Am Abend des 29. Mai
1913 kommt es im Pariser Théâtre des Champs-Elysées zu einem der größten
Skandale der Bühnengeschichte: die Ballets
Russes unter der künstlerischen Leitung von Sergej Diaghilew führen das
Ballett "Le Sacre du Printemps" auf. Komponist der Musik ist Igor
Strawinsky, für Bühnenbild und Kostüme ist der Maler Nicholas Roerich
verantwortlich, die Choreographie ist das Werk des vielleicht besten, gewiß aber
faszinierendsten Tänzers, den das 20. Jahrhundert sah, Vaslav Nijinsky.
Das Ballett erlebt nur
wenige Aufführungen. Während der Tänzer Nijinsky als "Gott des
Tanzes" verehrt wird, gilt er dem nach der Uraufführung grollenden
Strawinsky als "unmusikalischer Dilettant", dessen Choreographie ein
grandioser Mißerfolg gewesen sei. Nijinskys Arbeit gerät in Vergessenheit und scheint
unwiderruflich verloren. Nijinsky selbst lebt seit den Zwanziger Jahren bis zu
seinem Tod im Jahre 1950 in geistiger Umnachtung.
In der zweiten Hälfte
des 20. Jahrhunderts bahnt sich ein Wandel an; so plant der britische Regisseur
Tony Richardson Ende der Sechziger einen Spielfilm über Nijinsky mit Rudolf Nurejew
in der Hauptrolle, das Projekt scheitert jedoch. Aber die Berichte über die
Uraufführung des Sacre finden neues
Interesse, und die Ahnung, welch einzigartige und überwältigende Schöpfung
Nijinskys Choreographie gewesen sein muß, führt zu ersten Versuchen, das Werk
zu rekonstruieren. 1987 sind diese Bemühungen schließlich von Erfolg gekrönt:
74 Jahre nach der Uraufführung bringt das Joffrey Ballet die von der
US-Tanzwissenschaftlerin Millicent Hodson in Zusammenarbeit mit dem englischen
Kunsthistoriker Kenneth Archer erstellte Rekonstruktion zur Aufführung,
zunächst in Los Angeles und New York, dann in Europa:
"... es übertrifft
alle Erwartungen, denn was man schon durch das Studium der Rezensionen zu
wissen glaubte, bestätigt sich jetzt: Nijinskys Choreographie ist ein
Meilenstein in der Tanzgeschichte; sie kann als die erste moderne Choreographie
bezeichnet werden."
Mehr noch als die
unerhörte Musik Strawinskys war die Choreographie Nijinskys im Jahre 1913
siriusweit entfernt von dem, was als "schön" galt. Strawinskys Musik
indes fand Anhänger, die schließlich genau dies in ihr fanden: Schönheit.
Nijinskys Choreographie jedoch traf das härteste Prinzip der Machtausübung: das
Ignorieren. Das Ungeheuerliche wurde der Öffentlichkeit entzogen, die
Choreographie vorsätzlich zu Tode vergessen. Der lange Weg, den "Le Sacre
du Printemps" nahm, um von verstörender Kunst in das Reich des Schönen zu
gelangen, beginnt, als einer der Abtrünnigen heroisch seine Bürde trägt:
"Heute, den 4. XI.
1912, Sonntag, unter unerträglichen Zahnschmerzen, habe ich die Musik des Sacre
beendet. I. Strawinsky, Clarens, Chatelard Hotel."
"Eines Morgens kam
ich früher hinauf als sonst", schreibt Tamara Karsawina über ihre Zeit an
der Ballettschule des Marinsky, "die Jungen waren gerade mit dem Training
fertig. Ich warf einen Blick in die Runde und traute meinen Augen nicht; ein
Junge stieg beim Sprung über die Köpfe der anderen und schien in der Luft zu
verharren. 'Wer ist das?' fragte ich Michail Obuchow, seinen Lehrer. 'Das ist
Nijinsky. Der kleine Teufel landet nie mit der Musik'."
