Rest in Peace, Ray.







Antirat zieht um:
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Donnerstag, 12. Juli 2018

Žižek / Kafka - Phantasmatic Support






 
 
 
SPIEGEL ONLINE Forum 

"Das literarische Orchester - spielen Sie mit!" 

November 2011
 
 
 
 
 
Jörn Bünning:
 
"Illusion" klingt im Deutschen stets nach Betrug und Täuschung, die sogleich mit einer gehörigen Portion "Realität" bestraft gehört. Wenn gutmeinende Freunde auf meine "Illusionen" zu sprechen kommen, dann doch stets mit dem Rat, sich davon unverzüglich zu befreien und mutig den ungeschminkten Tatsachen ins Auge zu blicken. Wen wundert's, dass Hauptmann trotz seines Plädoyers für den Angeklagten "Illusion" letztlich auf verminderte Schuldfähigkeit setzt: als versöhnender Ehestifter zerstrittener Eheleute. Doch hat die Illusion den Vorwurf der Kuppelei von "Wahrheit" mit "Lüge" verdient? Ist der Kern der Illusion tatsächlich die Verdauungshilfe zur Wahrheit?

Ein gern verwendeter, doch ebenso auf Abwege führender Begriff ist die "Projektion" (in der Psychonanalyse). Indem er in den anderen hineinschaut, entdeckt der Mensch sich selbst. Doch geht es hier vor allem um Hässlichkeiten, die wir nicht bereit sind, an uns wahrzunehmen, selten um nette Dinge, die uns das Leben verschönern.

Für mein Verständnis gibt es aber noch einen anderen Begriff, der die Tücken der beiden anderen umschifft: die Imagination. Gemeinhin als ein Vermögen verstanden, sich (auch ohne äußere Sinneseindrücke) Bilder aus dem Inneren abzurufen, beinhaltet diese Fähigkeit noch viel mehr, nämlich das Hineinsehenkönnen von Inhalten in die Wahrnehmung, Dinge zu ergänzen, die sich objektiv nicht feststellen lassen, durch die sich aber ihre Bedeutung für den Betrachter erst erschließt. Dabei geht es um etwas, das uns in den "Raumabgründen des Weltalls" jede Menge Wärme spendet, wenn wir auch bisweilen unter der imaginierten Hitze zu leiden haben, sobald die Dinge uns hässlich erscheinen.
 
 
 
 
 
Die Krähen behaupten / Christian Erdmann:
 
Sehr schön. Die Allmacht der Imagination gliedert auch den Raum der Erfahrung permanent. Das ist mehr als "Hineinsehenkönnen", das geschieht immer. Interessant ist doch, warum Menschen so allergisch auf die Information reagieren, daß sie immer mit einem "phantasmatic support" unterwegs sind, wie der verrückte Žižek das mal nannte. 
 
 
 
 
 
Jörn Bünning: 
 
Die Krähen werden den Himmel schon nicht zerstören
 
Nun, diese Krähenschrift ist mir doch seltsam vertraut, auch Slavoj Žižek ist mir kein ganz Unbekannter, selbst wenn ich seine Texte 2-3mal und mit großer Aufmerksamkeit und Vorsicht lese, vor allem, wenn er sich auch noch auf Lacan bezieht.

Aber es stimmt schon: Ohne den "phantasmatic support" funktioniert keine Erotik. Imagination ist der Schlüssel zur Wahrnehmung, der Weg zu den Empfindungen und damit zur inneren Wahrheit. Wie auch bei guter Musik, z.B. "A Secret Wish".
;)
 
 
 
 
 
Die Krähen behaupten / Christian Erdmann:

"Die Welt, die uns etwas angeht, ist falsch, d.h. ist kein Tatbestand, sondern eine Ausdichtung und Rundung über einer mageren Summe von Beobachtungen." - Nietzsche. Daß es kein Erfahrungsmaterial ohne "Ausdichtung und Rundung" gibt, meinte vermutlich auch Kant, als er das "Ding an sich" in die Tonne warf.
Guter Musikgeschmack, Herr Bünning. :)
 
 
 
 
 
Jörn Bünning: 
 
"Kein Erfahrungsmaterial ohne Ausdichtung und Rundung" ist gut gesagt - es gibt ja noch nicht einmal ein Begreifen ohne Interpretation, die eigentlich nur aus Imagination besteht. Darüber hatte sich Kant mit dem Philosophen David Hume seinerzeit gestritten: Der schottische Rationalist betonte das Primat der Wahrnehmung für alle geistigen Vorgänge im Menschen. Demgegenüber beschrieb Kant das (apriorische) Vorhandensein geistiger Erkenntnisstrukturen, die nicht aus der Wahrnehmung ableitbar sind, diese aber moderieren.

