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"Das literarische Orchester - spielen Sie mit!"
November 2011
Jörn Bünning:
"Illusion"
klingt im Deutschen stets nach Betrug und Täuschung, die sogleich mit einer
gehörigen Portion "Realität" bestraft gehört. Wenn gutmeinende
Freunde auf meine "Illusionen" zu sprechen kommen, dann doch stets
mit dem Rat, sich davon unverzüglich zu befreien und mutig den ungeschminkten
Tatsachen ins Auge zu blicken. Wen wundert's, dass Hauptmann trotz seines
Plädoyers für den Angeklagten "Illusion" letztlich auf verminderte Schuldfähigkeit
setzt: als versöhnender Ehestifter zerstrittener Eheleute. Doch hat die
Illusion den Vorwurf der Kuppelei von "Wahrheit" mit "Lüge"
verdient? Ist der Kern der Illusion tatsächlich die Verdauungshilfe zur
Wahrheit?
Ein gern verwendeter, doch ebenso auf Abwege führender Begriff ist die
"Projektion" (in der Psychonanalyse). Indem er in den anderen
hineinschaut, entdeckt der Mensch sich selbst. Doch geht es hier vor allem um
Hässlichkeiten, die wir nicht bereit sind, an uns wahrzunehmen, selten um nette
Dinge, die uns das Leben verschönern.
Für mein Verständnis gibt es aber noch einen anderen Begriff, der die Tücken der beiden anderen umschifft: die Imagination. Gemeinhin als ein Vermögen verstanden, sich (auch ohne äußere Sinneseindrücke) Bilder aus dem Inneren abzurufen, beinhaltet diese Fähigkeit noch viel mehr, nämlich das Hineinsehenkönnen von Inhalten in die Wahrnehmung, Dinge zu ergänzen, die sich objektiv nicht feststellen lassen, durch die sich aber ihre Bedeutung für den Betrachter erst erschließt. Dabei geht es um etwas, das uns in den "Raumabgründen des Weltalls" jede Menge Wärme spendet, wenn wir auch bisweilen unter der imaginierten Hitze zu leiden haben, sobald die Dinge uns hässlich erscheinen.
Die Krähen behaupten / Christian Erdmann:
Sehr
schön. Die Allmacht der
Imagination gliedert auch den Raum der Erfahrung permanent. Das ist mehr als
"Hineinsehenkönnen", das geschieht immer. Interessant ist doch, warum
Menschen so allergisch auf die Information reagieren, daß sie immer mit einem
"phantasmatic support" unterwegs sind, wie der verrückte Žižek das mal nannte.
Jörn
Bünning:
Die
Krähen werden den Himmel schon nicht zerstören
Nun, diese
Krähenschrift ist mir doch seltsam vertraut, auch Slavoj Žižek ist mir kein
ganz Unbekannter, selbst wenn ich seine Texte 2-3mal und mit großer
Aufmerksamkeit und Vorsicht lese, vor allem, wenn er sich auch noch auf Lacan bezieht.
Aber es stimmt schon: Ohne den "phantasmatic support" funktioniert keine Erotik. Imagination ist der Schlüssel zur Wahrnehmung, der Weg zu den Empfindungen und damit zur inneren Wahrheit. Wie auch bei guter Musik, z.B. "A Secret Wish".
;)
Die Krähen behaupten / Christian Erdmann:
"Die Welt, die uns etwas
angeht, ist falsch, d.h. ist kein Tatbestand, sondern eine Ausdichtung und
Rundung über einer mageren Summe von Beobachtungen." - Nietzsche. Daß es
kein Erfahrungsmaterial ohne "Ausdichtung und Rundung" gibt, meinte
vermutlich auch Kant, als er das "Ding an sich" in die Tonne warf.
Guter Musikgeschmack, Herr Bünning. :)
Jörn Bünning:
"Kein
Erfahrungsmaterial ohne Ausdichtung und Rundung" ist gut gesagt - es gibt
ja noch nicht einmal ein Begreifen ohne Interpretation, die eigentlich nur aus
Imagination besteht. Darüber hatte sich Kant mit dem Philosophen David Hume
seinerzeit gestritten: Der schottische Rationalist betonte das Primat der
Wahrnehmung für alle geistigen Vorgänge im Menschen. Demgegenüber beschrieb
Kant das (apriorische) Vorhandensein geistiger Erkenntnisstrukturen, die nicht
aus der Wahrnehmung ableitbar sind, diese aber moderieren.
