Rest in Peace, Ray.







Antirat zieht um:
-> Das Cabinet des Christian Erdmann





Donnerstag, 9. Juli 2020

Barbey d'Aurevilly













SPIEGEL ONLINE Forum

"Literatur – Was lohnt es noch, zu lesen?"

08/2010



BerSie:
Schon einen Roman von Jim Thompson gelesen? :) 



Noch nicht, lese gerade die "Diabolischen Geschichten" von Jules A. Barbey d'Aurevilly. Allzu diabolisch wirken sie nicht mehr, fasziniert "von dem Ungeheuerlichen an ihnen" frönt Barbey der Faszination an mysteriösen Frauenfiguren - die hoheitsvolle Teilnahmslosigkeit eines Mädchens namens Albertine in der Geschichte "Der rote Vorhang", umschlagend in die "unglaubwürdige Kaltblütigkeit" und "gelassene Selbstbeherrschung beim Tun des Ungeheuren" ... oder Hauteclaire Stassin, Tochter des "Aufspießers", die in Erscheinung tritt, als sie vor dem berühmten Käfig im Jardin des Plantes eine Pantherin mit ihrem Handschuh reizt: "Aha!" flüsterte der Doktor mir ins Ohr. "Pantherin wider Pantherin!"

Barbey selbst bleibt auch mysteriös, ständig scheint er verborgenen Beweggründen nachzuspüren, aber man weiß nie, ob er sie eigentlich gefunden hat. Am Ende bleibt, wie so oft, Bewunderung für und Genuß an der Sprache und ihren Möglichkeiten, Barbey hat Sprachkünstler wie Proust und Henry James zu beeindrucken und zu inspirieren gewußt.

Manchmal bizarr, immer interessant. Seine Essays und Aphorismensammlungen haben offenbar einen etwas dubiosen Ruf begründet, der in D durch die Veröffentlichungen bei Matthes & Seitz ggf. Korrekturen erfahren darf - Fundstück:

"Von dieser Sammlung von Aphorismen geht etwas Bezwingendes aus: Man liest, hält inne. Betrachtet Ideen wie kostbare Bilder, darin eröffnen sich neue Welten, glasklar. Es gelang ihm vortrefflich, die Menschen zu schockieren, nur eines blieb ihm, zum Glück, verwehrt: 'Das schönste Schicksal: Genie haben und unbekannt sein.'" (Susanne Mayer, Zeit, 3. April 2008)

Bei Matthes & Seitz finden sich zwei Aussagen zu Barbey:

"Seine Bizarrerien waren nie gemein. Er war exzentrisch und hatte doch ein ausgeglichenes Naturell. (...) Barbey d'Aurevillys Stil hat mich stets verblüfft. Er ist ungestüm, feinsinnig und brutal. (...) Er betonte bei jeder Gelegenheit seinen Glauben, bekannte ihn aber am liebsten durch Lästerung." (Anatol France in seinem Nachruf)

"Die ambivalente Poetik des Jules Barbey d'Aurevilly besteht aus der skeptischen Ferne zum politischen Menschen einerseits und der fiebrigen Neugier auf Abgründe des kreatürlichen und spirituellen Menschen andererseits. Aber gerade in diesem zweiten Punkt liegt die ungeheure Modernität Barbeys." (Neue Zürcher Zeitung, November 2008)

Aber ich nähere mich "A Hell Of A Woman" an, versprochen. :)






d'extraits admirables




Das Wachen eines menschlichen Wesens - und sei es auch nur ein Wachtposten -, wenn alle andern Lebewesen in jene Betäubung versunken sind, wie sie der erschöpften Kreatur eigen ist, hat stets etwas Ehrfurchtgebietendes. Aber daß man nicht weiß, warum irgend jemand hinter den geschlossenen Vorhängen eines Fensters wacht, wo die Lampe von Leben und Denken kündet, gesellt zu der Poesie des Traumes die Poesie der Wirklichkeit. Ich jedenfalls habe niemals in einer Stadt, durch die ich fuhr, ein zur Nachtzeit erleuchtetes Fenster sehen können, ohne an diesen Lichtrahmen eine ganze Welt von Gedanken zu heften, ohne zu meinen, hinter jenen Vorhängen geschähen Liebkosungen und Tragödien...


Der Mund öffnete sich ein wenig... doch die schwarzen, die unergründlich schwarzen Augen, deren lange Wimpern fast an die meinen rührten, schlossen sich keineswegs, sie zuckten nicht einmal; aber in ihrer Tiefe, wie über Albertes Mund, sah ich den Wahnsinn huschen!


Ich begriff das Glück derer, die sich verbergen. Ich begriff den Genuß eines Geheimnisses zu zweit, das, auch wenn keinerlei Hoffnung auf Gelingen besteht, unverbesserliche Verschworene schafft.


"Ah! Ich bin Ihnen nicht deutlich genug?" fragte Ravila mit einem Anflug von Spott. "Ja, sie war brünett, das heißt: ihr Haar war schwarzbraun bis tiefschwarz wie spiegelndes Ebenholz: nie wieder habe ich dergleichen sich wollüstig über einem Frauenkopf wölben sehen; doch ihre Gesichtsfarbe war die einer Blonden - und es kommt auf die Gesichtsfarbe und nicht auf die des Haares an, wenn man entscheiden will, ob eine Frau dunkel oder blond sei", fügte der große Beobachter hinzu, der die Frauen nicht nur studiert hatte, um ihre Bildnisse zu entwerfen. - "Sie war eine Blonde mit schwarzem Haar."


"Sie war wie eine Löwin unbekannter Gattung, die da meint, Klauen zu haben, und die, wenn sie sie brauchen will, erkennt, daß sie nichts als unbewaffnete Samtpfötchen hat. Sie versuchte mit Samt zu kratzen."


Was ihre Augen betrifft, so konnte ich sie nicht beurteilen, da sie starr auf die Pantherin gerichtet waren, auf die dadurch zweifellos ein magnetischer und ihr unangenehmer Einfluß ausgeübt wurde; denn obwohl sie an sich schon reglos dalag, schien sie noch desto tiefer in starre Unbeweglichkeit zu versinken, je länger die Frau, die hergekommen war, um sie sich anzuschauen, sie anstarrte; und - wie alle Katzen angesichts eines sie blendenden Lichtes - ließ die Pantherin, ohne den Kopf auch nur um Haaresbreite zu bewegen, ohne daß die feinen Spitzen ihrer Schnurrhaare auch nur gebebt hätten, nachdem sie eine Zeitlang geblinzelt hatte, langsam die beiden grünen Augensterne hinter den Kulissen der Lider verschwinden. Das Tier schloß sich ab gegen alles.


"Aha!" flüsterte der Doktor mir ins Ohr. "Pantherin wider Pantherin! Aber die Seide ist stärker als der Samt!"


Und er hatte richtig gesehen, der Doktor! Schwarz, geschmeidig, von ebenso starkem Gliederbau, ebenso königlicher Haltung; die Dame, die Unbekannte, war in ihrer Art genauso schön und von einem noch beunruhigenderen Zauber erfüllt, sie war eine menschliche Pantherin, die vor der tierischen Pantherin stand und ihr überlegen war; und das hatte das Tier sicherlich gespürt, als es die Augen schloß. Aber die Frau begnügte sich nicht mit diesem Triumph, sofern es einer war. Es fehlte ihr an Edelmut. Sie wollte, daß die Rivalin sehe, wer sie demütigte, und daß sie die Augen wieder öffne, um es zu sehen. Daher nestelte sie stumm das Dutzend Knöpfe ihres violetten Handschuhs auf, der ihren herrlichen Unterarm voll zur Geltung brachte, steckte waghalsig die Hand zwischen zwei Käfigstäben hindurch und schlug mit dem Handschuh die Pantherin auf das Maul, die nur eine einzige Bewegung machte... aber was für eine Bewegung! ... und zuschnappte, blitzschnell! ... Ein Aufschrei gellte aus der Gruppe: wir alle hatten nichts anders gemeint, als daß die Hand verloren sei: aber nur der Handschuh war es. Die Pantherin hatte ihn verschlungen.