Dazu nur zwei kleine Beispiele:
Auch Hume musste letztlich einräumen, dass Kausalitäten sich nicht direkt beobachten lassen. Sie werden vielmehr bei einer Ereignisabfolge intuitiv "imaginiert", sofern die Ereignisse in ausreichend enger räumlicher und zeitlicher Abfolge auftreten.

Ein anderes Beispiel ist die Imagination von Bewegungen:
Zwei benachbarte Lämpchen blinken abwechselnd - das Licht "springt" dann scheinbar zwischen beiden hin und her. Dieser Eindruck ist so zwingend, dass er sich auch gegen besseres Wissen durchsetzt.

Doch hat auch Hume, vom Standpunkt der Evolution betrachtet, nicht unrecht. Die Kant'schen "Presets" unserer menschlichen Wahrnehmung sind schließlich selbst das Ergebnis einer langen Schulung des Lebens auf diesem Planeten und es hat lange gedauert, bis die Bedeutung ansatzweise in die Wahrnehmung hineingefunden hat.

Ohne Imagination wäre jede Wahrnehmung ohne Verstehen, Schönheit würde es nicht geben, Musik eine komplexe Folge von Geräuschen, was wohl schade wäre, allein schon wegen Mark Lanegan. ;)
 
 
 
 
 
Die Krähen behaupten / Christian Erdmann:

Zwei Facetten:
Erstens, die erkenntnistheoretische, das Paradox, daß unser Wahrnehmungsapparat uns
Weltbeschaffenheit vermittelt, die wir aber nicht objektiv beschreiben können, weil wir eben den Wahrnehmungsapparat haben, den wir haben. Nur ein verschwindend kleiner Teil der Wirklichkeit passiert die Pforte unserer Sinne. Unsere Wahrnehmungsorgane funktionieren, indem sie vorhandene Information reduzieren. Gerade weil wir so avanciert sind, wissen wir, daß nur ein naiver Realismus noch meint, daß die Dinge so sind, wie wir sie wahrnehmen. Die Auffassung von Wahrnehmung als einer Registration des "Gegebenen" ist überholt. "If the doors of perception were cleansed every thing would appear to man as it is, infinite." Sie sind aber nicht cleansed, und "infinite" ist auch nur ein Wort: auch Sprache als Organisator der Wirklichkeit beeinflußt unsere Wahrnehmung.

Zweitens, "phantasmatic support", der produktive Anteil der Einbildungskraft an der Wahrnehmung, der Anteil der Imagination und der Projektion an der Schönheit; an allem. Am Beispiel der Büste der Nofretete hat mal jemand dargestellt, wie der Vorstellung von Schönheit ein umfassender Prozeß des Ausschließens zugrundelag, wie ihr Antlitz aus dem Chaos (der Natur) herausgemeißelt ist. Ein Prozeß, der folgerichtig fortsetzt, daß Beobachtung ohnehin Auswahl ist, und in dem die Reduktion wiederum mit dem eigenen kreativen Überschuß versetzt wird.

Žižek hatte ja ein kurioses Beispiel für "phantasmatic support" - italienische Männer, die es angeblich lieben, wenn ihnen die Frau beim Sex Obszönitäten ins Ohr flüstert, bevorzugt über das, was sie mit einem anderen Mann getan hat. Apart from that, ist dies einfach von Anfang an die Art und Weise, wie wir unsere Lebenswelt gestalten. In der Wahrnehmung verleihen wir. Sehen heißt Hineinsehen. Wir agieren eh von Anfang an so, als gebe es keine uninterpretierbaren Tatsachen, wir reichern jedes Erleben mit unserer Phantasie an, schießen durch imaginäre Ordnungen, ersetzen Mythen durch Mythen.