Seit Obuchow beschlossen
hatte, seinen Wunderschüler der Öffentlichkeit zu präsentieren, hatten
Nijinskys "Macht, die federnde Leichtigkeit, die stählerne Kraft, die
Anmut seiner Bewegungen, die unglaubliche Gabe aufzusteigen, in der Luft zu
bleiben und - gegen alle Gesetze der Schwerkraft - doppelt so langsam wie beim
Aufschwung wieder abzusteigen; die Ausführung der schwierigsten Pirouetten und tours en l'air mit erstaunlicher
Nonchalance und offenbar ohne die geringste Anstrengung bewiesen, daß dies
außerordentliche Wesen die Seele des Tanzes war." (Romola Nijinsky)
"Seine unglaubliche
Fähigkeit, fast zu fliegen, schlug das Publikum in Bann, und sein entre-chat dix war ein weiteres
Wunder." Der entre-chat ist ein
Senkrechtsprung, bei dem die Füße einige Male in der Luft gekreuzt werden;
Nijinsky führte diese Bewegung im Sprung also zehnmal aus. Die Regel waren
sechs, in seltenen Fällen acht entre-chats.
Nijinskys Physiognomie
schien sich mit jeder Rolle, die er tanzte, zu verändern; wo der eigentliche
Nijinsky existierte, blieb ein Rätsel.
"Sobald er auf der
Bühne erschien, fuhr in das von seiner Reinheit und Perfektion hypnotisierte
Publikum ein elektrisches Beben. Alle Augen folgten ihm von einer Bühnenseite
zur anderen, die Zuschauer waren gleichsam hilflos, in Trance." (Romola
Nijinsky)
Anläßlich des ersten
Pariser Gastspiels der Ballets Russes
schrieb Henry Gauthier-Villars:
"Ich würde sie alle
feiern, wenn ich mich nicht gezwungen sähe, vor allem den Tänzer Nijinsky zu
preisen, das Wunder aller Wunder, den Meister der Entrechats… Als er schwebte
und lautlos in den Kulissen landete, entrang sich den Damen ein ungläubiges Ah! Es war wahrhaft der Sprung der
Seufzer."
Nijinsky selbst trug
wenig dazu bei, das Rätsel, das um ihn war, zu lösen; als man ihn fragte, ob es
nicht sehr schwierig sei, beim Sprung in der Luft zu schweben, sagte er
freundlich: "Nein, nein. Nicht schwierig. Man muß nur hochspringen und oben
ein bißchen warten."
Die Ballett-Tradition
erhob nicht die natürliche Schönheit des sich bewegenden Körpers, sondern die
Kunstschönheit des zum Zeichen stilisierten Körpers zum Ideal. Das Ziel der
Tanzkunst im klassischen Ballett heißt: weg von der Erde, weg von der Bindung
des Körpers an die Schwerkraft; gleichsam das Antigrave, wie es Kleist in seinem Aufsatz über das
Marionettentheater beschreibt:
"Zudem, sprach er,
haben diese Puppen den Vorteil, daß sie antigrav sind. Von der Trägheit
der Materie, dieser dem Tanze entgegenstrebendsten aller Eigenschaften, wissen
sie nichts: weil die Kraft, die sie in die Lüfte erhebt, größer ist, als jene,
die sie an der Erde fesselt. [...] Die Puppen brauchen den Boden nur, wie die
Elfen, um ihn zu streifen, und den Schwung der Glieder, durch die
augenblickliche Hemmung neu zu beleben [...]"
Auch die Tänzerin im
klassischen Ballett erreicht den Schein des Schwebens - seit Marie Taglionis
legendärer Innovation -, indem sie sich auf die Fußspitze erhebt und den Boden
nur noch so berührt, als würde sie ihn gleich verlassen; als wäre das der
Schwerkraft Entgegenwirkende in ihr.
Nijinsky hat wie kein anderer männlicher Tänzer dieses Ideal der
Schwerelosigkeit und Entmaterialisierung des Körpers umzusetzen vermocht.
