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"Literatur - was lohnt es noch, zu lesen?"
05.11.2007
Christian Erdmann:
Um kurz zu intermittieren: Carl Einstein, Bebuquin. Ein Gefühl beim Lesen, als würde man durch Bilder von Clovis Trouille wandern.
Durch die regengepeitschte Nacht fuhr in ihrem Auto die Schauspielerin
Fredegonde Perlenblick. Sie hörte außerdem auf den Namen Mah bei jüngeren
Liebhabern, Lou, wenn sie dämonisch war, und Bea, wenn sie eine Familie zu
ersetzen suchte. Sie fuhr mit zwei erschrecklich blendenden Scheinwerfern, die
im glitschrigen Asphalt, in dessen Regenwasser die Schatten der letzten
Trotteurs gaukelten, weiße Lichtgruben aufrissen. Ihre Autohuppe hatte
entschieden dramatische Kraft. Der Chauffeur hielt einen tragischen
Recitationsstil inne, die Huppe hatte das dramatische R. Auf dem Dache des
Coupés war ein Kintop angebracht, der den verschlafenen Bürgern zeigte, wie die
Schauspielerin Fredegonde Perlenblick sich auszog, badete und zu Bett ging. Ehe
es dunkel wurde, erschien über dem Bett kalligraphisch 'Endlich allein?' Unter
der Bilderreihe des rasenden Kinema stand zum Beispiel "Ich trage den
Strumpfhalter 'Ideal'" oder sonst irgend eine wertvolle Empfehlung. Die
Schauspielerin ließ vor der Bar halten. Sie stieg aus, es war noch niemand da.
Ihr erster zündender Blick, der das Lokal durchkreiste, blieb unerwidert.
Sie setzte sich hin und war schön für sich selbst.
Bebuquin stieg über die Schwelle.
Sie setzte sich hin und war schön für sich selbst.
Bebuquin stieg über die Schwelle.
"Gnädigste, Sie sitzen auf einer Hypothese."
Bebuquin fuhr Euphemia an die Nase und umarmte sie zugleich leidenschaftlich.
Ein Sturmregen pointilliert die großen Scheibenfenster.
"Man hat bis jetzt die Vernunft benutzt, die Sinne zu vergröbern, die
Wahrnehmung zu reduzieren, zu vereinfachen. Im ganzen, die Vernunft verarmte;
die Vernunft verarmte Gott bis zur Indifferenz; töten wir die Vernunft; die
Vernunft hat den gestaltlosen Tod produziert, wo es nichts mehr zu sehen gibt.
Noch für Dante war der Tod ein Vorwand für Glanz, Farbe, Reichtum und Lust.
Nehmen wir unsere Sinne, entreißen wir sie der Ruhe der Stupidität platonischer
Ideen, beobachten wir den Moment, der viel eigenartiger ist, als die Ruhe, weil
er differenziert und charakteristisch ist, gar keine Einheit hat, sondern sich
zwischen vorn und hinten restlos aufteilt."
Der tote Böhm tanzte dankend auf Euphemias Hut und versank im Buffet; er legte
sich wieder in eine seltsame Cognacsorte, die er von jeher geliebt.
Weiter mit dem regulären Programm.
06.09.2010
I'm a Substitute:
... und der
angeschlagene Tonfall muß der Sache selbst angemessen sein. Wahrscheinlich
konnte ich deswegen bei aller Verehrung für Carl Einstein mit seinem
"Bebuquin" nichts anfangen...
Christian Erdmann:
Schade. Aber genau darum ging es Einstein ja auch nicht, um das "der Sache Angemessene", wäre schlecht möglich bei einer Kampagne wider erzählerische Mimesis & "wirklichkeits"-verhaftetes Erzählen, da entsteht "die Sache" von vornherein anders, im ästhetischen Experiment selbst. Und wenn, erstes Kapitel erster Satz, die Scherben eines gläsernen, gelben Lampions auf eine weibliche Stimme klirren, dann ist die Sache einfach da, bereit für Faszination oder Verständnislosigkeit. Was wäre denn für diesen Satz jene Sache, zu der es "angemessen" zu sein gälte?
Schade. Aber genau darum ging es Einstein ja auch nicht, um das "der Sache Angemessene", wäre schlecht möglich bei einer Kampagne wider erzählerische Mimesis & "wirklichkeits"-verhaftetes Erzählen, da entsteht "die Sache" von vornherein anders, im ästhetischen Experiment selbst. Und wenn, erstes Kapitel erster Satz, die Scherben eines gläsernen, gelben Lampions auf eine weibliche Stimme klirren, dann ist die Sache einfach da, bereit für Faszination oder Verständnislosigkeit. Was wäre denn für diesen Satz jene Sache, zu der es "angemessen" zu sein gälte?
Clovis Trouille, Le palais des merveilles (1907 -
1927 - 1960)
"Man muß einsehen, ihr Dummköpfe, daß die Logik nur
Stil werden darf, ohne je eine Wirklichkeit zu berühren. Wir müssen logisch
komponieren, aus den logischen Figuren heraus wie Ornamentkünstler. Wir müssen
einsehen, daß das Phantastische die Logik ist."
(Carl Einstein, Bebuquin, Stuttgart 1985, 7)
"Bebuquin, sehen Sie einmal. Vor allen Dingen wissen die Leute nichts von der Beschaffenheit des Leibes. Erinnern Sie sich der weiten Strahlenmäntel der Heiligen auf den alten Bildern und nehmen Sie diese bitte wörtlich."
(ebd. 12)
"Man muß das Unmögliche so lange anschauen, bis es eine leichte Angelegenheit ist. Das Wunder ist eine Frage des Trainings."
(ebd. 19)