Lese gerade die Kafka-Biographie von Peter-André Alt. Erster Satz: "Franz Kafkas Wirklichkeit war ein weitläufiger Raum der Einbildungskraft." Gemeint ist tatsächlich, daß Kafka bewußt den Raum der Erfahrung wie eine Traumlandschaft gliedert, daß er etwa seine Furcht vor dem Vater durchaus obsessiv kultiviert, weil sie zu dem Selbstbild gehört, das Bedingung seiner schriftstellerischen Existenz ist, daß ihm sein Schreiben selbst die Erfahrungswelt in einen Raum verwandelt, in dem Phantasie und Realität nicht mehr getrennt werden können. Im "großen Schachspiel" des Lebens, erklärt Kafka, sei er "der Bauer des Bauern, also eine Figur, die es nicht gibt". Bei aller realen Furcht und Einsamkeit, die er erfahren haben mag, spürt er früh, daß er die Erfahrungslandschaft seines Alltags in Zonen verwandeln muß, wo er die Kunst der Beobachtung unbefangen praktizieren kann, und sie gegen die ihn umgebende Gemeinschaft verteidigen muß. Bin noch nicht weit mit dem Buch, aber so etwa der Tenor der ersten Kapitel, der letztlich auch eine Weise des "phantasmatic support" beschreibt.
 
 
 
 
 
Jörn Bünning: 

Vorsicht!
Ich hoffe, Du weißt, worauf der sich einlässt, der seine Dämonen füttert und seine Wirklichkeit gegen eine soziale Umgebung verteidigt. Kafka war psychisch isoliert und so fruchtbar dieser Boden für seine künstlerische Gestaltung war, so furchtbar litt er zugleich unter den Dämonen seines phantasmatic support, stets in Gefahr die Kontrolle über den letzten Bauern vollends zu verlieren.

Einen Großteil ihrer Zeit ver(sch)wendet die menschliche Spezies dazu, sich einer gemeinsamen - "der richtigen" - Realität zu versichern, ihren phantasmatic support nach Kräften zu domestizieren, eine gewaltige kulturelle Leistung, die aber selbst größeren und sog. "aufgeklärten" Gesellschaften nur zeitweise und unter größten Mühen gelingt. Die großen Massenhysterien der Zeit singen uns periodisch Strophen über die Vergeblichkeit all dieser Bemühungen.

Und die Sprache, die sich anbietet als ein Geländer vor den inneren Abgründen und als betretbare Brücke zum Gegenüber, wird selbst zu einer trügerischen Spur in den Nebel und ehe wir uns versehen, stehen wir mitten im grausamen Grau, ängstlich aneinander geklammert, doch ohne einen Halt.

Folge Deinem Instinkt wie ein Käfer auf dem Tellerrand, der unendliche Welten bezwingt, indem er die Angst vergisst, wo er sie lebt.
 
 
 
 
 
Die Krähen behaupten / Christian Erdmann:

Vorsicht! Ich hoffe, Du weißt, worauf der sich einlässt, der seine Dämonen füttert (...)

Absolut.

Wie bedrückend die Gewißheit gewesen sein muß, daß nichts im Leben ihm selbstverständlich war. Worauf Alt, meinem ersten Verständnis nach, hinauswill: natürlich scheint der Vater die personifizierte Selbstgefälligkeit im Lehnstuhl gewesen zu sein, ein Alltagsdespot, der unmißverständliche Handlungsmaximen, geronnene Lebensweisheiten und banale Gemeinplätze verkündete, aber Alt sieht trotzdem die Frage, ob der Vater tatsächlich dem hier entworfenen Bild objektiv entsprach, oder ob Kafka das Modell einer archetypischen Autorität als unumkehrbares Grundmuster von Fremdheit und Bedrohlichkeit auch beizubehalten bzw. noch zu verstärken suchte, für jenen abweichenden Selbstentwurf, der sich im Schreiben verwirklichte.