1912 trat Nijinsky,
ermuntert von Diaghilew, zum ersten Male als Choreograph in Erscheinung; aus
dem darstellenden wurde der schöpferische Künstler. Mit der Choreographie zu
Debussys "L'après-midi d'un Faune", Nachmittag eines Fauns, schuf Nijinsky bereits eine vollkommen neue
Technik, die von den Tänzern eine ungeheure Willensanstrengung verlangte: nach
120 Proben wurde das 12minütige Werk am 29. Mai 1912 in Paris uraufgeführt.
Es gab im Faun keine Sprünge mehr, keine
Elevation, keine Schwerelosigkeit, nur noch halbbewußt wirkende, animalische
Gesten und Posen, sonderbar abrupte Bewegungen, und vor allem: die Tänzer
kehrten dem Publikum durchgehend ihr Profil zu, was den Eindruck von
Zweidimensionalität hervorrief, an ein bewegtes Relief erinnerte. Historiker
sind sich nicht einig über Nijinskys aufsehenerregende erotische Bewegung, die
er als Faun zuletzt auf dem Schleier einer Nymphe vollführt und die als
Obszönität in die Geschichte einging. Das Publikum war während des Balletts
mucksmäuschenstill; am Ende wurde laut gebuht, gerufen, gepfiffen und
geklatscht. Diaghilew war sichtlich außer Fassung, Nijinsky davon überzeugt,
daß seine erste Choreographie durchgefallen war. Diaghilew ließ das Werk an Ort
und Stelle wiederholen. Auguste Rodin würdigte das Ballett wie die Entdeckung
einer neuen Welt; Calmette hingegen, der Direktor des "Figaro",
mobilisierte voller moralischer Entrüstung halb Paris, um Nijinsky zu
verdammen.
Nijinsky hatte den
ersten radikalen Schritt getan, indem er Grazie, Anmut und die
gesamte klassische Tradition des Antigraven
verbannte. Léon Bakst hatte Nijinsky im Louvre vor die griechische Vasenmalerei
geführt, was offensichtlich Eindruck hinterlassen hatte. Die Tänzer schienen
sich in parallelen Furchen zu bewegen und wurden zudem so beleuchtet, daß sie
möglichst "flach" wirkten, zweidimensional. Nijinsky wandte auch, zum
ersten Mal in der Tanzgeschichte überhaupt, Bewegungslosigkeit an, als erster
ihren Effekt für die Handlung eines Ballets erkennend. Ballettomanen der
klassischen Ausrichtung sprachen von "Verrenkungen" und bestritten,
daß es sich überhaupt um Tanz gehandelt habe.
"Weg mit den
Anekdoten", so Nijinsky 14 Tage vor der Uraufführung des Sacre, "weg mit (...) den mehr oder
weniger guten Wendungen in der Handlung. Betonen wir ausschließlich die
Plastizität der Bewegung um ihrer selbst willen. Suchen wir ihre reiche und
unendlich nuancierte Arabesque im Raum; beachten wir ihre Akzente, ob sie nun
leidenschaftlich oder graziös sind, und wir bringen damit all den Adel und die
Reinheit einer Kunst, die aus all den Konventionen unserer theatralischen
Ästhetik herausragt."
Oder, wie Nijinsky auf
die Frage, wie der "Sacre" werde, sagte: "Oh, er wird Ihnen auch
nicht gefallen" (er vollführte eine abrupte Seitwärtsbewegung aus dem
"Faun"), "mehr von der Art."
Während Strawinsky in
St. Petersburg die letzten Seiten des "Feuervogel" zu Papier brachte,
überkam ihn plötzlich "die Vision einer großen heidnischen Feier: alte
weise Männer sitzen im Kreis und schauen dem Todestanz eines jungen Mädchens
zu, das geopfert werden soll, um den Gott des Frühlings günstig zu
stimmen."
In späteren Gesprächen
mit Robert Craft erklärt Strawinsky:
"Ich hatte eine
Szene eines heidnischen Rituals geträumt, in dem eine auserwählte Opferjungfrau
sich zu Tode tanzt. Doch diese Vision war nicht von konkreten musikalischen
Ideen begleitet."
Sie muß jedoch von
zwingender Gewalt gewesen sein. Strawinsky besprach sich unverzüglich mit
Nicholas Roerich, einem profunden Kenner slawischer Frühgeschichte, "denn
wer sonst kennt das Geheimnis der engen Verbundenheit unserer Vorväter mit der
Erde? Wir schufen das Libretto in wenigen Tagen."
