Dienstag, 9. April 2019
Flucht nach Asserbo
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Antirationalistischer Block / Christian Erdmann
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Montag, 4. März 2019
Boris Vian verzettelt sich
Boris Vian hat an der Technischen Hochschule von Angoulême studiert. Zu
seinem Herzfehler kommt Magenweh, der Blues, der Krieg. Er heiratet Michelle,
die Blonde, Feminine. Boris Vian preist ihre Beine. Der Ingenieur mit der
Trompete. Genres mischen! Macht ein Jazztrio zum Quartett und 100 Sonette zu
112. Lyrik schlägt Haken. Vian spielt wie Beiderbecke, setzt das Mundstück am
Mundwinkel an, spreizt die Beine. Schätzt Ubueskes (Alfred Jarry!). Pataphysik
verhält sich zu Metaphysik wie Metaphysik zu Physik. Pataphysiker akzeptieren
keine endgültige Definition und gestehen keinem Wert Wert zu. In öffentlichen
Verkehrsmitteln befällt ihn Atemnot. Eine Art Dringlichkeitsgefühl. Herz zu
heftig schlagend.
Der angesehenste französische Verlag, Gallimard, veröffentlicht DREHWURM, SWING UND DAS PLANKTON. Raymond Queneau, Wortverdreher, reicht eine Lektorhand. Queneaus Frau Janine ist die Schwester von Breton! Queneau wird Freund.
Vian ist eher scharf- als leichtsinnig, trinkt nicht; Zurückhaltung und tiefe Nostalgie, und doch scheint ihm alles leicht zu fallen. Keiner weiß, warum DER SCHAUM DER TAGE so heißt. Der am schnellsten geschriebene Nachkriegsroman (wohl bis Kerouac). Jean-Sol Partre, dem seine Parodie gefällt. Sartre ist Papst. Alles geht mit, neben oder gegen, nichts ohne Sartre, der schneller zu schreiben scheint, als man ihn lesen kann. Scipion: die "Genpolcarthres".
Michelle muß weinen, als sie das Manuskript abtippt - über den Verlust der Unbeschwertheit und die Verletzlichkeit der Seelen. Aber der Verlagspreis entgeht Vian - unverdient, wie er meint - und wird zum Stachel in seiner Seite. Verharmlosend beklagt er den "nicht sehr lustigen" Stil des Gallimard-Vertrages und bietet an, am Rand "kleine bunte Bilder" anzubringen. Wie immer: Einsatz von Intelligenz, um Schamhaftigkeit zu bemänteln.
REFORM DER ORTOGRAFI SOFORT NÖTICH!
Merleau-Ponty war ein Nachtschwirrer. Entzweit sich mit Camus bei einer Kuchenparty. Vian unterzeichnet keine Aufrufe, sondern macht ironische Bemerkungen mit schiefem Mundwinkel. Vians Helden, oft Ingenieure, müssen sich um Sinnloses kümmern. Sie verzetteln sich. HERBST IN PEKING, weder Herbst noch Peking. Schlaflosigkeit des Herzkranken. Erstickungsängste. HERBST IN PEKING ist der Roman des Morgengrauens.
Juliette Gréco. "Ihre Gelassenheit konnte rasend machen." Schweigsame Muse aller. Bar Vert, Rue Jacob - hier hat Artaud seine letzten öffentlichen Auftritte, er krächzt, sein Publikum verfluchend, ein paar Gedichte, dann versinkt er in Umnachtung.
ICH WERDE AUF EURE GRÄBER SPUCKEN. Von Vernon Sullivan. Paris rätselt, munkelt, fordert schließlich Vian, der als Übersetzer auftrat, zum Bekenntnis. Sullivan wird einer der Geister, die man nicht wieder loswird. Der Spaß wird bitterer Ernst, nicht nur wegen der Obszönitäts-Anklage.
Bogart und Bacall waren im TABOU, Welles und Cotten erscheinen in der Szene, der Existentialist hat keinen Nachtisch, Martine Carol steht hoch im Kurs, Marlon Brando fährt Juliette Gréco auf dem Motorrad nach Hause. Deren erster Auftritt: tot vor Lampenfieber.
Reiten auf dem Rücken der Dummheit. Vor Beschützerinstinkten erleidet Vian Gesundheitsanfälle. Sammelt Projekte wie andere Schmetterlinge. Hyperaktiv. Interpretationsversuche bringen ihn auf. Was Gallimard ablehnt, verschleudert er. Verzettelt sich. DAS ROTE GRAS ist totgeboren und zieht im Keller des Grossisten Wasser.
Ursula Kübler, schweizerische Tänzerin bei Roland Petit, eine etwas zerknirschte Einzelgängerin. Hört Vian über die "Verknotungen" seines Lebens reden. Michelle Vian, eher die Betrogene, wird die Geliebte Sartres, nachdem sie lang seine Vertraute und Analytikerin seines Werkes war.
Versuche eines Tagebuches, zerfahren. Entdeckung des Reservoirs der Science-Fiction. Nächtelanges Schreiben von Drehbüchern, umsonst. Welcher Produzent soll "Le Cow-boy de Normandie" lesen? 1952 hat Vian nicht mehr genug Atem für die Trompete. Hochzeit mit Ursula, mürrisch, angespannte finanzielle Situation. Nachbarschaft mit Prévert, der zuweilen über laute Jazzmusik schimpft, aber Anlaufstation bleibt.
Dann die Aera des Chansons. Die Vorstellung allein, vor ein Publikum zu treten, bringt Vian schon um. Jedoch: man kann einen Roman ablehnen, aber man kann niemandem verbieten, ein Lied zu singen.
Gebannt lauscht Serge Gainsbourg, dessen Gesicht "auf ähnliche Weise beunruhigend" ist wie das von Vian. Am Tag des ersten Auftritts ist Vian steif und starr, grün vor Lampenfieber. Wunder geschehen auf der Bühne nur für den Exhibitionisten, die Introvertierten sind verloren. Aber das Publikum verurteilt niemanden zum Tode. Und zuletzt gibt es immer einen im Publikum, den die Verzweiflung rührt: dessen Augen suche. Vian steht da wie vom Mond gefallen, ein sich Sträubender, der sein Gedächtnis zermartert, um zu erfahren, was er hier tut. Schlimmer noch als die Gréco bei ihren ersten Auftritten. Regungslos, nur die Augen kreisen irr, suchen Ursula und einen Fluchtweg. Sprechgesang ohne Vibrato. Serge Gainsbourg später: "Es war grauenerregend, er wirkte wahnsinnig... die Leute waren vom Donner gerührt... er sang wahnsinnige Sachen, die mich fürs Leben gezeichnet haben."