Ich hatte bereits gemerkt, daß glückliche Menschen ernst zu sein pflegen.


Die Liebe beherrschte alles, erfüllte alles, tötete alles in ihnen, das Moralgefühl und das Gewissen - wie ihr es nennt; und wenn ich sie mir ansah, diese beiden Glücklichen, dann begriff ich den Ernst im Scherzwort meines alten Freundes Broussais, wenn er vom Gewissen behauptete: 'Seit dreißig Jahren stehe ich am Seziertisch, und nicht einmal das Ohr dieses Tierchens habe ich entdeckt'.


"Ach!" entgegnete Doktor Torty. "Sie meinen, da sei die Fehlstelle, die Rache des Schicksals, und das, was Sie die göttliche Vergeltung oder Gerechtigkeit nennen? Nein, sie haben niemals Kinder gehabt. Erinnern Sie sich? Einmal war mir eingefallen, daß sie nie welche haben würden. Sie lieben sich zu leidenschaftlich ... Das Feuer, das verzehrt und vernichtet, bringt nichts hervor."


An einem Abend des vergangenen Sommers war ich bei der Baronin de Mascranny, einer jener Pariserinnen, die den Geist, wie er früher gepflegt wurde, über alles schätzen und dem wenigen, was heutzutage noch davon übrig ist, beide Flügel - einer würde genügen - ihrer Salontür öffnen. Hat sich der Geist nicht unlängst in eine anspruchsvolle Bestie verwandelt, die den Namen "Intelligenz" führt?


Von Romanen sprechen bedeutet dasselbe, als erzähle jedermann aus seinem eigenen Leben.


Was man nicht weiß, verstärkt den Eindruck dessen, was man weiß, um vieles.


"Ich bin überzeugt, daß für gewisse Seelen im Betrügen Genuß liegt. Es liegt eine furchtbare, aber berauschende Glückseligkeit in dem Gedanken, daß man lügt und betrügt; in dem Gedanken, daß einzig man selbst um sich weiß und daß man der Gesellschaft eine Komödie vorspielt, durch die sie genarrt wird und deren Inszenierungskosten man durch alle Wollüste der Verachtung wieder hereinholt."


"Wenn die Worte 'teuflisch' oder 'göttlich' zur Bezeichnung der Intensität der Genüsse gebraucht werden, so drücken sie das gleiche aus, nämlich Empfindungen, die ans Übernatürliche grenzen."


"Das eben ist die Phantastik des Wirklichen", sagte ernst der Arzt.


Sie glichen jener Neapolitanerin, die zu sagen pflegte, ihr Sorbet sei zwar gut, aber er würde ihr noch besser schmecken, wenn sein Genuß eine Sünde wäre.


Ganz allgemein kann man sagen, daß alle Herrenessen, bei denen nicht der harmonische Geist einer Hausherrin den Vorsitz führt, bei denen nicht der beschwichtigende Einfluß einer ihre Anmut verschwendenden Frau sich wie ein Zauberstab auf die plumpen Eitelkeiten, die herausgeschrienen Ansprüche, den blutigen und blöden Zorn auswirkt, wozu sich selbst Leute von Geist hinreißen lassen, wenn Männer unter sich bei Tisch sitzen - daß fast alle Herrenessen eine schreckliche Ansammlung von Persönlichkeiten sind, und dazu neigen, auszugehen wie das Gelage der Lapithen und Kentauren, an dem wahrscheinlich ebenfalls keine Frau teilgenommen hat. Der Egoismus, der "nicht zu verbannende" Egoismus, den unter liebenswürdigen Formen zu verhüllen die Kunst der Gesellschaft ausmacht, stemmt nur zu bald die Ellbogen auf den Tisch und wartet darauf, sie einem über kurz oder lang in die Rippen zu stoßen.


... und selbst am Rande des offenen Grabes sind sie stets bereit, ihre Schnauzen in den Fraß der Selbstgefälligkeit zu stecken!


In wahrhaft starken Persönlichkeiten lebt etwas, und sei es auch nur ein Atom, das sich der Umwelt entzieht und ihrem allmächtigen Wirken Widerstand leistet.


Sicherlich hatte eben jener Teufel in einem Wahnsinnsanfall auch Rosalba geschaffen [...] Rosalba war genauso schamhaft, wie sie wollüstig war, und das Sonderbare ist, daß sie beides gleichzeitig war.


Man wurde ihrer nicht überdrüssig. In das Gefühl, das seine Grenzen hat, wie die Philosophen in ihrem infamen Kauderwelsch sagen, brachte sie das Unbegrenzte, das Unendliche! Nein, wenn ich von ihr gegangen bin, so ist es aus einer Art moralischen Ekels heraus geschehen, aus Stolz, was mich, aus Verachtung, was sie betrifft, sie, die mich auf dem Höhepunkt ihrer wahnwitzigsten Liebesbezeigungen nie dahin gebracht hat, zu glauben, daß sie mich liebe...


Sahen diese Atheisten endlich ein, daß, wenn die Kirche einzig dazu da wäre, Herzen zu empfangen - tote oder lebendige -, mit denen man nichts mehr anzufangen wüßte: daß das bereits etwas hinlänglich Schönes wäre?


Die übersteigerte Zivilisation beraubt das Verbrechen seiner erschreckenden Romantik und gestattet dem Schriftsteller nicht, sie ihm wieder zu verleihen. Das wäre zu gräßlich, sagen die Seelen, die alles, selbst das Grauenhafte, verniedlichen wollen.


Tressignies, der der Meinung war, sie werde in die Rue de la Chausée-d'Antin einbiegen, die im Glanze ihrer tausend Gaslampen strahlte, gewahrte zu seiner Überraschung, daß dieser gespreizt einherschreitende Kurtisanenluxus, diese schamlose Hoffart einer von sich selbst und ihren Seidenkleidern berauschten Dirne, sich in die Rue Basse-du-Rempart verlor, die damals der Schandfleck des Boulevards war!


Und Mesnilgrand schnippte ein Stück Orangenschale auf das Sims, gerade über den Kopf des Volksrepräsentanten Le Carpentier hinweg, der den des Königs hatte abschlagen lassen.


Sie war so radikal wie nur möglich verschwunden.













(erstveröffentlicht / first published 27.06.2011)

Fotos und Bearbeitung C.E.














Dienstag, 7. Juli 2020

Carl Theodor Dreyer: Vampyr (1932)












1930 in Senlis bei Paris, Carl Theodor Dreyer dreht "Vampyr". Das Haus, in dem der böse Dorfarzt von Courtempierre sein Unwesen treiben soll, ist vorbereitet, doch etwas fehlt: Spinnweben. Dreyer will echte Spinnweben. Eliane Tayar, Dreyers Ausstatterin, spricht mit allen Pariser Spinnenspezialisten, aber keiner weiß, wie man eine Spinne dazu bringt, auf Kommando ein Netz zu weben. Eliane trommelt Kinder aus der Nachbarschaft zusammen und bittet sie, Spinnen und Fliegen zu fangen. Die Kinder kommen zurück mit Gläsern voller krabbelnder Kreaturen. Die Gläser werden in dem Raum ausgekippt, die Versorgung der Spinnen wird sichergestellt, die Tür verschlossen. Als die Dreharbeiten beginnen sollen und die Tür wieder geöffnet wird, hängen Spinnennetze überall, wo Spinnennetze hängen können, Kameramann und Schauspieler wissen kaum noch, wie sie sich bewegen sollen, wagen kaum zu atmen.