Auf Crafts Frage,
"Was liebten Sie am meisten in Rußland?", antwortet Strawinsky: "Den heftigen
russischen Frühling, er schien in einer Stunde zu beginnen, und die ganze Erde
schien mit ihm aufzubrechen."
An Roerich schreibt
Strawinsky im März 1912: "Es scheint mir, daß ich in das Geheimnis des
Frühlingsrhythmus eingedrungen bin und daß die Musiker es fühlen werden."
Die Musiker fühlten es nicht. Pierre Monteux, der Dirigent,
konnte sie nur mit einiger Mühe davon überzeugen, daß Strawinskys Partitur ernst
gemeint sei. Strawinsky selbst hatte Schwierigkeiten, die abschließende
"Danse sacrale" des Sacre
zu notieren. Nijinskys gewaltige Aufgabe bestand darin, ein choreographisches
Äquivalent für die atemberaubende Komposition zu finden. Seine Erfindungen hatten
nichts mit klassischer Virtuosität zu tun, waren aber so schwierig, daß nur die
professionellsten Tänzer sie meistern würden. Nijinsky hatte zusammen mit Marie
Rambert begonnen, die Partitur zu erarbeiten. Mlle. Rambert konnte kaum
erkennen, wann eine Phase aufhörte und eine andere begann, so neuartig, so
gebrochen, so sonderbar verzahnt waren Strawinskys Rhythmen. Aber sie
bewunderte die bewußt linkischen und unklassischen Posen, in denen Nijinsky
seine Tänzer gruppieren wollte. Nijinsky hatte erhebliche Schwierigkeiten, der
Truppe seine Absichten zu vermitteln, und die Tänzer nahmen seine Experimente
nicht ernst, fühlten sich als Künstler mißachtet. Den Augenblick, in dem
Nijinsky der unglücklichen Maria Piltz, die die Auserkorene tanzen sollte, die abschließende
"Danse sacrale" selbst vortanzte, um die Verständnisschwierigkeiten
zu lindern, schilderte Marie Rambert später als einen der bewegendsten Momente
ihres Lebens.
Einen Schlüssel zu
dieser Partitur zu finden, "war eine Aufgabe, die den erfahrensten
Choreographen, den gewieftesten Musiker zur Verzweiflung bringen konnte.
Nijinsky war weder das eine noch das andere. Er hatte nur seine Vision und sein
Genie."
Befehle des Himmels!
Befehle des Himmels!
Pferdeschädel,
die auf Pflöcken stecken. Eine heidnische Opferstätte, der Himmel blutrot. Das
Ende einer Frühlingsnacht im Herzen Rußlands. Der Sterndeuter hält die Arme
ausgestreckt. Einige wollen fliehen aus dem Kreis, aber man kann nicht fliehen
vor dem Schauerlichen. Die Stille
kommt aus dem Schlund des Unsichtbaren.
Vielleicht
die Nacht eines 28. April, vor über tausend Jahren. Die Mönche aus dem Westen
fänden hier nur Götzenbilder, aber noch hat keiner einen Fuß gesetzt auf diese
düstere Erde. Wintertodesstarre liegt noch auf dem Land, die Hunde knurren,
Rauch steigt auf. Brennende Augen in Erwartung der Zeichen, die latente Panik
der Bewegungen wird langsam zu panischer Lust. Ein unheimlicher Vogelschrei.
Zitternde Mädchen in einem mystischen Reigen. Dann plötzlich bricht der Himmel
auf. Das Ritual beginnt.
Nichts
mehr zwischen den Menschen und ihrem Verhängnis. Ein Mädchen spürt, daß sie die
Auserwählte ist, der Welt entrückt, ihren Schwestern entrückt, plötzlich sehr
allein – und voller Ehrfurcht vor der unausweichlichen Bestimmung. Sie friert.
Sie wird den Mittag nicht erleben. Sie wird das Opfer für den Frühling sein.