Man weiß wohl von Ottla, Kafkas Lieblingsschwester, daß sie dem Vater gegenüber einen offeneren Trotz zeigte; anderer Umgang mit dieser Figur also theoretisch möglich war. Seine Schwestern liebten Kafka, Brod scheint ein wunderbarer Freund gewesen zu sein (der, so interpretiert Alt, auch Kafkas letzten Wunsch richtig verstanden hat), Kafka konnte ein glänzender Unterhalter sein usf. Insgesamt also Ausloten der Möglichkeit, daß Kafka die Zone der Isolation, die Du beschreibst, sehr bewußt bewohnte und behauptete; all seine Kräfte in sie zusammenzog, Kräfte, die er immer als sehr bemessen ansah. Daß er, trivial gesagt, nicht nur ein "angenehmeres" Leben der Kunst opferte, sondern daß er den phantasmatic support bewußt zur Verdunkelung seiner Umgebung benutzte; um in den Schatten bleiben zu können, die ihm Hellsicht gewährten.

Was Kafka beim Schreiben anstrebte, würden Neumodiker wohl als "flow" bezeichnen; das glückende Schreiben als ununterbrochener Strom (die 8 Stunden von "Das Urteil"). Du kennst die Tagebucheinträge, die, wenn das nicht gelang und er abbrach, z.T. nur aus zwei Worten bestehen: "Nichts, nichts." Wenn man ahnt, worin Kafka Glück empfand, ahnt man auch, welche Verzweiflung in diesen zwei Worten liegt. Vielleicht eine stärkere als jene, die von den Dämonen ausging? Wage ich nicht zu beurteilen.
 
 
 
 
 
ray05:

[...] "Nichts, nichts." Wenn man ahnt, worin Kafka Glück empfand, ahnt man auch, welche Verzweiflung in diesen zwei Worten liegt. Vielleicht eine stärkere als jene, die von den Dämonen ausging? Wage ich nicht zu beurteilen.

Nun, wenn ich mir den Künstler vorstelle als jemand, der sich alles, was ihm widerfährt, zunutze macht - egal, ob das Widerfahrene "eingebildet" ist oder nicht -, dann vermute ich, dass er jene Teile, die ihm den größten Nutzen für seine Arbeit versprechen, dementsprechend kultiviert, auch wenn's wehtut und die Verzweiflung mit am Tisch sitzt wie so ein Farmer aus dem Mittelwesten mit zugekniffenen Augen, Strohhut und angelegter Schrotflinte. :) Denke dennoch, dass dieses "Nichts, nichts" der größtmögliche Verzweiflungssatz ist, denn was kann schlimmer sein als das Eingeständnis vor sich selbst, nichts [mehr] zum Sprechen bringen zu können, sich nichts [mehr] zunutze machen zu können. 
 
 
 
 
 
KLMO: 
 
Bei Kafka spielte natürlich seine angeschlagene Konstitution eine Rolle. Kafka suchte am Anfang auch das Abenteuer, das Leben im Extrem, den Weg nach oben. Stattdessen überall unüberbrückbare Hindernisse, verbunden mit einer schon früh angeschlagenen Gesundheit. Beispiel: Meldet sich als Kriegsfreiwilliger, Vater interveniert - um dann noch einmal wegen Dienstuntauglichkeit abgelehnt zu werden. (Man beachte seine TB). Schon hier liegt der Schlüssel für sein introvertiertes Leben. Als Metapher: Den Berg auf herkömmliche Art zu besteigen, bleibt ihm verwehrt.

Gezwungenermaßen verharrt Kafka in der Ebene, aber er besitzt die Fähigkeit, den Berg zu durchschauen.
 
 
 
 
 
Die Krähen behaupten / Christian Erdmann:
 
... verharrt Kafka in der Ebene, aber er besitzt die Fähigkeit, den Berg zu durchschauen.

Klasse, der Satz.


Denke dennoch, dass dieses "Nichts, nichts" der größtmögliche Verzweiflungssatz ist, [...]

Wahrscheinlich eben: ja. Diese Fabrik im Zizkov-Bezirk, für die Kafka 1911/1912 Teilhaberschaft übernimmt, heftiger Streit mit dem Vater, der ihm Vorwürfe macht wegen seines geringen Einsatzes für das Unternehmen; Kafkas Verzweiflung ist so groß, daß er "Eine Stunde dann auf dem Kanapee über Aus-dem-Fenster-springen" nachdenkt. Herbst 1912, als die literarische Arbeit gut voranschreitet, erneut Selbstmordgedanken, weil er die Fabrik regelmäßig besuchen muß. Seine Erklärung, warum er den Sprung aus dem Fenster nicht gewagt hat, färbt größtmögliche Verzweiflung mit der angesichts größtmöglicher Verzweiflung größtmöglichen Ironie: weil "das am Lebenbleiben mein Schreiben (...) weniger unterbricht als der Tod."











