SPIEGEL ONLINE Forum "Literatur - Was lohnt es noch, zu lesen?"
August 2006
Mixolydian:
Ohne Cut-ups hätte es weder das Eno/Byrne-Referenzalbum "My Life In The Bush Of Ghosts" noch die in dessen Nachfolge immer ausgefeilter werdende Sampling-Technik in der Musik gegeben. Die Cut-up-Methode war ein Experiment, das sich als extrem einflußreich erwiesen hat. Hier wurden einfach neue Wege aufgezeigt. Ohne Innovatoren wie Burroughs, Gysin oder auf dem musikalischen Feld Eno, Byrne, Fripp oder Cale wären wir heute um einige Kunstwerke ärmer.
Christian Erdmann:
Ich denke, daß der Zufall stets in die
künstlerische Arbeit integriert ist (Genie besteht ja auch in der
Fähigkeit, sich den Zufall zunutze zu machen), und daß die
Cut-up-Methode sozusagen nur die extremere Form des Sichauslieferns an
dieses Prinzip ist. Sie legt den Akzent zunächst auf die reine Methode,
den reinen Prozeß, ohne Vorplanung und vorgegebene Bedeutung. Indem
Dinge zusammenkommen, die sonst nicht zusammenkommen, entstehen neue
Bedeutungen. Lautréamont sprach von
der Schönheit der zufälligen Begegnung eines Regenschirms und einer
Nähmaschine auf dem Seziertisch. Ich persönlich mag es als Leser sehr,
mich zu fragen: wie kommt das denn jetzt da hin, solange all die
Türen, die sich da öffnen, noch als einem Korridor zugehörig erkennbar
sind. Burroughs oder Lautéamonts "Gesänge des Maldoror" können sehr
labyrinthisch (minus Ariadnefaden) werden, zur sehr anstrengenden Reise
durch einen Kopf. Hypertroph scheinende Willkür ist natürlich
enervierend. Aber durch die offene Kollaboration mit dem Zufall sind Werke von unglaublicher Schönheit entstanden.
Für sein "Low"-Album, das er mit Eno zusammen aufnahm,
wollte David Bowie ein langsames Stück mit nahezu religiöser Atmosphäre
– das war alles, was er Eno vorgab. Eno schlug vor, erst einmal eine
Spur mit Fingerschnipsern aufzunehmen. Das taten sie dann, ca. 430mal
Fingerschnipsen. Das notierten sie. Jeder der beiden nahm sich dann
willkürlich bestimmte Sektionen vor und spielte auf dem Synthesizer Sequenzen
dafür ein. Dann löschten sie die Schnipser und schrieben, abgestimmt auf
die zugeteilten Taktmengen, weitere Sequenzen darüber. Keine
"Komposition" im eigentlichen Sinne also, aber dieser ungewöhnliche
Entstehungsprozeß ist das letzte, woran man bei dem Stück "Warszawa"
denkt, das einen noch immer auf die Knie sinken läßt – zeitgenössische
Klassik eben.
Bowie hat sich auch in seinen Texten zuweilen der Cut-up-Methode bedient, auch für das "1. Outside"-Album, das so starken Einfluß auf David
Lynch hatte ("Lost Highway"). Auf "1. Outside" erzählt Bowie zwar eine
Geschichte, die Cut-up-Methode erlaubt es dem Autor einer Geschichte
aber auch, der Geschichte dazu zu verhelfen, sich selbst zu erzählen
und ihren Autor zu überraschen. Textsegmente arbeiten als
Bedeutungsgeneratoren. Ein Titel des Albums lautet "The Hearts Filthy
Lesson". Wer würde diese Worte schon zusammendenken? Nach dem ersten
Schreck ergeben viele Dinge Sinn. Genau wie bei Träumen, und oft
gleicht alles, was Cut-up-Methode gleicht, dem Vokabular von Träumen.
Träume sind Cut-ups.