Abend für Abend nun. Abend für Abend Magenkrämpfe vor Angst. Der zerstreute Anarchist mit bebender Stimme. Kriegsveteranenkommandos stören die Auftritte: kleingeistige nationalistische Baskemützenfranzöselei, die nicht will, daß Vian auf ihre Werte spuckt.
Das Literaturmilieu kann Genre-Vermischungen nicht leiden, denn es versteht sie ALS UNTRÜGLICHE ZEICHEN FÜR AMATEURTUM UND MANGELNDE ERNSTHAFTIGKEIT. Vian wird Schallplattenproduzent, schreibt Lieder, erfindet den ersten "falschen" französischen Rocker (Rock Failair) und nimmt den ersten wirklichen (Gabriel Dalard) bei FONTANA auf. Und steckt Energie in die Produktion der LP von Hildegard Knef, von der er bezaubert ist.
Zweites Lungenödem, Ursulas letzte Vorstellung ist DER FAKIRLEHRLING, dann hängt sie die Ballettschuhe an den Nagel, um ständig bei Boris zu sein. Vian schreibt ein Drehbuch für eine Verfilmung von ICH WERDE AUF EURE GRÄBER SPUCKEN. Verzettelt sich. Weil er DAS SCHEITERN ANSTREBT: "Vian macht sein Drehbuch vollkommen unverfilmbar."
Vian kann nicht funktionieren.
23. Juni 1959, 10 Uhr 10: Vian rutscht vom Sessel.
Der angesehenste französische Verlag, Gallimard, veröffentlicht DREHWURM, SWING UND DAS PLANKTON. Raymond Queneau, Wortverdreher, reicht eine Lektorhand. Queneaus Frau Janine ist die Schwester von Breton! Queneau wird Freund.
Vian ist eher scharf- als leichtsinnig, trinkt nicht; Zurückhaltung und tiefe Nostalgie, und doch scheint ihm alles leicht zu fallen. Keiner weiß, warum DER SCHAUM DER TAGE so heißt. Der am schnellsten geschriebene Nachkriegsroman (wohl bis Kerouac). Jean-Sol Partre, dem seine Parodie gefällt. Sartre ist Papst. Alles geht mit, neben oder gegen, nichts ohne Sartre, der schneller zu schreiben scheint, als man ihn lesen kann. Scipion: die "Genpolcarthres".
Michelle muß weinen, als sie das Manuskript abtippt - über den Verlust der Unbeschwertheit und die Verletzlichkeit der Seelen. Aber der Verlagspreis entgeht Vian - unverdient, wie er meint - und wird zum Stachel in seiner Seite. Verharmlosend beklagt er den "nicht sehr lustigen" Stil des Gallimard-Vertrages und bietet an, am Rand "kleine bunte Bilder" anzubringen. Wie immer: Einsatz von Intelligenz, um Schamhaftigkeit zu bemänteln.
REFORM DER ORTOGRAFI SOFORT NÖTICH!
Merleau-Ponty war ein Nachtschwirrer. Entzweit sich mit Camus bei einer Kuchenparty. Vian unterzeichnet keine Aufrufe, sondern macht ironische Bemerkungen mit schiefem Mundwinkel. Vians Helden, oft Ingenieure, müssen sich um Sinnloses kümmern. Sie verzetteln sich. HERBST IN PEKING, weder Herbst noch Peking. Schlaflosigkeit des Herzkranken. Erstickungsängste. HERBST IN PEKING ist der Roman des Morgengrauens.
Juliette Gréco. "Ihre Gelassenheit konnte rasend machen." Schweigsame Muse aller. Bar Vert, Rue Jacob - hier hat Artaud seine letzten öffentlichen Auftritte, er krächzt, sein Publikum verfluchend, ein paar Gedichte, dann versinkt er in Umnachtung.
ICH WERDE AUF EURE GRÄBER SPUCKEN. Von Vernon Sullivan. Paris rätselt, munkelt, fordert schließlich Vian, der als Übersetzer auftrat, zum Bekenntnis. Sullivan wird einer der Geister, die man nicht wieder loswird. Der Spaß wird bitterer Ernst, nicht nur wegen der Obszönitäts-Anklage.
Bogart und Bacall waren im TABOU, Welles und Cotten erscheinen in der Szene, der Existentialist hat keinen Nachtisch, Martine Carol steht hoch im Kurs, Marlon Brando fährt Juliette Gréco auf dem Motorrad nach Hause. Deren erster Auftritt: tot vor Lampenfieber.
Reiten auf dem Rücken der Dummheit. Vor Beschützerinstinkten erleidet Vian Gesundheitsanfälle. Sammelt Projekte wie andere Schmetterlinge. Hyperaktiv. Interpretationsversuche bringen ihn auf. Was Gallimard ablehnt, verschleudert er. Verzettelt sich. DAS ROTE GRAS ist totgeboren und zieht im Keller des Grossisten Wasser.
Ursula Kübler, schweizerische Tänzerin bei Roland Petit, eine etwas zerknirschte Einzelgängerin. Hört Vian über die "Verknotungen" seines Lebens reden. Michelle Vian, eher die Betrogene, wird die Geliebte Sartres, nachdem sie lang seine Vertraute und Analytikerin seines Werkes war.
Versuche eines Tagebuches, zerfahren. Entdeckung des Reservoirs der Science-Fiction. Nächtelanges Schreiben von Drehbüchern, umsonst. Welcher Produzent soll "Le Cow-boy de Normandie" lesen? 1952 hat Vian nicht mehr genug Atem für die Trompete. Hochzeit mit Ursula, mürrisch, angespannte finanzielle Situation. Nachbarschaft mit Prévert, der zuweilen über laute Jazzmusik schimpft, aber Anlaufstation bleibt.