Alfred Hitchcock bedachte "Vampyr" mit dem Satz: "The only film worth seeing... twice." Luis Bunuel bezeichnete "Vampyr" als einen seiner Lieblingsfilme. Das Bekenntnis von David Lynch ist eine Frage der Zeit. Die Zeitung "Berlingske Tidende" berichtet im Oktober 1935 von dem Fall eines in heftiger Verwirrung aufgegriffenen jungen Mannes, auf den "Vampyr" so starken Eindruck gemacht hatte, daß er hernach kein einziges Wort mehr sprach. Dreyers Anspruch war es, einen Film zu machen, der wie kein anderer sein sollte. Es ist ihm geglückt. "Vampyr" ist ein unfaßbar schauriges Etwas. Ein böser Spuk von einem Film. Unheimlich, gespenstisch, faszinierend. Und wunderschön.

Der Film wurde wie ein Stummfilm gedreht, die Darsteller sprachen ihre wenigen Sätze später als Overdub in drei verschiedenen Fassungen nach, in deutscher, französischer und englischer Sprache. Die Originalnegative sind verloren, ausgehend von unterschiedlich vollständigen Kopien der deutschen und der französischen Fassung konnte jedoch 1998 eine Restaurierung des Films unternommen werden. Über Jahrzehnte war der Film nur in schwer beschädigten, unvollständigen Fassungen zu sehen, manchmal in verhackstückter Chronologie, häufig auch als Bastard-Montage, in der ohnehin kaum verständliche Wortfetzen in verschiedenen Sprachen zu hören waren. Auf seltsame Weise trugen diese neuerlichen Anschläge auf die narrative Logik sogar zum Faszinosum bei.  Das Unzusammenhängende, Inkohärente der Bilder und der Worte glich nun in noch stärkerem Maße fremdartigen Traumfetzen, als es ohnehin schon intendiert war. Für David Pirie etwa hatte das Geschehen in "Vampyr" die Form

"eines hermetischen Rituals, von dem sich der Held ständig rigoros ausgeschlossen sieht (...) Nichts, was er tut oder sagt, scheint irgend eine Wirkung auf (die anderen Personen) zu haben (...) allein die Tatsache, daß der Held anscheinend keine definierbare, reale Beziehung zum tatsächlichen Geschehen hat, steigert den Eindruck völliger Orientierungslosigkeit." (Pirie 47).

Gegenüber dem "Eindruck völliger Orientierungslosigkeit" eröffnet die restaurierte Fassung, mit ihren der Kontinuität dienlichen Vervollständigungen, ein besseres Verständnis für den inneren Zusammenhang der Ereignisse in der allesdurchdringenden alptraumhaften Atmosphäre von "Vampyr", nach wie vor jedoch erlebt man das Unheimliche in klassischer Form nach Ernst Jentsch: intellektuelle Unsicherheit. Nach wie vor gilt dieser 1932 uraufgeführte Film den einen als sensationelles Meisterstück des Horrorfilms, den anderen als wirres Machwerk, als - so ein imdb-Kommentar - "dull mess". Die verwirrenden Blickwinkel, die schleichenden Bewegungen der Kamera, die immer noch Schaurigeres zu erwarten und vorauszuahnen scheinen, es aber nicht übertragen, erzeugen das Gefühl, "es stehe jemand - oder etwas - hinter einem und würde einen regungslos beobachten." (Everson 172). Das hält man entweder keine 10 Minuten aus, oder man ist so gebannt, daß man sich 70 Minuten nicht mehr bewegt.

Was Dreyer an Kameraführung / Cinematographie vorlegt, ist derart einzigartig, daß es entweder den Eindruck von Sehstörung hervorruft, oder aber einen willigen, zur Extrakonzentration bereiten Zuschauer hineinzieht in komplette Hingabe an diese Welt, in ein überwältigendes Gefühl von Faszination an der phantastischen, eindringlichen Bildsprache eines Films, der selbst von ruhelosen Mächten heimgesucht scheint, und in lustvolles Sichausliefern an die bedrohliche Stimmung, die er transportiert, an die "Heraufbeschwörung einer Atmosphäre miasmatischen Schreckens" (Pirie 47). Das Grauen als visuelles Poem: "Vampyr" vermag die Aufmerksamkeit zu stimulieren wie nur wenige andere Filme. Du mußt nicht Caligari werden, aber Du bist auch Allan Gray: veränderte Psyche bedeutet veränderte Wahrnehmung, und Wirklichkeit ist das, was wirkt. Den Effekt, den er mit "Vampyr" zu erzielen versuchte, beschrieb Dreyer einmal so:

"Man stelle sich vor, daß wir in einem gewöhnlichen Zimmer sitzen. Plötzlich wird uns mitgeteilt, daß sich hinter der Tür ein Leichnam befindet. Von einem Augenblick zum anderen ist der Raum, in dem wir sitzen, völlig verändert: alles hat ein anderes Aussehen angenommen; das Licht, die Atmosphäre haben gewechselt, wenn sie auch physisch die gleichen geblieben sind. Der Grund ist der, daß wir uns verändert haben und daß die Dinge so sind, wie wir sie erfassen." (Seeßlen / Weil 73 ff.)

Allan Gray ist ein blasser, modern gekleideter junger Mann, der, so der erste Schrift-Titel, "sich in die Studien des Teufelskultus und Vampyr-Aberglaubens versenkte. Die Beschäftigung mit den Wahnideen vergangener Jahrhunderte machte ihn zu einem Träumer und Phantasten, dem die Grenze zwischen Wirklichkeit und Übernatürlichem verlorenging..." - Jede Grenze erzeugt das Jenseits der Grenze, wo das Andere und Fremde wartet; darum ist Horror, die Melange aus Schrecken und Faszination, der Grenzzwischenfall schlechthin.

Erstes Bild: ein Gasthausschild in Form eines Engels. Gray, Angelzeug über der Schulter, gelangt zum einsam am Fluß gelegenen Gasthof in der Nähe des Dörfchens Courtempierre. Schon das "Wer ist da? Gehen Sie dort herum!" des Mädchens, das vom Fenster aus den Weg weist, klingt wie ein Ruf in einem Traum, seltsam losgelöst von aller sichtbaren Präsenz. Gray sieht einen Mann, der wie der Schnitter eine Sense trägt und am Fluß eine Glocke läutet, 12mal.
 
 
 

 

Vielleicht nur ein Arbeitsmann auf seinem Weg, aber es wirkt wie ein mysteriöses Zeremoniell. Ein Fährmann erscheint. Die männliche Gestalt betritt die Fähre, als Gray sein Zimmer betritt. Beide setzen über an ein anderes Ufer. Gray blickt aus dem Fenster, der Blick des Sichelmannes gilt ihm, ominös. Diese ersten Shots etablieren bereits auf außergewöhnliche Weise das Gefühl des Kontakts mit einer anderen Welt. Was beginnt hier? Der surreale Impressionismus eines von einem mythischen Bösen faszinierten Mannes mit unsicherem Zugriff auf die Wirklichkeit? Subjektive Phantasmagorie eines Menschen von besonderer Sensibilität? Bebilderung von Seelenlandschaft mit ihren unbewußten Ängsten und Sehnsüchten? Der Blick eines aus allen Zusammenhängen Gerissenen in eine verborgene Welt? "Chasing after passing visions" (Propaganda: The Chase) - ? Man könnte aus der Art, wie sich bei Dreyer Bilder aneinanderreihen, die man aus Träumen kennt, eine Art Naturalismus des Irrealen herleiten. Oder aber zugestehen, daß Dreyer hinter die Oberfläche des Realismus dringt. Die Welt ist alles, was für Allan Gray der Fall ist, und dieser Fall ist nicht die Welt, wie wir sie kennen.