Aber zugegeben, es kommt sehr darauf an, wer sich dieser
Techniken befleißigt. Grundsätzlich kann diese Technik natürlich
schrecklich unsinniges Getröt produzieren, aber das gelingt auch
Autoren, die sich ganz prometheisch sehen. Quod licet Bowie, non licet
bovi.
Eliza:
Eben. Sich allein auf den Zufall zu verlassen, garantiert zunächst nur, dass was Zufälliges dabei rauskommt.
Es muss ein gewisses, recht hohes Minimum an Gestaltung dabei sein, bevor mir der Ausdruck Kunst einleuchtet.
Christian Erdmann:
Du kennst doch sicher Shaftesbury, den englischen Philosophen? (Ich meine den 3rd Earl). Der sprach vom Künstler / Schöpfer als "second maker", als "Prometheus under Jove". Der von mir oben angesprochene Typus wäre sozusagen "Cut-up-artist under Prometheus" (in einer Person).
Goethe hat von Shaftesbury den Begriff der "inneren Form"
geklaut: die "inward form" des Kunstwerks / des Charakters / der
vorbildhaft Teile zu einem Ganzen fügenden Natur. Wobei Shaftesbury für
seine Zeit übrigens recht weit darin ging – sein Weg führte schon über
das, was später deutlich als Begriff des "Erhabenen" erschien –, auch
das "Dissonante" in diese "innere Form" einzugliedern. Die "innere
Form" erlaubt vieles, eben auch Nutzbarmachung des Zufalls,
Eingliederung sich selbst schaffender Bedeutungen etc., nur darum ging
es mir, mein Respekt vor den Beherrschern der inneren Form ist grenzenlos.
Wenn poetische Sprache nicht auch zum Ziel hat, Vorstellungen davon, "was geht", hinter sich zu lassen, wozu dann überhaupt Poesie?
Stefan Möhler:
Der Künstler ist immer der zweite Schöpfer. Eigentlich eher ein Seher, der vermag, Dinge zu realisieren, die sich anderen eben nicht von alleine erschließen. Ob es ihm nun gelingt, diese Realisation für alle Menschen sichtbar zu machen oder nicht, ist dabei völlig unerheblich.
Immer ist ein Kunstwerk ein Aufruf zur Auseinandersetzung: mit eigenen Gedanken, Urteilen, Sichtweisen, Vorurteilen, eingefahrenen Denkstrukturen, Blindheit - letzten Endes mit sich selbst.
Wer dazu nicht in der Lage ist, und ja, solche Menschen gibt es tatsächlich, dem erschließt sich weder Kunst noch deren vielfältige Möglichkeiten der Rezeption. Daran werden weder Kunstwerke selbst noch Worte über dieses Faktum irgendetwas ändern können. Das kann man bedauern, aber nicht ändern.
Christian Erdmann:
Es spricht etwas aus dem Künstler, den Du "Seher" nennst, das er selbst nicht völlig kontrolliert, aber er muß versuchen, soviel Kontrolle wie möglich darüber zu gewinnen. Er muß das, "was geht", überwinden, und dieses "was geht" war nicht nur im Hinblick auf die Form gemeint, es ist immer auch das, was für die menschliche Realität bislang Gültigkeit besaß. Wäre der Künstler in glücklicher Übereinstimmung mit der Welt, wie sie ist, und den Konditionen, die sie stellt, würde er dann Kunst schaffen wollen? Das soll keine revolutionäre Pose der Kunst an sich beschreiben, aber ist der Künstler nicht immer der Träumer irgendeines "Anderen", selbst wenn der Unterschied zum affirmativ Säuselnden kaum noch spürbar sein sollte, auch die vehementeste Opposition zum Zeitgeist ist da vielleicht letztlich nur ein gradueller Unterschied, wiewohl die Skala derartige Unterschiede bereithält, daß vielen der Größten (Hölderlin, Artaud, Nijinsky etc) der Rückweg aus ihrer Kunst in die "normale Umgebung" nicht mehr gelang.