Dann die Aera des Chansons. Die Vorstellung allein, vor ein Publikum zu treten, bringt Vian schon um. Jedoch: man kann einen Roman ablehnen, aber man kann niemandem verbieten, ein Lied zu singen.
Gebannt lauscht Serge Gainsbourg, dessen Gesicht "auf ähnliche Weise beunruhigend" ist wie das von Vian. Am Tag des ersten Auftritts ist Vian steif und starr, grün vor Lampenfieber. Wunder geschehen auf der Bühne nur für den Exhibitionisten, die Introvertierten sind verloren. Aber das Publikum verurteilt niemanden zum Tode. Und zuletzt gibt es immer einen im Publikum, den die Verzweiflung rührt: dessen Augen suche. Vian steht da wie vom Mond gefallen, ein sich Sträubender, der sein Gedächtnis zermartert, um zu erfahren, was er hier tut. Schlimmer noch als die Gréco bei ihren ersten Auftritten. Regungslos, nur die Augen kreisen irr, suchen Ursula und einen Fluchtweg. Sprechgesang ohne Vibrato. Serge Gainsbourg später: "Es war grauenerregend, er wirkte wahnsinnig... die Leute waren vom Donner gerührt... er sang wahnsinnige Sachen, die mich fürs Leben gezeichnet haben."
Abend für Abend nun. Abend für Abend Magenkrämpfe vor Angst. Der zerstreute Anarchist mit bebender Stimme. Kriegsveteranenkommandos stören die Auftritte: kleingeistige nationalistische Baskemützenfranzöselei, die nicht will, daß Vian auf ihre Werte spuckt.
Das Literaturmilieu kann Genre-Vermischungen nicht leiden, denn es versteht sie ALS UNTRÜGLICHE ZEICHEN FÜR AMATEURTUM UND MANGELNDE ERNSTHAFTIGKEIT. Vian wird Schallplattenproduzent, schreibt Lieder, erfindet den ersten "falschen" französischen Rocker (Rock Failair) und nimmt den ersten wirklichen (Gabriel Dalard) bei FONTANA auf. Und steckt Energie in die Produktion der LP von Hildegard Knef, von der er bezaubert ist.
Zweites Lungenödem, Ursulas letzte Vorstellung ist DER FAKIRLEHRLING, dann hängt sie die Ballettschuhe an den Nagel, um ständig bei Boris zu sein. Vian schreibt ein Drehbuch für eine Verfilmung von ICH WERDE AUF EURE GRÄBER SPUCKEN. Verzettelt sich. Weil er DAS SCHEITERN ANSTREBT: "Vian macht sein Drehbuch vollkommen unverfilmbar."
Vian kann nicht funktionieren.
23. Juni 1959, 10 Uhr 10: Vian rutscht vom Sessel.
[Notes bei der Lektüre von: Philippe Boggio, Boris Vian, Köln / Basel 1995. Sehr
gutes Buch.]
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Antirationalistischer Block / Christian Erdmann
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4.3.19
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Boris Vian,
Literatur,
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Mittwoch, 20. Februar 2019
Dieter Kurzhorst-Faust (Slight Return)
The Return of -> Dieter Kurzhorst-Faust: Leider hat
ray05 seinen Blog "Letzte Lockerung" ins Nihil befördert. Im April
2011 erschienen dort Lebenszeichen von DKF, die nun also wieder verschwunden
sind. Zur Strafe für dieses nichtgutzumachende Verbrechen drucke ich hier die
von mir damals verfaßten Kommentare ab.
Zu "Neues von Dieter Kurzhorst-Faust"
Auch in diesem Film, der uns in Hoffnungslosigkeit
zu entlassen droht, verweigert sich Kurzhorst-Faust einem pessimistischen Ende.
Doch bei aller Brülljanz bleibt er hochkontrovers. Formulierte Blixa Bargeld
einst als sein Movens: "Türen aufmachen, wo es vorher gar keine gab",
scheint für Kurzhorst-Faust mittlerweile zu gelten: Gegen Türen bumsen, wo es
immer noch keine gibt. Mit unverstelltem Blick. Wenn in einer atemberaubenden
Einstellung dieses Films ein Kind Löwenzahn zerstückelt, bedeutet das in
Kurzhorst-Fausts Welt ja letztlich nichts anderes als die Bedrohung des
Kunstgewerblichen mit einem Korkenzieher. Vorbei die Zeiten, in denen
Kurzhorst-Faust in Ermangelung eines wirklichen Feindes ein metaphysisches
Hohnlachen anstimmte. Nein, Kurzhorst-Faust ist zurück als Spion in
trügerischen Idyllen, als wütender Niederbrenner der kleinen Spaßhäuser, in
denen immer der gleiche Irrtum der vermeintlichen Puristen aufhört, die Welt
zwischen die Zeilen zu schreiben.
Zu "Der
fünfte Stein von Dieter Kurzhorst-Faust"
Dankenswert, wie die Antipodie herausgewerkt wurd.
Herzog wollte ja immer mit Jack Nicholson drehen, doch es kam nie zustunde,
weil Nicholson "an island of sanity" sei. Verglochen mit Kinski. Wie
nun hier Jack Nicholson, der seinen Gefährten schiebt, bei 2:14 den Kopf
einzieht, unter der ganzen Wucht Kurzhorst-Faustscher Herangehensweise - das
ist denkwürden, das ist epochell. Die Lüneburger Heidi. Die Lüneburger Alpen,
eine mächtige Quelle des Erhabenen. Bei all ihrer strangulativen Majestät doch
eine Königin der effektiven Unruhe. Es ist die große Kette der Fünf-Uhr-Sachen,
die Kurzhorst-Faust zu interessieren scheint. "Der fünfte Stein"
zieht uns zum Thron Gottes hin, den Gott sich eben dahin zu stellen beliebte,
volle Möhre in die schwundelerregenden Höhen der Lüneburger Hochgebirge, wo auf
speziöse und doch grazielle Weise die Schwerkraft werkt, zwischen diesen
visuellen Objekten von immenshaften Dimensionen. Wenn Kurzhorst-Faust die
Flachwelligkeit dieses norddeutschen Tourismusschwerpunkts gänzlich ausblendet,
ist das nicht bloße Willkür. "Der Landkreis Soltau-Fallingbostel ist von
so ausdrucksvoller Ungewißheit, daß mir die Sprache verschlug", sagt
Kurzhorst-Faust. So bricht denn auch der verstörende Soundtrack (Gogol Wu und
die Frau von Hans Moser) urplötzlich ab, die Stimmigkeit der Stummigkeit der
Pferde, am Ende der einsame Mann - ist es Jack, ist es ein Heidebewohner? -,
der mit seinem Veloziped noch einmal das Fundament der Proportionen zu
durchglöten scheint: um hier affiziert zu sein, ist Mitwirkung des Willens unnötig.