Dreyer zeige nicht den Mythos selbst, so Seeßlen / Weil, sondern die Wirkung des Mythos: das Phantastische als Faktor, der die physische Realität bereits verändert hat. Es gehe nicht um den Einbruch des Phantastischen in eine unverletzte Realität, sondern um die potentielle Omnipräsenz des Phantastischen, die sich herleitet aus der potentiellen Omnipotenz der Wahrnehmung. Sozusagen: physische Realität und subjektive Wahrnehmung nicht als zwei aufeinander abzustimmende Bereiche, sondern als die Elemente einer dauernden Vermischung, in der jede materiale Ontologie von vornherein obsolet ist, weil sie ständig von "Realität" als Effekt psychischer Verdichtungen kontaminiert ist, alles Gesehene zum Zeichen wird. Nichts ist wahr, alles ist wahr.

Der für das Okkulte empfängliche junge Mann im Zweireiher mit Krawatte, der erstaunliche Ähnlichkeit mit H. P. Lovecraft aufweist, versinkt in eigenartigen, unheilvollen, doch auch betörenden Wahrnehmungen; unmöglich zu sagen, was Realität ist, was Traum, was Phantasie.

Während er eine Kerze hochhält, um ein seltsames Bild zu betrachten, ist eine Stimme zu hören, die zunächst schaurig Undefinierbares von sich gibt, als würde Nichtmenschliches sich an menschlicher Sprache versuchen; schließlich ist vernehmbar: "... du sollst leben... le-ben...". Gray folgt der Stimme; auf dem Korridor kommt ihm ein blinder Alter mit entstelltem Gesicht entgegen. Gray flieht zurück in sein Zimmer, verschließt die Tür, auf der Tonspur sind noch die Fetzen "Adern" und "das Blut" zu hören. Wie diese leichenhafte, alptraumhafte Gestalt im Haus herumschleicht, wie ihre Erscheinung und ihr Tun sich rationaler Erklärung verschließen: schon mit dieser Szene läßt Dreyer "ein fast religiöses Gefühl von der Nähe des Bösen aufkommen" (Pirie 46). Ein Film in der Tradition von Maupassants "Horla": jede Wahrnehmung steigert nur die unfaßbare Bedrohung. "Lichter und Schatten, Stimmen und Gesichter", so der Zwischentitel, "schienen eine verborgene Bedeutung zu erhalten. Allan Gray spürte, wie das Unheimliche Macht über ihn gewann (...), und die Furcht vor ungreifbaren Dingen folgte ihm in seinen unruhigen Schlaf..."

Es klopft an seine Tür, Gray erwacht - sofern nicht genau hier sein Traum / seine Phantasie beginnt. Der Schlüssel dreht sich im Schloß. Entsetzlich langsam öffnet sich die Tür, schließlich betritt ein alter Mann das Zimmer. Warum eigentlich? Ist nicht auch eine verschlossene Zimmertür eine Grenze, die nicht so ohne weiteres übertreten werden dürfte? Horror kennt keine verschlossene Tür. 
 
 
 
 

 
Der Mann kommt langsam an Grays Bett, blickt ihn eindringlich und ernst, jedoch auch seltsam unverwandt an. "Wer sind Sie?" – Der Mann reagiert nicht auf Gray. Er geht zum Fenster, läßt Licht in das Zimmer. Lauscht dann. "Still!" – Er deutet nach oben, wie einer, der etwas vernimmt, seine nächste Geste wirkt wie Verwirrung über das, was er vernommen hat. Wir aber haben nichts vernommen. Der Mann tritt wieder an Grays Bett: "Sie darf nicht sterben! Hören Sie!" Grays Augen sind weit aufgerissen. In seiner abgrundtiefen Bestürzung, von etwas Unbeschreiblichem heimgesucht, erscheint der Alte wie ein spukhafter Bote aus dem Labyrinth, in dem es Verbindungen zwischen den Lebenden und den Toten gibt, die jeden Atemzug bedrücken: Furcht in jeder Seele, jedem Winkel, doch keine Worte dafür.

Der Alte legt ein Päckchen auf Grays Tisch und schreibt darauf: "Zu öffnen nach meinem Tode", als wäre es die Mitteilung für einen Abwesenden, und als wäre dieser Tod unausweichlich. Dann verläßt er das Zimmer. Eindringen und Präsenz des Fremden in Grays Zimmer in ihrer fast unerträglich in die Länge gedehnten Unerklärtheit: komplett enervierend.

"Eines", so der nächste Zwischentitel, "fühlte Allan Gray: Eine Menschenseele in Todesnot sandte einen Ruf um Hilfe aus. Und eine innere Stimme gebot ihm, dem Ruf zu folgen." So wandelt Gray hinaus in die Mondlichtnacht. Er sieht die Bewegung einer Gestalt, die sich auf einer Wasseroberfläche spiegelt, aber am Ufer ist niemand zu sehen. Da ist der Schatten eines Mannes, der Erde schaufelt, doch die Schattenerde fliegt nicht von der Schaufel, sondern zu ihr hin. Gray betritt ein altes Gebäude. 
 
 
 

 


Da ist der Schatten eines Soldaten mit Holzbein, der durch sein Eigenleben als Schatten humpelt und eine Leiter erklimmt, um seine Gebieterin zu warnen. Diese nähert sich stumm durch einen Korridor, Gray eilt davon. Sieht, wie der Holzbeinschatten seinen Gewehrschatten abstellt und zu seinem sitzenden Eigentümer zurückkehrt. Der wird von der Alten gerufen: "Gehorche!" Der Vampir in "Vampyr" ist eine alte Frau, die "Boshaftigkeit und Macht ausstrahlt, zugleich aber auch so etwas wie Mitleid aufkommen läßt" (Everson 71). Sie ist es, die das Dorf in Bann und Bedrückung hält.

In dem Gebäude von undefinierbarer Architektur entdeckt Gray weitere Schatten, die marionettengleich zum Bal Musette ihren makabren Schattensabbat tanzen. In der Höhe drehen sich langsam die Schatten riesiger Wagenräder. Die weißhaarige Alte erscheint und befiehlt der Schattenwelt mit einer majestätischen Geste Ruhe. Dieser Ausruf, "Ruhe!!!", erscheint in allen drei Sprachversionen des Films, offensichtlich war er integraler Bestandteil der (wunderbaren) Filmmusik von Wolfgang Zeller.
 
 
 

 
 
Gray steigt irgendwo empor, öffnet eine Luke. Hundegebell ist zu hören. Die Kamera schwenkt von Gray weg, man sieht einen Sarg, übersät mit Hobelspänen, und ein Schild: "Docteur Medecin". Die Kamera vollführt, wie sie es zu tun pflegt, wenn sie die Perspektive des Protagonisten einnimmt, eine Bewegung durch den Raum, schwenkt aber dann rasch zurück und "erblickt" am Ende der Bewegung den bereits wieder enteilenden Protagonisten. Dadurch entsteht im Zuschauer "das unheimliche Gefühl (...), gleichzeitig in zwei Wesen zu existieren." (Everson 74).

Gray betritt zwei weitere Räume, in denen erneut das Hundegebell und die Laute anderer undefinierbarer Wesen zu hören sind, sie sind angefüllt mit alten Büchern, Schädeln, Petrischalen, staubigen Flaschen, chirurgischen Instrumenten, dem seltsam aufgerichteten Skelett eines Kindes und anderen Sonderbarkeiten einer Nekromanten-Klause. Schließlich kommt Gray zu einer Treppe und sieht - eine Kameraeinstellung, die Hitchcock beeindruckt haben dürfte - weiter oben eine Hand, die sich am Treppengeländer bewegt, von jemandem, der langsam herabsteigt; 15 Sekunden lang ist nur die Hand zu sehen. Es ist der Dorfarzt, der hier haust, schurkischer Diener der Vampirin. Er scheint zu lauschen, während er herabsteigt; man vermutet natürlich, er steigt herab, weil er Gray gehört hat. Vollkommen unerwartet und rätselhaft aber geht er, immer noch lauschend, an Gray vorbei, als wäre dieser gar nicht da. 
 