Während die Ritualmusik zerfetzte Rhythmen und gellende Dissonanzen
übereinander türmt, fällt das Mädchen in Trance. Etwas in ihr kämpft noch an
gegen den Willen, der sich steigert und sie umringt. Ihre Augen sind weit
aufgerissen, der Rhythmus schleudert sie empor, immer wieder, noch fängt sie
sich, scheint zu warten auf den nächsten Stoß, der sie verrenkt. Bewegungen,
die so wirken, als wäre ihr die Seele schon genommen, verzerren ihre Glieder,
das sind nicht mehr ihre eigenen Bewegungen, ihr Taumel kommt ins Ausweglose,
ihre Beine knicken ein, sie fällt. Noch einmal steht sie auf und schleppt sich
weiter. Dann stürzt sie endgültig zur Erde. Und die Priester kommen und heben ihren
Leib empor, damit das Göttliche in das Opfermädchen ejakuliert.
Die
Musik, brachial, beängstigend, stieß mit einer Kraft zu, die ein Mammut
zusammensinken lassen mußte. Mit jeder Minute verstärkte sie den Erdpuls auf
das Trommelfell aus Menschenhaut. Bisweilen herrschte in ihr zwielichtige
Schönheit, aber die wenigen Melodien kreisten wie argwöhnische Raubvögel. Über
einer schon unzählige Male von allem Leben verlassenen Welt lag die ständige
Präsenz eines unvorstellbar Anderen.
Das war Le Sacre du Printemps von
Igor Strawinsky.
Nijinsky
hatte dazu ein Ballett gemacht, das keines war; die Mädchen und die Männer, die
auf den Bühnenbrettern tanzten, schienen der Gewalt tatsächlich ausgeliefert. Die Uraufführung in Paris, im Jahre 1913,
wurde zum Inferno. Das erlauchte Auditorium verlor komplett die Fassung. Die
Leute pfiffen, schrien, gaben Tierlaute von sich, beleidigten die Tänzer,
beleidigten sich gegenseitig, es gab Handgemenge, Ohrfeigen, Boxhiebe, Stiche
mit Hutnadeln, Austausch von Karten und Verabredungen zum Duell, Ohnmachts- und
Taubheitsanfälle. Alles während der
Aufführung.
Aljoscha
konnte es nicht vergessen, das Mädchen mit den aufgerissenen Augen und den
langen schwarzen Zöpfen; während ihr Blick starr geradeaus ging im Horror vor
dem Ungeheuerlichen, sprang sie immer wieder auf derselben Stelle empor, als
würde die lüstern pulsierende Erde erbarmungslose Schocks versetzen,
archaischer Terror ging ihr an den Leib, und das Unheimliche war, sie verzog
bei alldem keine Miene. Ihr Gesicht war wie das einer Puppe mit schreckstarren
Augen.
Und
Aljoscha hatte sie verstanden.
Musik,
aus der es kein Entkommen gab, Musik, die unausweichlich ihre Opfer fand, die
schmerzenden Dissonanzen, sie würden keine Auflösung mehr finden. Aber er würde
keine Miene verziehen. Gewillt, sich dieser Macht zu geben, die sinnvoll zu
beschreiben nur durch Anagramme eines Analphabeten möglich war, stand Aljoscha
in der Nacht der Pferdeschädel und erwartete den Anbruch eines Morgens, der
anders wäre, unvorstellbar anders.
Eine
Nacht mit Nijinsky: erst die Marionette, die gegen die Mechanik aufbegehrt und
ihr eigenes Spiel beginnt. Und dann die Gewißheit, daß ein Opfer bevorsteht,
eine Existenz, bei der sich alle Rhythmen selbst in Fetzen reißen und das
Publikum vor Abscheu alle Wände hochgeht. Aljoscha, der das Gefühl hatte, daß
sich auf seinem Körper ein archaisches Symbol abzeichnete, besorgte sich am
nächsten Tag Strawinskys Le Sacre du
Printemps, und er hörte die Musik
an jedem dunklen Januarmorgen, noch bevor er aufbrach, und in jeder Nacht, um
seine Träume zu dirigieren.
(Christian
Erdmann, "Aljoscha der Idiot")
Wie Igor Strawinsky sich
erinnert,
"war die
Generalprobe völlig ruhig verlaufen. Bei ihr waren, wie gewöhnlich, zahlreiche
Künstler, Maler, Musiker, Schriftsteller und die kultiviertesten Mitglieder der
Gesellschaft zugegen. Ich war daher meilenweit davon entfernt, den Wutausbruch
vorauszusehen, den die Aufführung auslöste."