Dazu nur zwei kleine Beispiele:
Auch Hume musste letztlich einräumen, dass Kausalitäten sich nicht
direkt beobachten lassen. Sie werden vielmehr bei einer Ereignisabfolge
intuitiv "imaginiert", sofern die Ereignisse in ausreichend enger
räumlicher und zeitlicher Abfolge auftreten.
Ein anderes Beispiel ist die Imagination von Bewegungen:
Zwei benachbarte Lämpchen blinken abwechselnd - das Licht "springt"
dann scheinbar zwischen beiden hin und her. Dieser Eindruck ist so zwingend,
dass er sich auch gegen besseres Wissen durchsetzt.
Doch hat auch Hume, vom Standpunkt der Evolution betrachtet, nicht unrecht. Die
Kant'schen "Presets" unserer menschlichen Wahrnehmung sind
schließlich selbst das Ergebnis einer langen Schulung des Lebens auf diesem
Planeten und es hat lange gedauert, bis die Bedeutung ansatzweise in die
Wahrnehmung hineingefunden hat.
Ohne Imagination wäre jede Wahrnehmung ohne Verstehen, Schönheit würde es nicht geben, Musik eine komplexe Folge von Geräuschen, was wohl schade wäre, allein schon wegen Mark Lanegan. ;)
Die Krähen behaupten / Christian Erdmann:
Zwei Facetten: Erstens, die
erkenntnistheoretische, das Paradox, daß unser Wahrnehmungsapparat uns
Weltbeschaffenheit vermittelt, die wir aber nicht objektiv beschreiben können, weil
wir eben den Wahrnehmungsapparat haben, den wir haben. Nur ein verschwindend
kleiner Teil der Wirklichkeit passiert die Pforte unserer Sinne. Unsere
Wahrnehmungsorgane funktionieren, indem sie vorhandene Information reduzieren.
Gerade weil wir so avanciert sind, wissen wir, daß nur ein naiver Realismus
noch meint, daß die Dinge so sind, wie wir sie wahrnehmen. Die Auffassung von
Wahrnehmung als einer Registration des "Gegebenen" ist überholt. "If the doors of perception were cleansed
every thing would appear to man as it is, infinite." Sie sind aber nicht cleansed, und
"infinite" ist auch nur ein Wort: auch Sprache als Organisator der
Wirklichkeit beeinflußt unsere Wahrnehmung.
Zweitens, "phantasmatic support", der produktive Anteil der
Einbildungskraft an der Wahrnehmung, der Anteil der Imagination und der
Projektion an der Schönheit; an allem. Am Beispiel der Büste der Nofretete hat
mal jemand dargestellt, wie der Vorstellung von Schönheit ein umfassender
Prozeß des Ausschließens zugrundelag, wie ihr Antlitz aus dem Chaos (der Natur)
herausgemeißelt ist. Ein Prozeß, der folgerichtig fortsetzt, daß
Beobachtung ohnehin Auswahl ist, und in dem die Reduktion wiederum mit dem
eigenen kreativen Überschuß versetzt wird.
Žižek hatte ja ein kurioses
Beispiel für "phantasmatic support" - italienische Männer, die es
angeblich lieben, wenn ihnen die Frau beim Sex Obszönitäten ins Ohr flüstert,
bevorzugt über das, was sie mit einem anderen Mann getan hat. Apart from
that, ist dies einfach von Anfang an die Art und Weise, wie wir unsere
Lebenswelt gestalten. In der Wahrnehmung verleihen wir. Sehen
heißt Hineinsehen. Wir agieren eh von Anfang an so, als gebe es keine
uninterpretierbaren Tatsachen, wir reichern jedes Erleben mit unserer Phantasie
an, schießen durch imaginäre Ordnungen, ersetzen Mythen durch Mythen.
Lese gerade die Kafka-Biographie von Peter-André Alt. Erster Satz: "Franz
Kafkas Wirklichkeit war ein weitläufiger Raum der Einbildungskraft."