 
 

 

Erst als Gray ihm folgt, wendet sich der Doktor ihm zu: "Haben Sie gehört?" - "Ja! Das Kind", antwortet Gray. "Es ist kein Kind hier", äußert der Doktor sibyllinisch und weist Gray die Tür. "Aber... die Hunde!", sagt Gray. Auch keine Hunde hier. 

Eine andere Tür öffnet sich. Der Arzt empfängt die Vampirin, zieht den Hut vor ihr, geleitet sie hinein. Die leeren Augenhöhlen eines Totenschädels beginnen zu leuchten. Ein anderer Totenschädel dreht sich, wie um das Entree des Bösen besser sehen zu können. Die Alte überreicht dem zweifelhaften Arzt ein Fläschchen - Gift.






 

 
 
 
Sich entfernende, Zeichen gebende, kindhaft wirkende Schatten/Schemen weisen Gray den Weg durch einen Wald, er gelangt zu einem Château. Zu seinem Erstaunen sieht er dort durch das Fenster den alten Mann wieder, der ihm im Gasthauszimmer erschienen war; es ist der Schloßherr. Weltabgeschieden, nur mit einer kleinen Dienerschaft, lebt er hier mit seinen beiden jungen Töchtern, Léone und Gisèle.
 
Léone siecht dahin, wird jeden Tag schwächer, als würde ihr etwas die Lebenskraft aussaugen; von seltsamen Wunden ist die Rede. "Das Blut! Das Blut!" deliriert sie. Eine Krankenschwester wacht bei ihr. Der Doktor wird erwartet.

In dem Moment also, da Gray das Château erreicht, wird der Schloßherr vom Gewehrschuß eines Schattens getroffen, "as though their souls were bound together in some mysterious way" (Milne 1971). Gray begehrt Einlaß, klopft, ruft, man solle sich beeilen. Extrem langsam jedoch, denn alle in diesem hypnotischen Film wirken wie hypnotisiert, bewegt sich der alte Diener auf die Tür zu, als wolle er bestätigen, wie sehr doch Traumgeschwindigkeiten dem Willen und dem Sehnen des Träumers zu widersprechen scheinen.

Sterbend legt der Schloßherr seiner jüngeren Tochter, Gisèle, etwas in die Hand, ein Schmuckstück in Form eines Herzens. Gray und zwei Diener tragen ihn in die Bibliothek. "Bitte, wollen Sie nicht bei uns bleiben?". Gray willigt ein. Die schöne, blasse, keusche Gisèle betrachtet ihn mit verstörend intensivem Blick, alle Fragen in sich verschlossen. 
 
 
 

 
 
Ein anderer Diener fährt mit der Kutsche davon; Gisèle: "Wo fährt er hin?" - Gray berührt ihren Arm: "Zur Polizei." Gisèle erschrickt, fast mehr vor der Berührung als vor der "Polizei". Gray öffnet das Päckchen, das der Schloßherr ihm überbracht hatte, und findet ein Buch. "Die seltsame Geschichte der Vampyre". Er liest von den "Verstorbenen, die wegen ihrer im Leben begangenen Untaten keinen Frieden im Sarge finden", die in hellen Vollmondnächten ihren Gräbern entsteigen, um jungen Menschen das Blut auszusaugen und dadurch ihr eigenes Schattendasein zu verlängern. "Der Fürst der Finsternis ist ihr Verbündeter und verleiht ihnen übernatürliche Macht im Reich der Lebenden und Toten."
Mit nur zwei Kamerabewegungen wird dann nicht nur unser point of view erneut unterminiert, sondern auch das Vertrauen darauf, daß irgendeine Wahrnehmung irgendeine Gewißheit verschafft: die Krankenschwester richtet die Bettdecke der schlafenden Léone, die Kamera schwenkt an der Wand entlang nach rechts, bis zu einer Tür. Die Krankenschwester, die hinter der Kamera um das Bett herumgegangen ist, taucht wieder auf, um diesen Nebenraum zu betreten, wo sie mit einer Wasserschüssel hantiert; die Kamera schwenkt zurück nach links: das Bett, in dem eben noch Léone lag, ist leer. Man ist fast zu schockiert, um zu begreifen, wie brillant diese Szene ist.
Eine Art Schluchzen ist zu hören. Oder ein Heulen? Oder ein übernatürliches Bellen? Wie etwas, das auf einer ganz anderen Wirklichkeitsfrequenz stattfindet. Die Tonspur ist voller Geräusche, die sich den Bildern nicht zuordnen lassen.

Gray liest weiter, von den Geschöpfen des Abgrundes, die bei Nacht die Wohnstätten der Lebenden heimsuchen: "Wer einem Vampyr verfällt, siecht rettungslos dahin." Ein Mal am Hals ist das Zeichen der Verdammnis, gegen das ärztliche Wissenschaft machtlos ist.

Gisèle erblickt Léone im Park, wo sie somnambul durchs Nachtlicht schreitet; Gisèle und Gray laufen ihr nach, rufen sie, wieder scheinen die unwirklichen, entrückten Stimmen nicht zu den Gesten und Bewegungen zu passen. Sie finden Léone auf eine Steinbank hingestreckt, die alte Vampirin über sie gebeugt; eine Pose, die an Füsslis "Der Nachtmahr" erinnert.


Die Alte erblickt sie, läßt ab, bewegt sich starr seitwärts, für ihre Verhältnisse rasch, aber immer noch maliziös langsam, bis sie entschwunden ist. Der alte Diener ist hinzugeeilt, auch die Krankenschwester, sie tragen Léone zurück in das Schloß; Gray ist dabei nur Beobachter, als wäre es ihm physisch unmöglich, einzugreifen. Er kehrt zu dem Buch zurück, liest weiter: wie eine Seuche übertrage sich "das Gelüst des Vampyrs auf sein Opfer, das zwischen blutgierigem Verlangen und verzweifeltem Abscheu vor diesem Wunsch hin- und hergerissen wird. Ein schuldloser junger Mensch wird selbst Vampyr und sucht sich seine Beute unter seinen nächsten Angehörigen." 
 
 
 

 
 
Die Krankenschwester entdeckt eine Wunde an Léones Hals, desinfiziert sie, und die zwischen Leben und Verdammnis schwebende Léone kommt zu sich. Ihr steigen Tränen in die Augen, sie beginnt hoffnungslos zu schluchzen: "Ach, könnte ich doch sterben... ich weiß, ich bin verloren... ich bin verdammt." Es ist eine Nahaufnahme von Sybille Schmitz, die dann für jene Szene, deren Grauen in nahezu allen Artikeln über Dreyers Film besonders betont wird, ihren Kopf wendet und mit entblößten Zähnen, bösartigen Augen, dämonischem Verlangen und plötzlicher, bestürzender, obszöner Blutlust ihre Schwester betrachtet.

"As we watch this take place, a peculiar, eerie feeling wells up within us. What effect will touching the vampire’s wound have on her? We have to wait a moment, as if giving time for the evil inside to have been agitated, and then slowly she smiles a diabolically evil smile. There are few moments in the history of the cinema more horrific." (Soren 52)

Gisèle, entsetzt, bewegt sich langsam zur Tür, wo die Krankenschwester steht; als Léones Blick, der Gisèle folgt, auf die Krankenschwester fällt, legt Sybille Schmitz in ihr Antlitz einen Haß auf den Todfeind, der kaum weniger schauderhaft ist.
Gisèle kehrt zu Gray zurück und haucht: "Ich glaube, sie stirbt..." Sie läuft zum Fenster: "Hat nicht jemand geschrien?" Gray geleitet sie behutsam zurück. Schnitt. Der alte Diener klopft an das Fenster, die Kutsche kommt zurück. Der Diener, der auf dem Kutschbock sitzt, ist tot, Blut tropft auf die Erde.

Gisèle schlafend auf dem Schloßgestühl. Man sieht, wie der alte Diener das Pferd wegführt. Wie Gray zu seinem Buch zurückkehrt. Wie die Kutsche schnell anfährt, weggezogen wird - offensichtlich nicht von einem Pferd. Gray liest weiter: "Ein Bericht aus Ungarn gibt davon Kunde, dass der Arzt des Dorfes, der seine Seele dem Bösen verschrieben hatte, eines Vampyrs Gehilfe und dessen Mitschuldiger an einer Reihe grauenvoller Verbrechen in dieser Gegend wurde." Wieder ist der Buchtext Menetekel. Es läutet, Gray hört, wie der Diener den Doktor empfängt, folgt dem Doktor hinauf ins Krankenzimmer. Der Doktor simuliert Untersuchung, Gray fragt, ob Léone nicht gerettet werden könne. Vielleicht, antwortet der Doktor, aber sie brauche Blut. "Es muß... Menschenblut sein." Gray willigt ein, sein Blut herzugeben. "Kommen Sie, junger Mann. Ich werde... sie... zur Ader... lassen." Befremdlicher, unheimlicher können Worte nicht gesprochen werden als in diesem Film. Gisèle ist erwacht: "Warum kommt der Arzt immer bei Nacht?"

Der alte Diener beginnt nun selbst, in dem Buch zu lesen: "Sobald der Vampyr das Opfer ganz in seiner Macht fühlt, versucht er, es zum Begehen des Selbstmordes zu treiben und dadurch dem Bösen seine Seele zu überantworten." Gray, nach dem Aderlaß geschwächt, sinkt auf einem Stuhl in sich zusammen, der Doktor schickt die Krankenschwester barsch fort. Der Diener liest über die seltsame Weise, den Vampyr zu vernichten, davon, wie man einen Toten morden muß. Gray - ist er wach, träumt er? - betrachtet seinen Arm, ruft: "Herr Doktor! Ich verliere ja mein Blut!" - "Ha! Unsinn! Ihr Blut ist doch hier!"

"Bei Tagesgrauen öffnete man das Grab", liest der alte Diener, "in dem man die Alte liegen fand, so, als ob sie schliefe. Einige Männer trieben ihr einen eisernen Pfahl durch das Herz und nagelten so die entsetzliche Seele des Weibes an die Erde fest." Gray scheint in einer Art von Schlummer, eine Stimme ist zu hören: "Komm mit mir... folge mir... wir werden eine Seele sein, ein Blut... folge mir, der Tod wartet..." - Die Kamera richtet sich dabei auf die Tür, hinter der wir den Doktor wissen.

Der alte Diener liest schließlich von der Epidemie, die vor einem Vierteljahrhundert in Courtempierre herrschte, von dem Gerücht, daß ein Vampir die Ursache dieser Epidemie sein müsse.
"Viele Leute glaubten fest daran, dass nur Marguerite Chopin, die auf dem Friedhof von Courtempierre begraben liegt, dieser Vampyr sein könne. Marguerite Chopin war während ihres ganzen Lebens ein Ungeheuer in Menschengestalt gewesen. Sie starb reuelos, und die Kirche verweigerte ihr in der Todesstunde die Sakramente." 

Die Tür, hinter der sich der Doktor aufhielt, geht auf und wieder zu, wie keine Tür auf- und wieder zugehen kann, und wir sehen niemanden. Der Diener hat etwas gehört, forscht mit seiner Lampe, sieht den Doktor die Treppe hinaufsteigen, zu einem Fenster, ein Schrei ist zu hören. Schnitt auf Gray, es donnert, blitzt, ein Totenschädel, eine Skeletthand mit dem Giftfläschchen, Visionen oder Bilder aus Grays Traum, dann wird der von der Blutentnahme geschwächte Gray, sofern er nicht träumt, vom Diener geweckt zu werden, vom Diener geweckt: "Kommen Sie! Schnell! Es geschieht etwas Furchtbares!" Schnitt auf Léone, die nach dem Giftfläschchen greift, das der Doktor auf dem Nachttisch stehen ließ - um die Absicht des Vampirs zu erfüllen, eine Selbstmörderseele in ewige Verdammnis zu zerren. Diese Szene wird noch bewegender, wenn man sich vor Augen hält, daß Dreyers leibliche Mutter, Josefine Bernhardine Nilsson - er war ein uneheliches Kind, vom Vater zur Adoption freigegeben - Selbstmord begangen hatte, als er zwei Jahre alt war; und daß die rätselhafte Sybille Schmitz - "Ich wurde scheintot geboren und in einen Sarg gelegt. Erst die Hammerschläge, die ihn schlossen, erweckten mich zum Leben." - 1955 mit einer Überdosis Luminal dem Wunsch nachgeben würde, "für immer zu schlafen".

Gray überwältigt den eben das Zimmer betretenden Doktor und verhindert Léones Selbstmord. Der Doktor ist augenblicklich verschwunden, und Gisèle mit ihm. Donnern, Heulen und tanzende Schatten im Haus, selbst die Architektur scheint aufgewühlt. Wieder zieht Dreyer mit einem virtuosen, vorsätzlich verwirrenden Effekt den Zuschauer noch tiefer in das Mysterium, indem er ihn zu einem zweiten Gray macht: auf der Suche nach Gisèle und dem Doktor läuft Gray auf die Kamera zu, in einen Raum des Schlosses hinein; die Kamera macht einen 360°-Schwenk, wir haben mit ihrem Blick einmal das Zimmer abgesucht; als die Kamera zum Ausgangspunkt zurückkehrt, ist auch Gray schon verschwunden. Unser Blick aber ist, gerade weil er ratlos in diesem Raum festhängt, autonomer Bestandteil dieses "Traums".

Dann, draußen, tanzende Schemen, jene, die Gray schon einmal führten. Sie scheinen Zeichen zu geben, Gray folgt ihnen. Die Krankenschwester betet am Bett Léones. "Schwester... ich habe Angst, zu sterben... ich bin verdammt... mein Gott... mein Gott... mein Gott." Der Diener: "Schwester... sie darf nicht sterben... sie muß bis zum Sonnenaufgang am Leben bleiben... hören Sie!" - Der Diener hat einen Entschluß gefaßt.

Während sich der Diener im unwirklichen Licht auf den Weg zum Friedhof macht, läuft Gray durch den Park, fällt, läßt sich auf eine Bank nieder. Grays durchsichtige Hülle verläßt ihn. Als diese läuft er zu dem alten Gebäude, in dem er den Doktor zum ersten Male traf. Er entdeckt den Sarg, zieht das Tuch ab, und sieht sich selbst im Sarg liegen. 

An diesem Punkt ist Gray in dreifaches Sein aufgeteilt: jener Gray auf der Bank im Park, der eingeschlafen sein mag; die geisterhafte Hülle, die nun unterwegs ist; und jener Allan Gray im Sarg, den der Geisterwanderer entdeckt.
 
 
 

 

Hinter dem Glas einer Tür sieht er das Licht- und Schattenspiel, mit dem Dreyer das Toben des Übernatürlichen suggeriert, Gray späht hinein, sieht Gisèle, an ein Bett gefesselt.
 