Strawinskys
Überraschung, auch wenn sie Spuren von Koketterie enthält, muß blauäugig
anmuten, wenn man bedenkt, daß die Generalprobe vor einem Personenkreis
stattfand, der durchaus der Avantgarde zuzurechnen war: eine recht erlauchte
Zusammensetzung, die dem Affront gegen das Schöne, wenn sie ihn schon nicht
selbst anzettelt, zumindest offener gegenübersteht als ein Pariser
Premierenpublikum. Jean Cocteau gibt eine realistischere Einschätzung:
"Für ein erfahrenes
Auge sind dort alle Grundstoffe für einen Skandal vorhanden: das mondäne
Publikum, dekolletiert, mit Perlen, Brillanten und Straußenfedern aufgetakelt;
und neben den Fräcken und Abendroben die auffallenden Joppen, Schleier, Lumpen
jener Art Ästheten, die dem Neuen aus Haß gegen die Logen blindlings Beifall
spenden ... Aber ich will darauf verzichten, die tausend Nuancen des Snobismus,
Übersnobismus und Gegensnobismus aufzuzählen ... Bei der Uraufführung des Sacre spielte der Saal die Rolle, die er
spielen mußte ..."
Auch Cocteaus
Einschätzung kann jedoch nicht ausreichen, um den Skandal um "Le Sacre du
Printemps" zu erklären, denn die Konstellation des Publikums, die er
beschreibt, hat es bei unzähligen Premieren gegeben. Das Ausmaß der Erregung läßt sich nur durch das Schockierende der
Darbietung selbst erklären.
Scherliess bemerkt, daß
"zur Generalprobe
am Vortage die gesamte Presse
eingeladen war und daß somit im Publikum von vornherein eine ausgelassene,
aufgeheizte Stimmung herrschte - man sang, pfiff, applaudierte und rief
ironische Bravos in Erwartung des Ungeheuerlichen, noch bevor die Aufführung
begonnen hatte."
Die Mehrzahl der
Augenzeugenberichte stimmt jedoch darin überein, daß der Tumult erst mit dem
Einsetzen der Musik seinen Lauf nahm. Daß die Stimmung im Publikum zu
Befürchtungen Anlaß geben mußte, ahnte indes auch Romola de Pulszky, die noch
im Jahr 1913 mit Nijinsky vor den Traualtar trat; sie kommt der Wahrheit wohl
am nächsten:
"Ich rechnete
damit, daß das Publikum vielleicht unruhig werden könnte, aber niemand in der
Truppe war auf das gefaßt, was dann geschah."
Die Compagnie war nach unzähligen Proben und der gut verlaufenen
Generalprobe zuversichtlich und wiegte sich womöglich in falscher Sicherheit.
"Die ersten Klänge
der Ouvertüre wurden unter Gemurmel angehört, aber sehr bald benahm sich das
Publikum nicht wie das würdige von Paris, sondern wie eine Horde unartiger,
schlecht erzogener Kinder." (Romola Nijinsky)
"Der Saal
revoltierte von Anfang an. Man lachte, pfiff, höhnte, ahmte Tierstimmen nach...
" (Jean Cocteau)
Valentine Gross hatte
100 Studien des Russischen Balletts, darunter 50 von Nijinsky, im Rangfoyer des
Theaters ausgestellt. Sie berichtete später:
"Nichts von all
dem, was je über die Schlacht des Sacre
du Printemps geschrieben wurde, vermittelt einen schwachen Eindruck von dem
tatsächlichen Geschehen. Das Theater schien von einem Erdbeben heimgesucht zu
werden. Es schien zu erzittern. Leute schrien Beleidigungen, buhten und
pfiffen, übertönten die Musik. Es setzte Schläge und sogar Boxhiebe. Worte
reichen nicht, um eine solche Szene zu beschreiben."