Gemeint ist tatsächlich, daß Kafka bewußt den Raum der Erfahrung wie eine
Traumlandschaft gliedert, daß er etwa seine Furcht vor dem Vater durchaus
obsessiv kultiviert, weil sie zu dem Selbstbild gehört, das Bedingung seiner
schriftstellerischen Existenz ist, daß ihm sein Schreiben selbst die
Erfahrungswelt in einen Raum verwandelt, in dem Phantasie und Realität nicht
mehr getrennt werden können. Im "großen Schachspiel" des Lebens,
erklärt Kafka, sei er "der Bauer des Bauern, also eine Figur, die es nicht
gibt". Bei aller realen Furcht und Einsamkeit, die er erfahren haben mag,
spürt er früh, daß er die Erfahrungslandschaft seines Alltags in Zonen
verwandeln muß, wo er die Kunst der Beobachtung unbefangen praktizieren kann,
und sie gegen die ihn umgebende Gemeinschaft verteidigen muß. Bin noch nicht
weit mit dem Buch, aber so etwa der Tenor der ersten Kapitel, der letztlich
auch eine Weise des "phantasmatic support" beschreibt.
Jörn Bünning:
Vorsicht!
Ich hoffe, Du weißt, worauf der sich einlässt, der seine Dämonen füttert und
seine Wirklichkeit gegen eine soziale Umgebung verteidigt. Kafka war psychisch
isoliert und so fruchtbar dieser Boden für seine künstlerische Gestaltung war,
so furchtbar litt er zugleich unter den Dämonen seines phantasmatic support,
stets in Gefahr die Kontrolle über den letzten Bauern vollends zu verlieren.
Einen Großteil ihrer
Zeit ver(sch)wendet die menschliche Spezies dazu, sich einer gemeinsamen -
"der richtigen" - Realität zu versichern, ihren phantasmatic support
nach Kräften zu domestizieren, eine gewaltige kulturelle Leistung, die aber
selbst größeren und sog. "aufgeklärten" Gesellschaften nur zeitweise
und unter größten Mühen gelingt. Die großen Massenhysterien der Zeit singen uns
periodisch Strophen über die Vergeblichkeit all dieser Bemühungen.
Und die Sprache, die sich anbietet als ein Geländer vor den inneren Abgründen
und als betretbare Brücke zum Gegenüber, wird selbst zu einer trügerischen Spur
in den Nebel und ehe wir uns versehen, stehen wir mitten im grausamen Grau,
ängstlich aneinander geklammert, doch ohne einen Halt.
Folge Deinem Instinkt wie ein Käfer auf dem Tellerrand, der unendliche Welten bezwingt, indem er die Angst vergisst, wo er sie lebt.
Die Krähen behaupten / Christian Erdmann:
Vorsicht! Ich hoffe, Du weißt, worauf der sich einlässt, der seine Dämonen füttert (...)
Absolut.
Wie
bedrückend die Gewißheit gewesen sein muß, daß nichts im Leben ihm
selbstverständlich war. Worauf Alt, meinem ersten Verständnis nach, hinauswill:
natürlich scheint der Vater die personifizierte Selbstgefälligkeit im Lehnstuhl
gewesen zu sein, ein Alltagsdespot, der unmißverständliche Handlungsmaximen,
geronnene Lebensweisheiten und banale Gemeinplätze verkündete, aber Alt sieht
trotzdem die Frage, ob der Vater tatsächlich dem hier entworfenen Bild objektiv
entsprach, oder ob Kafka das Modell einer archetypischen Autorität als
unumkehrbares Grundmuster von Fremdheit und Bedrohlichkeit auch beizubehalten
bzw. noch zu verstärken suchte, für jenen abweichenden Selbstentwurf, der sich
im Schreiben verwirklichte.
Man weiß wohl von Ottla, Kafkas Lieblingsschwester, daß sie dem Vater gegenüber
einen offeneren Trotz zeigte; anderer Umgang mit dieser Figur also theoretisch
möglich war. Seine Schwestern liebten Kafka, Brod scheint ein wunderbarer
Freund gewesen zu sein (der, so interpretiert Alt, auch Kafkas letzten Wunsch richtig
verstanden hat), Kafka konnte ein glänzender Unterhalter sein usf. Insgesamt
also Ausloten der Möglichkeit, daß Kafka die Zone der Isolation, die Du
beschreibst, sehr bewußt bewohnte und behauptete; all seine Kräfte in
sie zusammenzog, Kräfte, die er immer als sehr bemessen ansah. Daß er, trivial
gesagt, nicht nur ein "angenehmeres" Leben der Kunst opferte, sondern
daß er den phantasmatic support bewußt zur Verdunkelung seiner Umgebung
benutzte; um in den Schatten bleiben zu können, die ihm Hellsicht gewährten.