(erstveröffentlicht / first published 17.02.2013)















Samstag, 7. Juli 2018

The Mummy (1932)














SPIEGEL ONLINE Forum

"Lieblingsfilme - Was ist 'großes Kino'?"

03/2009




Gwynplaine:
Hmmm, habe irgendwie den Anschluß an unseren philosophischen Diskurs verpasst. Und wenn ich hier Stichwortsuche betreibe, finde ich, daß der große Boris Karloff definitiv zu kurz kommt. Und vor allem ist noch niemand näher auf "The Mummy" aus dem Jahre 1932 eingegangen. Und ich bin beinahe hilflos, wenn ich versuche in Worte zu fassen, warum mich dieser Film so verzaubert.

Gedreht hat ihn ein Kameramann, Karl Freund, der früher für F.W. Murnau (z.B. "Der letzte Mann") arbeitete und der auch Tod Brownings "Dracula" mit Bela Lugosi fotografiert hat.

Dies ist kein (...) Monster-Film - obwohl Karloffs Make-Up (als bandagierte und dann später als reinkarnierte Mumie), kreiert von Jack "Frankenstein" Pierce, gruselig genug war, um A.D. 1932 schauerlich zu wirken -, sondern eine Liebesgeschichte. Der wiedererweckte Hohepriester Imhotep sucht in Zita Johann seine reinkarnierte Liebe, und wenn Karloff sie mit ruhiger und trauriger Stimme beschwört: "Ankh-es-en-Amon, my love has lasted longer than the temples of our Gods. No man ever suffered as I did for you.", dann glauben wir dies und fühlen mit ihm. Die Rückblende entführt uns ins alte Ägypten, und diese Rückblende funktioniert, weil sie gefilmt ist wie ein Stummfilm, und belegt das Leiden Karloffs ("They broke in upon me and found me doing an unholy thing.")

Ich könnte erzählen und erzählen, aber ich beschränke mich auf drei Szenen, die mich besonders gefangennahmen.

Die Mumie erwacht zum Leben. Bramwell Fletcher, der darüber seinen Verstand verlieren wird, transkribiert die Schriftrolle, die dies bewirkt, die Kamera, auf Karloffs mumifiziertes Gesicht und Oberkörper gerichtet, registriert, wie sich unendlich langsam, fast unmerklich ein Auge öffnet und eine ebenso zeitlupenhafte Bewegung der Hand. Als nächstes sehen wir Fletcher, und die Hand der Mumie kommt ins Bild, um die Schriftrolle zu verlangen. Fletcher, hysterisch in Lachen ausbrechend: "He went for a little walk!"
 







 
 
Noble Johnson, damals Universals Standard-Mann für prägnante Nebenrollen, als nubischer Diener empfängt Karloff, der ihn durch seine hypnotische Macht in seinen Bann schlägt und auf die Knie zwingt. Die musikalische Untermalung dieser Szene ist besonders schön und mischt märchenhafte und bedrohliche Motive.

Edward Van Sloan und der Museumsdirektor stellen Karloff als Reinkarnation zur Rede. Die Szene ist nur ein Dialog in einem Zimmer, aber er ist exzellent gesprochen. Karloff ist großartig. Die Mumie, die sich als Ardath Bey ausgab, bisher stets verwahrt und ruhig, kehrt hier die unterschwellige Bedrohung langsam nach außen, aber trotz nur subtiler aber wirkungsvoller Änderungen in der Diktion und reduzierter Mimik und Körpersprache ist die Szene so intensiv, daß es mich jedesmal vor Faszination schier lähmt. Als er den Museumsdirektor mühsam beherrscht anfährt: "The scroll is my property. I bought it from a dealer. It is here in this house! I presume in that room!" und daraufhin seine Hand zum Fluch ausfährt, ist dies einer der Höhepunkte des Films.