Schon während der
Einleitung hatte Strawinsky angewidert den Zuschauerraum verlassen und war
hinter die Bühne gegangen. Ein weiterer Augenzeuge, Carl van Vechten, schreibt:
"Ein Teil des
Publikums erregte sich über das, was es als einen blasphemischen Versuch betrachtete,
Musik als Kunst zu zerstören, und begann, vom Zorn hingerissen, kurz nach
Aufgehen des Vorhangs zu miauen und mit lauter Stimme Vorschläge zu machen, wie
die Vorstellung weitergehen solle. Das Orchester war nur dann zu hören, wenn
eine leichte Beruhigung eintrat. Der junge Mann, der hinter mir in der Loge
saß, stand während des Balletts auf, um besser sehen zu können. Die starke
Erregung, die ihn gefangenhielt, äußerte sich darin, daß er mit seinen Fäusten
rhythmisch auf meinen Kopf einhämmerte. Ich war selbst so außer mir, daß ich
die Faustschläge eine Zeitlang gar nicht bemerkte."
"In der Tat, die
Aufregung, die Rufe entwickelten sich zum Paroxysmus. Die Leute pfiffen,
beleidigten die Darsteller und den Komponisten, schrien, lachten." (Romola
Nijinsky)
"Vielleicht wäre
man dessen auf die Dauer müde geworden, wenn nicht die Menge der Ästheten und
einige Musiker in ihrem übertriebenen Eifer das Logenpublikum beleidigt, ja
tätlich angegriffen hätten. Der Tumult artete in ein Handgemenge aus." (Jean
Cocteau)
Dem Kritiker Florent
Schmitt wurde nachgesagt, durch seinen Ruf
"Die Huren aus dem
sechzehnten Bezirk sollen schweigen!",
mit dem er auf die
ersten Unruhen reagierte, die Eskalation vorangetrieben zu haben. Der
sechzehnte Bezirk war eines der vornehmsten Viertel von Paris. Der Dirigent der
Uraufführung, Pierre Monteux,
"warf Diaghilew,
der in Astrucs Loge saß und ihm Zeichen gab, weiterzuspielen, verzweifelte
Blicke zu. In diesem unbeschreiblichen Durcheinander befahl Astruc, die
Beleuchtung wieder anzuschalten, und die Auseinandersetzungen blieben nun nicht
mehr auf Geräusch beschränkt, sondern arteten in Handgreiflichkeiten aus. Eine
schön gekleidete Dame in einer Orchesterloge erhob sich und ohrfeigte einen
jungen Mann, der in einer Nachbarloge zischte. Ihr Begleiter erhob sich und
Karten wurden ausgetauscht. Ein Duell folgte am nächsten Tag. Eine andere Dame
der Gesellschaft spie einem Demonstranten ins Gesicht." (Romola Nijinsky)
"Für kurze Zeit
wurde die Ruhe wiederhergestellt, als auf einen plötzlichen Befehl die Lichter
im Haus angingen. Ich stellte amüsiert fest, wie es in gewissen Logen, deren
Insassen im Dunkeln lautstark gegeifert hatten, sehr schnell ruhig wurde, als
die Lampen eingeschaltet worden waren ..." (Valentine Gross)
Diaghilew, der bleich in
seiner Loge stand, rief: "Bitte! Lassen Sie die Vorstellung zu Ende
gehen!", und Astruc beugte sich aus seiner Loge und flehte: "Hören Sie
erst zu! Pfeifen können Sie später!"
"Darauf trat eine
gewisse Beruhigung ein, aber nur zeitweilig. Kaum war das erste Tableau
beendet, fing der Kampf wieder an. Betäubt vom Radau, rannte ich so rasch ich
konnte hinter die Bühne. Dort war es genau so schlimm wie im Zuschauerraum. Die
Tänzer zitterten, waren den Tränen nahe; sie kehrten nicht in ihre Garderoben
zurück." (Romola Nijinsky)
"Zwischen beiden
Teilen des Werks wurde die Polizei geholt, um die lautesten Demonstranten zu
identifizieren und aus dem Saal zu weisen. Aber es war vergebens."
(Richard Buckle)
"Das zweite Tableau
begann, doch es war noch immer unmöglich, die Musik zu hören. Ich konnte nicht
ins Parkett zurück, und da die Aufregung der in den Kulissen zuschauenden
Künstler zu groß war, konnte ich die Bühnentür nicht erreichen. Ich wurde auf
der linken Kulissenseite immer weiter vorangeschoben. Grigorjew und Kremenew
gelang es nicht, diese Bühnenseite zu räumen." (Romola Nijinsky)
"Kaum war der
Vorhang vor den zitternden Mädchen des zweiten Teils, die ihre geneigten Köpfe
mit der rechten Hand stützten, in die Höhe gegangen, als jemand rief:
"Einen Arzt!" Dann ertönte eine andere Stimme: "Einen
Zahnarzt!" Und eine andere: "Zwei Zahnärzte!" Comtesse René de
Pourtalès erhob sich mit verrutschter Tiara in ihrer Loge und rief, ihren
Fächer schwenkend: 'Ich bin sechzig Jahre alt, aber dies ist das erste Mal, daß
jemand gewagt hat, mich für dumm zu verkaufen!'" (Richard Buckle)
Nijinskys Mutter fiel in
Ohnmacht. Im Orchestergraben dirigierte Monteux unerschütterlich weiter.
Diaghilew lief auf den zweiten Rang, und die Tänzer hörten von fern, wie er
ihnen zurief, weiterzutanzen.
"Mir gegenüber war
ein gleicher Menschenandrang in den rückwärtigen Kulissen, und Wassily mußte
sich seinen Weg zu Nijinsky hindurchkämpfen. Nijinsky trug sein
Trainingskostüm. Sein Gesicht war so weiß wie sein Crêpe de Chine-Hemd. Er
hämmerte den Rhythmus mit beiden Fäusten und rief den Künstlern zu: 'Ras, dwa, tri." Selbst auf der
Bühne war die Musik nicht zu hören und Nijinskys Dirigieren aus der Kulisse war
das einzige, was die Tänzer leitete. Sein Gesicht bebte vor Erregung. Ich hatte
Mitleid mit ihm, der wußte, daß sein Ballett ein großes Werk war."
"Wir konnten die
Musik nicht hören. Wir konnten nicht zählen. Nijinsky zählte wie rasend in den
Kulissen. Ich zählte auf der Bühne." (Marie Rambert)
"Ich verließ meinen
Platz, als der heftige Lärm begann - leichte Unruhe herrschte gleich von Anfang
an -, und ging hinter die Bühne zu Nijinsky auf der rechten Seite. Nijinsky
stand auf einem Stuhl, gerade aus der Sichtweite des Publikums, und rief den
Tänzern Zahlen zu. Ich wunderte mich, was zum Kuckuck diese Zahlen mit der
Musik zu tun hatten, denn es gab keine 'Dreizehntel' und 'Siebzehntel' in dem
metrischen Schema der Partitur." (Igor Strawinsky)
"Ich weiß nicht,
wie es möglich war, daß dieses Ballett, das die Zuschauer von 1913 so schwierig
fanden, in einem solchen Aufruhr zu Ende getanzt wurde. Ich stand zwischen den
beiden mittleren Logen, fühlte mich im Auge des Hurrikans ganz wohl und
klatschte mit meinen Freunden. Ich bewunderte den titanischen Kampf, der stattgefunden
haben mußte, um diese unhörbaren Musiker und diese betäubten Tänzer nach den
Gesetzen ihres nicht sichtbaren Choreographen zusammenzuhalten. Das Ballett war
atemberaubend schön." (Valentine Gross)
"Die einzige
Entspannung trat beim Tanz der Erwählten Jungfrau ein. Er war von so
unbeschreiblicher Gewalt, von solcher Schönheit, daß sein Ausdruck der
Opferbereitschaft selbst das chaotische Publikum entwaffnete. Es vergaß seine
Rauferei. Dieser Tanz, vielleicht der anstrengendste in der gesamten choreographischen
Literatur, wurde von Maria Piltz hinreißend ausgeführt." (Romola Nijinsky)
Claude Debussy neigte
sich zu Misia Sert und murmelte:
"Es ist
schrecklich: ich höre nichts mehr."
Der Polizeibericht
meldete 27 Verletzte.