Was Kafka beim Schreiben anstrebte, würden Neumodiker wohl als "flow"
bezeichnen; das glückende Schreiben als ununterbrochener Strom (die 8 Stunden
von "Das Urteil"). Du kennst die Tagebucheinträge, die, wenn das nicht
gelang und er abbrach, z.T. nur aus zwei Worten bestehen: "Nichts,
nichts." Wenn man ahnt, worin Kafka Glück empfand, ahnt man auch, welche
Verzweiflung in diesen zwei Worten liegt. Vielleicht eine stärkere als jene,
die von den Dämonen ausging? Wage ich nicht zu beurteilen.
ray05:
[...] "Nichts, nichts." Wenn man ahnt, worin Kafka Glück empfand, ahnt man auch, welche Verzweiflung in diesen zwei Worten liegt. Vielleicht eine stärkere als jene, die von den Dämonen ausging? Wage ich nicht zu beurteilen.
Nun,
wenn ich mir den Künstler vorstelle als jemand, der sich alles, was ihm
widerfährt, zunutze macht - egal, ob das Widerfahrene "eingebildet"
ist oder nicht -, dann vermute ich, dass er jene Teile, die ihm den größten
Nutzen für seine Arbeit versprechen, dementsprechend kultiviert, auch wenn's
wehtut und die Verzweiflung mit am Tisch sitzt wie so ein Farmer aus dem
Mittelwesten mit zugekniffenen Augen, Strohhut und angelegter Schrotflinte. :)
Denke dennoch, dass dieses "Nichts, nichts" der größtmögliche Verzweiflungssatz
ist, denn was kann schlimmer sein als das Eingeständnis vor sich selbst, nichts
[mehr] zum Sprechen bringen zu können, sich nichts [mehr] zunutze machen zu
können.
KLMO:
Bei Kafka spielte
natürlich seine angeschlagene Konstitution eine Rolle. Kafka suchte am Anfang
auch das Abenteuer, das Leben im Extrem, den Weg nach oben. Stattdessen überall
unüberbrückbare Hindernisse, verbunden mit einer schon früh angeschlagenen
Gesundheit. Beispiel: Meldet sich als Kriegsfreiwilliger, Vater interveniert - um
dann noch einmal wegen Dienstuntauglichkeit abgelehnt zu werden. (Man beachte
seine TB). Schon hier liegt der Schlüssel für sein introvertiertes Leben. Als
Metapher: Den Berg auf herkömmliche Art zu besteigen, bleibt ihm verwehrt.
Gezwungenermaßen verharrt Kafka in der Ebene, aber er besitzt die Fähigkeit, den Berg zu durchschauen.
Die Krähen behaupten / Christian Erdmann:
... verharrt Kafka in der Ebene, aber er besitzt die Fähigkeit, den Berg zu durchschauen.
Klasse, der Satz.
Denke dennoch, dass dieses "Nichts, nichts" der größtmögliche Verzweiflungssatz ist, [...]
Wahrscheinlich
eben: ja. Diese Fabrik im Zizkov-Bezirk, für die Kafka 1911/1912
Teilhaberschaft übernimmt, heftiger Streit mit dem Vater, der ihm Vorwürfe
macht wegen seines geringen Einsatzes für das Unternehmen; Kafkas Verzweiflung
ist so groß, daß er "Eine Stunde dann auf dem Kanapee über
Aus-dem-Fenster-springen" nachdenkt. Herbst 1912, als die literarische
Arbeit gut voranschreitet, erneut Selbstmordgedanken, weil er die Fabrik
regelmäßig besuchen muß. Seine Erklärung, warum er den Sprung aus dem Fenster
nicht gewagt hat, färbt größtmögliche Verzweiflung mit der angesichts
größtmöglicher Verzweiflung größtmöglichen Ironie: weil "das am
Lebenbleiben mein Schreiben (...) weniger unterbricht als der Tod."
(erstveröffentlicht / first published 17.02.2013)