Es gibt ein paar absolut unheimliche Großaufnahmen von Karloffs Gesicht. Und abgesehen davon ist der ganze Film von seiner visuellen Qualität her, mit seiner schaurig-schönen Musik, seinem ruhigen Erzähltempo, den unglaublich wirkungsvoll gesprochenen Dialogen, nicht weniger als - ich zitiere Everson - ein Gedicht. Singulär in der Horrorfilmgeschichte!
 


















Du sprichst mir mal wieder aus der Seele, und "verzaubernd" ist das einzig angemessene Wort für diese Filme. Zum Zauber gehören sicher auch Zita Johanns große, liquide Augen. Und die Art, wie sich der Film, statt auf Schock, vollkommen auf Atmosphäre und Stimmung konzentriert. Die Art, wie Karloff starr wie eine Hieroglyphe durch den Film wandelt, auf der Suche nach seiner großen, verlorenen Liebe.

Aus einem schönen Text zu dem Film zitiere ich Dir einfach, von Schifferle:

"Er ist ein Rebell gegen jede Gesellschaft, gegen die Religion und selbst gegen die Zeit. Er versucht die junge Britin in sein unendliches Zwischenreich zu leiten. Ägypten, zeitlich und räumlich fern, besteht in Die Mumie aus Hollywood-Glamour (die Kostüme der Johann), viktorianischem Romantizismus (...) sowie Freunds expressionistischer Schattenwelt. Momente des Somnambulismus kennzeichnen Die Mumie. Von einer fremdartigen Würde ist Karloffs Imhotep, der Drifter durch die Jahrhunderte, Monster und Manipulator, Kind und Greis. Von traumhafter Schönheit ist Zita Johann als Helen, die zu zerfließen droht zwischen den Zeiten. Eine Schlüsselszene des Films spielt in einem Atrium vor einem Bassin. Auf der empfindlichen Wasseroberfläche erscheinen tranceartige Bilder vom alten Ägypten. Wie ein Teich des Unterbewußten wirkt dieses Bassin (...) Die Surrrealisten träumten einst von einem Kino auf dem Grund eines Sees."















Gwynplaine:
Die traumwandelnde, verstörte Zita Johann ("I was tired. But I never felt so alive!") faszinierte mich ebenso. Wir sehen es wie Imhotep: sie IST Ankh-es-en-Amon!

Die Szene am Bassin, die in die Rückblende führt, ist natürlich magisch. Diese Rückblende, mit ihrer Musik, die die Themen von bedingungsloser Liebe, Tod, Sakrileg (...) in dissonant flirrende und tief bedrohliche Motive umsetzt.
 



























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Die Rückblende war ursprünglich bedeutend länger, die geschnittenen Szenen sind offenbar für immer verloren, nur Stills existieren: Inkarnationen der Ankh-es-en-Amon durch die Jahrhunderte, eine christliche Märtyrerin, eine Prinzessin im Mittelalter, ein Wikingermädchen, Madame Dubarry. Der "Pool of Life" zeigt eine Jahrtausende überdauernde Liebe. Zita Johann, die selbst an Reinkarnation glaubte, litt unter dem Sadismus Karl Freunds:

"Finally, all that was left was the scene by the magic 'Pool of Life' with Karloff, and Zita's Christian martyr scene - in which she was to be eaten alive by lions. 

Late Saturday night - exhausted - I fainted - in the middle of a scene with Boris Karloff. I was out for an hour - dead. The crew, generally friendly and this time again on my side, gathered beside me. 'What that son-of-a-bitch has done to her', I heard. - 'You don't know the half of it,' my secretary, Ruby Holloway, answered. My guardian angel was very busy.

As Zita remembered it, as Karloff showed her the 'Pool of Life', she almost fell into the pool as she fainted. 'They couldn't get a doctor - it was 11 o'clock at night,' says Zita. 'So the crew prayed me back to consciousness.'

The exhausted, frightened actress went home. The Christian martyr, fed-to-the-lions death scene was set for Monday. Universal had slyly saved this scene for her last day of shooting, so that if one of the lions overacted, the actress' other scenes would already be in the can. It would be the grand finale of Freund's sadism.

'Those lions saw no fear in me - just exhausted bones!' laughed Zita. 'And they must have figured, 'Who needs them?'"

[Gregory William Mank: Women in Horror Films, 1930s]




















Zita Johann als christliche Märtyrerin in einer der geschnittenen Szenen wird zu den Löwen geschleppt: