Helden vereint und gleichzeitig die Frische, die Ungezwungenheit, die Kraft und auch die Tiefe der Figur besitzt.





France-Soir

John Neumeier ist einer der wenigen Vier-Sterne-Choreographen. Sein "Peer Gynt", den er zum erstenmal außerhalb Hamburgs zeigt, ist ein absolutes Meisterwerk.







30.1.1990

"Peer Gynt? Das soll ja so anstrengend sein" – zwei Geschäftsleute, es auf den Punkt bringend.
Wir hingegen schreiben mit Kreide auf die bewußte Stufe: "No. 19! You're in!"
Roy Wierzbicki ("You're out!"), heute eine langbeinige Corps-de-Ballet-Tänzerin mit "Ellen Kessler, auf Wiedersehen!" verabschiedend.
















[1] Programmheft zur Uraufführung "Peer Gynt", Ballett von John Neumeier, Musik von Alfred Schnittke, Hamburgische Staatsoper, 22. Januar 1989

[2] Zwanzig Jahre John Neumeier und das Hamburg Ballett 1973 - 1993, Hamburg 1993, S. 170 ff.















(erstveröffentlicht / first published 10.02.2012)