 
 
 

 
 
Gray kann die Tür nicht öffnen. Der Doktor kehrt zurück, Gray beobachtet ihn. Der Doktor holt den Schlüssel zu der Tür, hinter der Gisèle gefangen ist, aus einer alten Standuhr ohne Uhrwerk, doch er schließt nicht auf. Auch der einbeinige Soldat ist jetzt da. Gray versteckt sich, sieht zu, wie der Einbeinige, im Beisein des Doktors, das Tuch vom Sarg zieht, Grays lebende Leiche darin. Mit den starr aufgerissenen Augen des im Sarg Liegenden sieht man durch das Glasfenster des Sargdeckels den Kopf des Soldaten, während er den Sarg schließt. Schnitt auf den reglosen Kopf Grays im Sarg, Entsetzen in den Augen. Die zweite Sequenz von "Vampyr", die stets besonders hervorgehoben wird, die klaustrophobische Begräbnisvision, nimmt ihren Lauf.

Der Zuschauer liegt selbst im Sarg, lebendig, bewegungsunfähig, hilflos, und sieht mit Grauen durch das Glas, wie der Soldat den Sargdeckel zuschraubt mit knirschendem Geräusch. Wie eine Kerze auf das Glas gestellt wird, die Hände des Soldaten, die mit einem Streichholz die Kerze anzünden. Dann eine andere Hand, die die Kerze nimmt, dann das Gesicht der alten Vampirin, die kalt und unerbittlich hineinstarrt zu uns, wie um zu erkennen, ob wir wirklich da sind.

Wir sind da, mit der genuinen menschlichen Angst, lebendig begraben zu werden. Aber was folgt, ist auch von unwirklicher, seltsamer Schönheit. Der Doktor befiehlt: "Also los! Marsch!" Träger heben den Sarg an, "wir" werden hinausgetragen, Glockengeläut setzt ein, mit Grays entsetzensstarren Augen sehen wir weiter durch die Glasscheibe: Zimmerdecke, der Doktor, dann der Himmel, Wolken, Baumwipfel, Kirchenfassade, Kirchturm.

Die vier Träger kommen mit dem Sarg an Grays Bank vorbei und lösen sich auf, als Gray wieder "Substanz" gewinnt. Er "erwacht", läuft zum Friedhof, wo der Diener das Grab der alten Vampirin öffnet. Gray nähert sich zögernd. Sie nehmen den Sargdeckel ab, leuchten in das Grab, sehen die Alte in ihrem Sarg liegen. Der Diener setzt - einzige konventionelle Genreszene des Films - den Eisenpfahl an, stößt zu; wir sehen den düsteren Himmel und hören Hammerschläge. Das Gesicht der Alten wird zum Totenschädel.
Da der Vampir stirbt, verliert der Fluch, der auf den Opfern lastet, seine Kraft; Léone richtet sich in ihrem Bett auf: "Ich fühle mich stark... meine Seele ist frei..." - Frei, um in Frieden zu sterben.

Im Haus des Doktors, der Soldat spielt auf einem Banjo. Donnern und Blitzen und ein vor dem Fenster erscheinendes Antlitz (der Schloßherr), eine übernatürliche Heimsuchung, die Dreyer wieder als undefinierbares Licht- und Schattenspiel hinter Glas zeigt, treibt den Arzt aus seinem Haus, die Zeit des Einbeinigen ist dagegen abgelaufen. Gray ist plötzlich anwesend, nimmt den Schlüssel für die Tür zur schönen Gefangenen aus der Standuhr, befreit Gisèle von ihren Fesseln, läuft mit ihr zum Fluß, sie besteigen ein Boot.

Der Doktor flieht in eine Mühle. Der Schloßdiener ist ihm gefolgt. Als der Doktor plötzlich gefangen ist, weil sich auf mysteriöse Weise die Tür eines Gitterkäfigs hinter ihm schließt, setzt der Diener die schweren Mühlräder in Gang, der sinistre Doktor wird von Kaskaden herabfallenden Mehls langsam - sehr langsam - zugeschüttet und erstickt, begraben von einer Lawine weißen Staubes: eine der beklemmendsten, erschreckendsten, Szenen der Filmgeschichte. Beim ersten Sehen sträubt man sich gewissermaßen gegen den Glauben, daß man tatsächlich gerade sieht, was da geschieht. Beim zweiten Sehen weiß man, daß der Darsteller des Doktors ein sehr tapferer Mann war.
 
 
 

 
 
Gray und Gisèle überqueren langsam den in Nebel gehüllten Styx, gelangen auf die andere Seite der "anderen Seite", wandern durch den Wald, Hand in Hand, zwischen zwei Welten von einem diagonalen Sonnenstrahl getroffen, dem Licht eines neuen Morgens entgegen.
 
"Vampyr" dürfte der Film sein, der einem Traumerlebnis am nächsten kommt. Zudem führt Dreyers Film vor Augen, wie es aussehen müßte, wenn der Träumende im Traum auch noch sich selbst als agierende Person sähe.

Charaktere und Begebenheiten scheinen geführt und gelenkt von verborgenen Mächten aus der Welt hinter der Welt. Nicht die Vampirin ist das Monströse. Das Ungeheuerliche ist das, was der ganze visuelle Kontext vermittelt: da ist etwas, das sich nie erschließt, nie offenbart, aber alles durchdringt. Über allem liegt das Gefühl einer unsichtbaren, aber allgegenwärtigen Präsenz. Ein unerklärliches, unfaßbares Grauen. Eine Serie von spukhaften Bildern, die intensive Gefühle auslösen, doch die Übergänge wirken, als würden sich verwirrende, unzusammenhängende Traumfragmente nach unbekannter Gesetzmäßigkeit aneinanderreihen. Da wir Allan Gray durch dieses Reich folgen, überträgt er auf uns zugleich eine phantastische sinnliche Unmittelbarkeit und das Gefühl einer seltsamen Bindungslosigkeit. 

Es gibt kein Blut zu sehen; man spürt es, wie man die Wirkmacht des Unheimlichen spürt, das gleichsam aus den Szenen emaniert, bis es einen selbst in Trance versetzt. Die hypnotischen Bilder, die dichte Atmosphäre, die befremdlich faszinierenden Gesten: ein magischer Sog. Dreyer gibt uns mit unorthodoxen, brillanten Effekten das Gefühl, dem Abenteuer Grays nicht nur beizuwohnen, sondern es von innen her zu erleben. Virtuos läßt Dreyer den Zuschauer fühlen, was Gray fühlen müßte, würde er fühlen. Die Kamera folgt verwirrenden Regeln, die das unheimliche Gefühl verstärken, man selbst wäre nur ein wandernder Traumcharakter.

Mit Allan Gray bewegt man sich zwischen dem Horror völliger Desorientierung und der Gabe, Dinge zu erkennen, die für gewöhnlich der Wahrnehmung nicht zugänglich sind: Frieda Grafe sprach von Dreyers Fähigkeit, etwas zu  Realität zu verdichten, das sich der Darstellung sonst entzieht. Sobald uns, wie Dreyer selbst formulierte, irgendein Geschehnis in einen Zustand hochgespannter Aufmerksamkeit versetzt, schreiben wir den Dingen, die uns umgeben, andere Bedeutungen zu.

Es bleibt offen, ob sie diese Bedeutungen haben. Allan Gray ist der Katalysator seines eigenen strange adventure. Es ist, als hätte Gray den Durchgang zu einem Paralleluniversum gefunden, als bliebe aber die Schwelle bei jedem Schritt unter seinen Füßen: nie ganz ausgeschlossen, nie ganz involviert streift er durch das Zwischenreich der Wirklichkeit des Unwirklichen. Der unter dem Pseudonym Julian West agierende Darsteller des Allan Gray, Baron Nicolas de Gunzburg, war ein junger Filmenthusiast, der gleichzeitig als Finanzier des Films dafür sorgte, daß Dreyer über jeden Aspekt der Produktion vollständige Kontrolle hatte und genau den Film machen konnte, den er wollte. Dem jungen Baron wird zuweilen ungeschickte Schauspielkunst zur Last gelegt, was vollständig neben der Sache ist. Wenn er quasi somnambul durch diesen Film läuft, mit ausdruckslosem Erstaunen in den großen, aber merkwürdig leeren Augen, ohne jedes Mienenspiel, flach und kontrastarm wirkend, dann ist das nur logisch und richtig: Expression? Man sieht sich selbst nicht im Traum.

Nur Sybille Schmitz (Léone) und Maurice Schutz (der Schloßherr) waren professionelle Schauspieler. Rena Mandel, die Darstellerin der ätherisch-keuschen Gisèle, arbeitete als Aktmodell für einen Pariser Photographen. Sie berichtete, daß Dreyer ihr während der Dreharbeiten Bilder von Goya zu zeigen pflegte. Den Doktor fand Ralph Holm, ein Assistent Dreyers, eines Nachts in Paris in der letzten Metro - als heruntergekommenes Individuum mit einem Hutfilz auf wirrem Haar, vogelähnlichen, ruckartigen Kopfbewegungen, und merkwürdig stechenden Augen, die hinter den Brillengläsern böse zu funkeln schienen; wie sich herausstellt, handelt es sich um den polnischen Poeten Jan Hieronimko, der einige Tage später an der Sorbonne geehrt wird. Die Darstellerin der Marguerite Chopin, eine respektable Witwe, war die Mutter einer Schauspielerin, von Holm entdeckt, als er eigentlich die Tochter besuchen wollte. Das seltsam Unstete der Bewegungen und das leicht verschlagen Wirkende der Mimik des Doktors, die unheimlich gleitende Präsenz der Vampirin: Dreyer nutzt die Eigenheiten seiner Darsteller konsequent, ohne ihnen Schauspiel im eigentlichen Sinne oder Nuancierung psychologischer Details abzuverlangen, und verleiht ihnen gleichzeitig die schemenhafte Präsenz von Traumgestalten. Die madonnenbleichen Schwestern mit ihrem stummen Entsetzen sind das Schöne als der Beginn des Schrecklichen.

Die Darsteller wirken selbstversonnen, körperfremd, matt, eingeschlossen und versunken in etwas, das nur halb explizit wird: es sind sonderbare, unheimliche performances, bei denen Bewegungen und Blicke aus einem narrativen Grund der Bilder zu kommen scheinen, der sich entzieht. Das gesamte Sounddesign ist verstörend. Die kryptischen Sätze und fragmentarischen Gesprächsfetzen wie Echos aus einer nicht zugänglichen Welt, die einen frösteln lassen, nicht selten am Rande des Unverständlichen; die Overdubs mit den seltsam ausdruckslosen Stimmen, der fremdartigen Aussprache (angeblich bestand Dreyer darauf, daß alle Darsteller sich selbst in allen drei Sprachen nachsynchronisieren, unabhängig davon, ob sie die Sprache verstanden oder nicht), all das wirkt, als hätte das Jenseits von diesen Charakteren so vollständig Besitz ergriffen, sie so sehr durchdrungen, daß sie im Bewußtsein befristeter Zeit nicht mehr so sprechen, als wäre das, was sie sagen, noch unbedingt für irdische Ohren bestimmt. Flüchtige Stimmen, die aus unendlicher Entfernung zu kommen scheinen, aus einer opaken Schicht der Wirklichkeit, gebannt von Worten wie "Blut" und "sterben". Oft wirken die Figuren so, als wollten sie Bedeutendes sagen, doch dann schweigen sie, und die Stille wird ohrenbetäubend. 

Die Phasen furchterregender Stille, die eigenartigen, befremdlichen Übergänge im Ablauf, all das verstärkt die bedrohliche Atmosphäre des Films, die Undurchdringlichkeit des Geschehens, das Gefühl des Schlafwandelns. Der Text des Vampirbuches, das der Vater von Léone und Gisèle Allan Gray überbringt, ist zwar wie eine guideline durch den Film, aber es bleibt das Gefühl, daß die Erklärungen nichts wirklich erklären.

Gedreht wurde bevorzugt im Morgengrauen, und die ungewöhnliche visuelle Qualität der Außenaufnahmen mit ihren immateriell wirkenden Landschaften erreichten Dreyer und Kameramann Rudolph Maté durch bewußte Wiederholung eines Mißgeschicks: bei der ersten Ansicht der rushes bemerkten sie, daß einer der takes grau war. Sie fanden die Ursache (versehentlich auf die Linse projiziertes Licht) und arrangierten nun für jeden take dieses "falsche Licht": schwarzer Tüll zwischen der Kamera und einem auf die Kamera gerichteten Scheinwerfer ließ bei den Aufnahmen jene bleiche, diffuse Helligkeit entstehen, die nicht im Tag, nicht in der Nacht zuhause ist.

Ebbe Neergaard, ein Schriftsteller und Freund Dreyers, sprach von weißem Unbehagen: Beklommenheit, die durch Licht ausgelöst wird. Gefühle also, die sonst eher durch Dunkelheit hervorgerufen werden. Das weiße Unbehagen trägt zur Desorientierung bei, zum Aufheben des Aufgehobenseins in der Realität, wie wir sie kennen. Dieses Licht, das kein Licht ist, schenkt kein Vertrauen. Die Lawine weißen Mehls, die den Doktor begräbt, vollendet das weiße Unbehagen.

Dieser Film, der die Realität auf so intensive Weise unwirklich und traumgleich erscheinen läßt, wurde ausschließlich an real existierenden Schauplätzen gedreht, die Dreyer in der Nähe von Paris gefunden hatte: das alte, dunkle, verfallene Château von Courtempierre, moderig von Feuchtigkeit, voller Ratten; eine alte Gipsfabrik, ein Pfarrhaus, eine stillgelegte Eisfabrik, ein Landgasthaus.

Der Film erlebte seine Uraufführung in Berlin im Mai 1932. Zischen, Buhen, Hurrarufe. In Wien kam es zu einem veritablen Skandal, aufgebrachte Zuschauer verlangten ihr Geld zurück, Polizei stellte die Ordnung mit Schlagstöcken wieder her. Dänische Zeitungen berichten von einem hochinteressierten Publikum. In den USA erfuhr der Film offenbar keine kommerzielle Aufführung, 16mm-Kopien kursierten im Untergrund. Die Familie de Gunzburg verlor mit "Vampyr" fast ihr ganzes Geld.

Subtiler Horror, so alptraumhaft wie traumhaft schön, voller Andeutungen und Symbole, voller Unerklärlichkeiten, innovativ, suggestiv, mit einem Leichnam hinter der Tür - aber wir wissen nicht, hinter welcher Tür.

Diese Beschreibung zerstört sich selbst in 20 Minuten. Denn "Vampyr" ist unbeschreiblich.
 
 
 
 

Rena Mandel





Zitate aus:
William K. Everson, Klassiker des Horrorfilms, München 1979
Tom Milne, Vampyr, in: "The Cinema of Carl Dreyer", published by A. Zwemmer, Ltd. 1971.
David Pirie, Vampir Filmkult, Gütersloh 1977
Georg Seeßlen u. Claudius Weil, Kino des Phantastischen. Geschichte und Mythologie des Horror-Films, Reinbek bei Hamburg 1980
David Soren, The Rise and Fall of the Horror Film, Second Printing (revised), Baltimore, Maryland 1995 (First Edition: 1977).














[erstveröffentlicht / first published 10.05.2011]