Eingestellt von
Antirationalistischer Block / Christian Erdmann
um
20.2.19
Freitag, 15. Februar 2019
Helmut Griem
2. September
2018. Nach einer ersten erfolglosen Mission im Frühjahr fand ich schließlich
beim zweiten Versuch das Grab von Helmut Griem, versteckt und überwuchert. Ich
schnitt einige Zweige ab, die den Grabstein verdeckten, entfernte Efeu, betrieb
tatsächlich ein bißchen Grabpflege beim großen Helmut Griem. Ein Edelmann,
wenn man den - erschreckend wenigen - Berichten, die man findet, zuhört. Nur
eine kleine Auswahl seiner Filme: 1968 "Bel Ami" mit Erika Pluhar.
1969 Aschenbach in "Die Verdammten" von Luchino Visconti. 1972 Baron Maximilian
von Heune in "Cabaret". Dürckheim in "Ludwig II.", erneut
Visconti. 1976 Hans Schnier in "Ansichten eines Clowns". Auch in der
"Zauberberg"-Verfilmung von 1982 - jener Dreiteiler mit Christoph
Eichhorn und Marie-France Pisier, für den ich eine inkurable Schwäche habe - taucht
er auf, als James Tienappel. Chabrols "Wahlverwandtschaften" mit
Stéphane Audran. "Die Spaziergängerin von Sans-Souci" mit Romy
Schneider. Im TV-Mehrteiler "Peter der Große" (1986) ist er zu sehen
als Alexander Menshikov.
Einige Fundstücke:
"Das war der Udo Proksch. Und der war ein ganz faszinierender Kerl, ein sprühender Mensch, der mich mit seiner Ideenfülle und Unbekümmertheit anzog. Ich war ja eher brav und pflichterfüllt. Obwohl er ein kleiner, klobiger Mann mit breitem Gesicht war, sind ihm die Frauen buchstäblich nachgerannt. Diesen seltsamen, leicht verrückten Menschen habe ich sehr geliebt. Die Ehe war sehr schwierig. Er war immer unterwegs und hat mich ständig beschissen. Und er wurde Alkoholiker. Das war das Schlimmste. Im Alkohol hat er mich zweimal wirklich verprügelt. Was mich da gerettet hat, und das sage ich mit großer Zuneigung, war der Helmut Griem, mit dem ich beim Drehen von Bel Ami eine Affäre hatte. Diese Beziehung gab mir die Kraft, mich von meinem Mann scheiden zu lassen."
(Süddeutsche Zeitung Magazin, Interview mit Erika Pluhar, Oktober 2011)
"Helmut Griem war von so einer unglaublichen Bescheidenheit, wie ich es sonst nie erlebt habe. Er war ein so besonders feiner Mensch. Er hat sich immer zurückgenommen und ist in einer ganz feinen, respektvollen Weise mit allen umgegangen. Er hat sich nie beschwert, auch wenn wir etwas ein paar Mal drehten und er warten musste. Er war ein ganz uneitler, sehr aufmerksamer, sehr leiser, sehr angenehmer Mensch.
Griem hat sich in sein Privatleben nicht hineingucken lassen, das machen die wenigsten Schauspieler, weil sie Sorge haben, dass sie etwas preisgeben, was die anderen nichts angeht und sie schützen das. Sie wollen für sich einen Bereich erhalten, wo kein anderer Zutritt hat und das ist absolut richtig und verständlich, weil ein guter Schauspieler so viel in seine Rollen hineinlebt - von seinem Leben - bei Griem war das viel von seiner Melancholie und das ist ein ganz heikler Vorgang vor der Kamera, denn die ist unbestechlich. Griem war immer sehr konzentriert und immer in seiner Rolle...
Ich war erschrocken, wie man damit umgegangen ist, als er starb. Da stirbt ein Weltstar, der so bekannt war, und man hat ihn nicht gewürdigt."
(Bernd Böhlich, Regisseur und Drehbuchautor)
"Wir sind uns beim Drehen leider nicht begegnet, aber im Hotel in Budapest. Ich ging auf ihn zu, ich sagte, Herr Griem, ich bin so froh, dass ich endlich die Gelegenheit habe, Ihnen mal was zu sagen, ich war in München auf der Schauspielschule, damals, ich habe sie gesehen, live, damals, am Resi, als Philoktet ..., ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, aber ich glaube, Sie haben mich für das ganze Leben beeindruckt. - Er lächelte, und sagte: "Hast Du auch Hunger?"
(Peter Sattmann)
Einige Fundstücke:
"Das war der Udo Proksch. Und der war ein ganz faszinierender Kerl, ein sprühender Mensch, der mich mit seiner Ideenfülle und Unbekümmertheit anzog. Ich war ja eher brav und pflichterfüllt. Obwohl er ein kleiner, klobiger Mann mit breitem Gesicht war, sind ihm die Frauen buchstäblich nachgerannt. Diesen seltsamen, leicht verrückten Menschen habe ich sehr geliebt. Die Ehe war sehr schwierig. Er war immer unterwegs und hat mich ständig beschissen. Und er wurde Alkoholiker. Das war das Schlimmste. Im Alkohol hat er mich zweimal wirklich verprügelt. Was mich da gerettet hat, und das sage ich mit großer Zuneigung, war der Helmut Griem, mit dem ich beim Drehen von Bel Ami eine Affäre hatte. Diese Beziehung gab mir die Kraft, mich von meinem Mann scheiden zu lassen."
(Süddeutsche Zeitung Magazin, Interview mit Erika Pluhar, Oktober 2011)
"Helmut Griem war von so einer unglaublichen Bescheidenheit, wie ich es sonst nie erlebt habe. Er war ein so besonders feiner Mensch. Er hat sich immer zurückgenommen und ist in einer ganz feinen, respektvollen Weise mit allen umgegangen. Er hat sich nie beschwert, auch wenn wir etwas ein paar Mal drehten und er warten musste. Er war ein ganz uneitler, sehr aufmerksamer, sehr leiser, sehr angenehmer Mensch.
Griem hat sich in sein Privatleben nicht hineingucken lassen, das machen die wenigsten Schauspieler, weil sie Sorge haben, dass sie etwas preisgeben, was die anderen nichts angeht und sie schützen das. Sie wollen für sich einen Bereich erhalten, wo kein anderer Zutritt hat und das ist absolut richtig und verständlich, weil ein guter Schauspieler so viel in seine Rollen hineinlebt - von seinem Leben - bei Griem war das viel von seiner Melancholie und das ist ein ganz heikler Vorgang vor der Kamera, denn die ist unbestechlich. Griem war immer sehr konzentriert und immer in seiner Rolle...
Ich war erschrocken, wie man damit umgegangen ist, als er starb. Da stirbt ein Weltstar, der so bekannt war, und man hat ihn nicht gewürdigt."
(Bernd Böhlich, Regisseur und Drehbuchautor)
"Wir sind uns beim Drehen leider nicht begegnet, aber im Hotel in Budapest. Ich ging auf ihn zu, ich sagte, Herr Griem, ich bin so froh, dass ich endlich die Gelegenheit habe, Ihnen mal was zu sagen, ich war in München auf der Schauspielschule, damals, ich habe sie gesehen, live, damals, am Resi, als Philoktet ..., ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, aber ich glaube, Sie haben mich für das ganze Leben beeindruckt. - Er lächelte, und sagte: "Hast Du auch Hunger?"
(Peter Sattmann)
6.4.1932 - 19.11.2004
Eingestellt von
Antirationalistischer Block / Christian Erdmann
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15.2.19
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Film,
Helmut Griem
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Dienstag, 29. Januar 2019
Nietzsche III
SPIEGEL ONLINE Forum "Literatur - Was lohnt es
noch, zu lesen?"
Juli 2009
Juli 2009
hans-werner
degen:
Der
Logik folgen heißt, dass ein Rädchen des Denkens folgerichtig ins andere
greift... und das kann man bei Nietzsche nicht sagen...
Aljoscha der Idiot / Christian Erdmann:
So wie es "logisch" ist, daß aus der Rede
vom "Übermenschen" bei Nietzsche, die Sie vermutlich ähnlich krude
verstehen wie Nietzsches Rede von der "Lust" oder Nietzsches Rede vom
"Willen zur Macht", folgt, daß es auch "Untermenschen" gibt,
nicht wahr?
Zeigen Sie mir eine Stelle, in der Nietzsche von
"Untermenschen" redet. Tip: es gibt genau eine. Und wenn Sie es
schaffen, auch diese Passage "logisch" und "logosgemäß" so
zu verstehen, wie Nietzsche zur Nazizeit verstanden wurde, machen wir eine
Schießbude auf. Drei Treffer gewinnen das Goldene Kalb.
"Herrschen? Meinen Typus Andern aufnöthigen?
Gräßlich! Ist mein Glück nicht gerade das Anschauen vieler Anderer?" (Nietzsche)
hans-werner
degen:
Wenn es Übermenschen gibt, muß es Untermenschen geben... sonst wäre das Über... sinnlos und leer. Verwende ich einen solchen Begriff, muß jedem klar sein, dass es da noch etwas anderes geben muß... und der Gegensatz von Über... ist Unter...
Aljoscha
der Idiot / Christian Erdmann:
Fakt ist, daß das Wort bei Nietzsche nur einmal, und zwar in einem völlig
anderen Zusammenhang, auftaucht. Sie können Nietzsche jederzeit kritisieren, aber doch bitte nicht derart oberflächlich. Im einem der Links,
die Sie gestern anbrachten, hieß es wieder mal (yawn): "Für Nietzsche wäre
er wohl die Verkörperung des Übermenschen gewesen." Nein, wäre er nicht,
da können Sie Gift drauf nehmen.
Das Über ist konzipiert als reines Heraus aus dem Bestehenden. Es gibt in der menschlichen
Sprache "das Übernatürliche", wo wäre "das
Unternatürliche"?
Noch was zu gestern: Hermeneutik ist nicht Identifikation, auch da verfahren
Sie nicht redlich, nicht "logosgemäß". Nietzsche-Interpretation macht
einen nicht zum "Nietzsche-Jünger".
hans-werner degen:
Zu
jedem Wort, das einen Bezug auf Variabilität enthält, gibts einen Gegensatz. Und
zu dem arischen Übermenschen gabs schnell den semitischen Untermenschen. Und ich
halte ... Nietzsche nicht für so blöd, dass er diesen Gegensatz nicht gekannt
hätte.
Aljoscha der Idiot / Christian Erdmann:
Was heißt denn um Gottes Willen "nicht so blöd,
diesen Gegensatz nicht gekannt zu haben"? Welchen? Den von den Nazis
konstruierten, zugespitzten, fatalen und letalen? Wie soll er denn den gekannt
haben? Bei Nietzsche selbst gibt es zig Äußerungen zu "arisch" und
"semitisch", in vielerlei Färbung, mit einem erkennbaren Wandel der
Konnotationen, als Gegensätze, als Nichtgegensätze. Weder hat Nietzsche bei
"arisch" an eine "deutsche Herrenrasse" gedacht, noch war
er antisemitisch; er war erklärter Anti-Antisemit, sein Bruch mit Wagner ging
nicht zuletzt auf dessen extremen Antisemitismus zurück. Wollen Sie behaupten,
Nietzsche hätte seinen Antisemitismus nur mit Synonymen bemäntelt?
Der späte
Nietzsche hat "Rassenmischung" als "Quell großer Kultur"
befürwortet. Die einschlägigen Passagen bei Nietzsche lassen mindestens
erkennen, wie fern Nietzsche dem stand, was Wagner oder Hitler aus Gobineau
folgerten. Und Sie haben jede einzelne Passage Nietzsches, in der er von
"Rasse" spricht, überhaupt erst einmal daraufhin zu untersuchen, ob
er da überhaupt den Begriff im Sinne der gebräuchlichen "Rassentheorie"
verwendet, das ist nämlich beileibe nicht immer der Fall.
Kaufen Sie sich übrigens das Buch, das Sie gestern verlinkt haben. Taureck wird
es freuen, und Sie haben ein Beispiel dafür, wie eine differenzierte Kritik an
Nietzsche aussehen kann. Taureck ist übrigens auch nicht immer auf dem
richtigen Dampfer, meinem Verständnis nach, aber wer ist das schon. Die Zeit,
in der man Nietzsche mit in kindischer Hartnäckigkeit wiederholten Empörungen diskreditieren konnte, ist jedenfalls vorbei, dafür hat akribische wissenschaftliche
Arbeit doch nun wirklich in breiter Front gesorgt. Wenn Sie bei "Alle Lust
will Ewigkeit" nicht weiterkommen als bis zu masturbierenden Pennälern,
mag das nur embarrassing sein. Wenn
Sie aber partout und hartnäckig den "Willen zur Macht" auch so
verstehen wollten, wie es zur Nazizeit geschah, wäre das indes ein Problem.
Aber nur das Ihre.
oliver
twist aka maga:
@Aljoscha
Mit dem "Alle Lust will Ewigkeit" habe
ich keine Probleme. Man kann den Satz in zweierlei Hinsicht deuten. Und
Nietzsche hat mit dem Denken Gobineaus, Wagners und Chamberlains nichts gemein.
Man sollte aber nicht vergessen, dass der ursprünglich dem Rassendenken
fremdstehende Mussolini - noch Mitte der 30er Jahre machte er sich lustig über
den Hitlerschen Rassenwahn - stark vom Denken Nietzsches beeinflusst worden
ist. Der Übermensch, der ja nur Übermensch sein kann, wenn andere keine
Übermenschen sind, hat zwar nicht den Amoralismus in der Politik begründet -
der ist so alt wie der Mensch selbst -, er hat ihn aber zu etwas
Erstrebenswerten gemacht und ihm seine philosophische Rechtfertigung gegeben.
Es gibt tausend Gründe dafür, wenn man nach seinem Lieblingsphilosophen -
meiner ist Aristoteles - gefragt wird, nicht Nietzsche zu nennen.
BerSie:
Das ist wahr! Meiner ist Bertrand Russell. Leider
verstand der nichts von Logik und wurde vermutlich schon von Thomas von Aquin
widerlegt - vielleicht ist das der Grund für meine Sinnkrise!?
Was hat "Rope" mit Nietzsche zu tun? Das Motiv
der beiden Mörder war wohl so etwas wie spätpubertärer Größenwahn. War übrigens
ein Experiment - der Film. Hitch wollte den "echtzeitmäßig" in einem
Take aufnehmen. Ging allerdings damals noch nicht, da die Länge der Filmrollen
nur eine knappe halbe Stunde erlaubte...
Aber das hat nichts mit Nietzsche zu tun! ;)
Aljoscha
der Idiot / Christian Erdmann:
@maga
Es gibt tausend Gründe dafür, überhaupt keinen
"Lieblingsphilosophen" zu haben, weil sie alle wertvoll sind. Sicher
kenne ich "Rope", guter Film, aber wie BerSie sich auch schon
wunderte – ist von Nietzsches "Übermensch"-Idee so weit entfernt wie
"Rope" von Hitchcocks bestem Film. Nein, weiter. :)
Zitat von BerSie:
Das
ist wahr! Meiner ist Bertrand Russell.
Sehr gut! Der hat seine amerikanische Professur
verloren, weil seine Schriften, wie ein Vertreter der Anklage vor Gericht
erklärte, als "wollüstig, libidinös, lüstern, unkeusch, erotoman,
aphrodisisch, respektlos, unwahr und bar jeglicher Moral" zu betrachten
seien. Also wen das nicht reizt. :)
Zitat von hans-werner
degen:
Ich
habe Nietzsche nicht haftbar gemacht, nur gezeigt, dass diese Interpretation
möglich und daher zulässig ist.
Ihre Interpretation des "Übermenschen"
jedenfalls ist aus Nietzsche heraus nicht
zulässig. Daß Nietzsche nicht von "Untermenschen" spricht, daß er
kein Antisemit war, daß Sie beim Zitieren meines Beitrags das Nietzsche-Zitat,
das Ihnen nicht in den Kram paßt, und es ist nur eines von vielen möglichen,
vielsagenderweise weggelassen haben, nämlich: "Herrschen? Meinen Typus
Andern aufnöthigen? Gräßlich! Ist mein Glück nicht gerade das Anschauen vieler
Anderer?", all das ist gar nicht so relevant. Entscheidend ist Ihre falsche
Sicht auf Nietzsches Begriff "Übermensch" selbst.
Ich hatte Ihnen einen Hinweis dazu gegeben:
"Das Über ist konzipiert als reines Heraus aus dem Bestehenden. Es gibt in der
menschlichen Sprache 'das Übernatürliche', wo wäre 'das Unternatürliche'?"
Das "reine Heraus aus dem Bestehenden",
darum geht es. Dazu bedarf es keines "Untermenschen", dazu bedarf es
nur des bisherigen Menschen. Der Über-Mensch ist nicht Herr über andere, er ist
Herr über sich selbst. Jeder Versuch, aus Nietzsches Begriff des Übermenschen
irgendeine Idee von Gewaltausübung über andere abzuleiten, ist barer Unsinn.
Wenn Sie sich da auf eine Stufe mit den Nazis stellen wollen, tun Sie das, aber
machen Sie Ihre Motive klar.
Freut mich, daß Sie Taureck so schätzen. Ich werde
Ihnen mal aus Taurecks "Nietzsche-ABC" referieren, was da zum "Übermenschen"
zu lesen ist.
"Um alles über Nietzsche zu sagen, könnte man
bemerken, daß er mehr Bilder benutzt und schafft als irgendein anderer Denker.
... Bild ist auch der 'Übermensch', ein Wort, das Nietzsche zum Beispiel in
Goethes Faust finden konnte, wo Faust von dem Erdgeist mit diesem Titel
ironisch angeredet wird. ... 'Übermensch', ins Griechische übersetzt, könnte
'Hyper-Anthropos' oder auch 'Meta-Anthropos' heißen. Bei Lukian ist hyperánthropos
tatsächlich belegt. ... 'Hyper-Anthropos' käme etwa ... einer höheren
biologischen Evolutionsstufe jenseits der neuronalen Komplexität des Menschen
(gleich). 'Meta-Anthropos' dagegen meint einen Menschentypus, der in der Lage
ist, alles Menschliche zum Gegenstand zu machen."
Taureck schreibt weiter, es gehe Nietzsche nicht um
den Hyper-Anthropos, "... sondern um die reflektierende Gestalt des
'Meta-Anthropos'. Der Übermensch ist für Nietzsche primär ein Mensch, der über den Menschen Bescheid weiß und
kraft dieses Wissens die Grenzen des bisherigen Menschen überschritten
hat."
Der Übermensch ist ein Selbst-Schöpfer, der keinen
Dogmen mehr hinterherlaufen muß, fähig, das Leben ohne vorgegebenen Sinn zu
bejahen.
hans-werner
degen:
Und warum hat er das nicht geschrieben, wenn er es
gemeint hat?
Und grundsätzlich: gerade Taureck nennt Nietzsche den protofaschistischsten Denker in der Ahnenliste des Faschismus.
Und grundsätzlich: gerade Taureck nennt Nietzsche den protofaschistischsten Denker in der Ahnenliste des Faschismus.
ray05:
My Nietzsche
Wilamowitz' bekannte Kennzeichnung Nietzsches als
"Prophet einer irreligiösen Religion und einer unphilosophischen
Philosophie" ist so paradox wie zutreffend. Nietzsches Selbstauskunft:
"Ich bin ein Immoralist"; ich ergänze à la Wilamowitz: Er ist ein
moralischer Immoralist.
Nun, was bedeutet es denn, wenn Nietzsche
konstatiert: "Gott ist tot. Wir haben ihn umgebracht." Er bezeichnet
damit den Kulminationspunkt menschlicher Dekadenz, das low level life, das nur noch nach Instanzen und
"Gerechtigkeit" blökt, die Lebensarmut und -schwäche, die sich im
Wunsch nach den Imperativen umfassender "Moral" oder
"Tugend", von selbstgebasteltem "Recht" und
"Gesetz" offenbart und ohne deren Verabreichung in immer höheren
Dosen keine Lebensäußerung mehr möglich scheint. Nietzsche ist nicht nur der
"Antichrist", er ist auch der Platon-Umkehrer.
Tja, die Erkenntnis, das "logosgemäß"
gültig zu Formulierende, beisst sich mit schöner Regelmäßigkeit selbst in den
Schwanz, sagt Nietzsche, die von ihr behauptete "Wahrheit" ist nichts
weiter als eine Komödie. Der Primat logosgeleiteter "Wissenschaft"
geht nicht zufällig Hand in Hand mit der schleichenden Entmündigung Gottes.
Erst schickt man ihn in die Kurzarbeit, dahin, wo er nur noch "gut"
oder "gütig" zu sein braucht, dann verbannt man ihn in die Sphäre des
Imaginären, schließlich entsorgt man ihn vollends, und kann sich - befreit - so
ganz der menschlichen Erkenntniskomödie hingeben: Selbstgerecht moralisierend
und halbsenil vor sublimer Geistesschwäche.
Fort mit der "Sklavenmoral", lasst uns
dem Leben zurückgeben, was des Lebens ist, höchste Zeit für die Umkehr, sagt
Nietzsche, für die "Umwertung aller Werte". Gott werden wir nicht
mehr zum Leben erwecken können; ihn als ausgestopften Popanz vor uns her zu
tragen, kommt nicht in Frage, das überlassen wir den Kirchen. Nein, WIR als
Menschen ohne Gott werden unsere Lebenshülle zurücktragen müssen, freilich noch
hinter Plato zurück, weil dessen Sokrates schließlich als Erster mit dem Unfug
anfing, den Logos über den Ausdruck zu stellen, die Kunst zu diskreditieren,
indem er die Leinwände mit Tugend- und Erkenntnissuppe vollspritzte.
Es ist moralischer, sich hin- und dranzugeben, als
sich zu bewahren, sagt Nietzsche mit Clawdia Chauchat; ja, berstend vollgepackt
soll es sein, das Leben, mit lustvoller Intensität und intensiver Lust
wechselwirkend zwischen den zwei Lebenssäulen (Werten) des Ekstatischen,
Gefährlichen, bejahend Hingebenden und des Abmessenden, Gestaltenden, die
"fröhliche Wissenschaft" Betreibenden. Was sei nun das Ergebnis
dieser Wechselwirkung, deren höchster Ausdruck, die höchste Moral, die höchste
Erkenntnis, die "Wahrheit"? Eben: Die Kunst. Künstlerisches Leben,
lebendige Kunst.
Ist zu lau. Eher: Ästhetisches Leben. Leben als
Gesamtkunstwerk.
KLMO:
Eine sehr schöne kompakte Zusammenfassung.
Über die Sklavenmoral bzw. die daraus resultierende
Immoral Nietzsches braucht man nicht viel zu referieren. Nietzsche: "Es
gibt gar keine moralischen Phänomene, sondern nur eine moralische Auslegung von
Phänomenen..." (Die Natur kennt keine Moral, nur der Mensch, der sie
definiert und auslegt.)
Nietzsche stellt, und dies berechtigt, alles in Frage, er
ist ein Zerstörer, er bricht die alten morbiden Gemäuer bis zu ihren
Fundamenten nieder. Und hier beginnt die Stunde des Übermenschen, der versucht,
auf diesen alten Fundamenten ein neues Gebäude zu errichten.
Vom Grundtenor her habe ich Nietzsche sehr gut
verstanden, besonders auch was das Christentum anbelangt. Was machte ein Peter
Abaelard, der in einem Kloster verstarb, anderes, indem er in seiner Schrift
"Sic et Non" (Ja und Nein) 158 Widersprüche der Kirchenväter
zusammenfasste und diesen 1800 Zitate von Streitfragen hinzufügte. Die
Verurteilung durch das Konzil zu Sens erwog ihn, den Ländern der Christenheit
den Rücken zu kehren und zu den Heiden zu gehen, um dort in Ruhe und Frieden
unter den Feinden Christi christlich zu leben. Nietzsche setzt doch nur bei
Abaelard nach 800 Jahren wieder an, nur radikaler, konsequenter.
Die Gottesfrage und das Christentum muss bei Nietzsche
differenziert werden, deren Unterscheidung Christen oft nicht gelingt.
"Wir haben Ihn getötet" heißt nichts anderes, dass menschliche Bilder
zerstört werden, da sie letztendlich in die Irre und in einen Götzendienst führen.
(Siehe erstes Gebot – klassisches Beispiel, wenn auch hier Nietzsche von den
"Umkehrungen aller Werte im Christentum" spricht.)
In einem Punkt bin ich mir nicht sicher: ob man bei
Nietzsche von einem reinen Atheisten sprechen kann, womöglich will er auch hier
nur alte Fundamente zerstören. Auch hier ist Nietzsche nachvollziehbar. Seine
Intentionen gehen eher hin zu einem Deismus, der allerdings mit dem Christentum
nichts mehr zu tun hat.
Man lese nur seine Verse:
Noch einmal, eh' ich weiterziehe
Und meine Blicke vorwärts sende,
Heb' ich vereinsamt meine Hände
Zu Dir empor, zu dem ich fliehe,
Dem ich in tiefster Herzenstiefe
Altäre feierlich geweiht,
Daß allezeit
Mich Deine Stimme wieder riefe.
Darauf erglüht tief eingeschrieben
Das Wort: Dem unbekannten Gotte.
Sein bin ich, ob ich in der Frevler Rotte
Auch bis zur Stunde bin geblieben:
Sein bin ich – und ich fühl' die Schlingen,
Die mich im Kampf darniederziehn
Und, mag ich fliehn,
Mich doch zu seinem Dienste zwingen.
Ich will dich kennen, Unbekannter,
Du tief in meine Seele Greifender,
Mein Leben wie ein Sturm Durchschweifender,
Du Unfaßbarer, mir Verwandter!
Ich will Dich kennen, selbst Dir dienen.
Aljoscha der Idiot / Christian Erdmann:
@ ray / KLMO: "Ich sage nur ein Wort: Vielen Dank!" (Hrubesch).
:)
Der dominierend ästhetische Zug von Nietzsches Denken enthält ja den
anti-ideologischen Duktus auch rücksichtslos in der Form: Wille zum System =
Mangel an Rechtschaffenheit. Der Dorn in der Seite der Nietzsche-Ablehner ist ja
nicht nur, daß er allen Schmock wegtritt mit dem Ruf, die alten Lebenskrücken
seien ohnehin marod. Es ist auch die Schwierigkeit, dem interdisziplinären
Seiltanz Nietzsches überhaupt zu folgen: die Form seiner
Experimentalphilosophie selbst ist künstlerisch.
Von ihm "logische" Stringenz zu erwarten bedeutet doch schon, nicht nachzuvollziehen, wie er neben Moralkritik und Religionskritik auch Rationalitätskritik betreibt, Kritik an der rationalen Vernunftanmaßung. Kunst / Kultur / Kultivieren / Selbstkultivierung als lebensdienliche Alternative zur "Wahrheit": DIE Wahrheit als absoluten Maßstab der Erkenntnisse gibt es nicht. Der Intellekt ist Erzeuger von Illusion. Wahrheit ist eine Lüge, die interessehalber von einer Allgemeinheit aufrechterhalten wird. Für Nietzsche ist "Wahrheit" ein bewegliches Heer von Metaphern, bestenfalls kann er "die" Wahrheit als die Illusion fassen, von der man vorsätzlich vergessen hat, daß sie eine ist. Wirklichkeit wird sprachlich konstituiert, in der Konstitution findet jene Produktivität statt, die Nietzsche ästhetisch nennt.
Von ihm "logische" Stringenz zu erwarten bedeutet doch schon, nicht nachzuvollziehen, wie er neben Moralkritik und Religionskritik auch Rationalitätskritik betreibt, Kritik an der rationalen Vernunftanmaßung. Kunst / Kultur / Kultivieren / Selbstkultivierung als lebensdienliche Alternative zur "Wahrheit": DIE Wahrheit als absoluten Maßstab der Erkenntnisse gibt es nicht. Der Intellekt ist Erzeuger von Illusion. Wahrheit ist eine Lüge, die interessehalber von einer Allgemeinheit aufrechterhalten wird. Für Nietzsche ist "Wahrheit" ein bewegliches Heer von Metaphern, bestenfalls kann er "die" Wahrheit als die Illusion fassen, von der man vorsätzlich vergessen hat, daß sie eine ist. Wirklichkeit wird sprachlich konstituiert, in der Konstitution findet jene Produktivität statt, die Nietzsche ästhetisch nennt.
Leben, gelingendes Leben, ist ein Erfolg der Kunst. Von diesem Gedanken hat
Nietzsche niemals gelassen. Produktivität am Grunde aller Wirklichkeit:
Nietzsche siedelt das Künstlerische auf denkbar elementarer Stufe an, wenn er
schon mentale Prozesse als künstlerische Leistung faßt. Die Wirklichkeit selbst
wird so zum Gesamtkunstwerk, als Konglomerat erzeugter Bedeutungen. Es gibt
keine Wirklichkeit außer der, die wir uns mittels kognitiv-produktivem
Enthusiasmus erschaffen. Aber das ist nur der Ausgangspunkt: der Übermensch ist
ja eben der, der den durchschauten Konstruktionen eigene entgegensetzt.
Der zugleich gelassene und ausgelassene Immoralismus, der sich bei
Nietzsche im Lauf seines Schreibens als Ideal ausprägt, ist immer vor dem
Grundgedanken Nietzsches zu sehen: das größte Kunstwerk ist eine Welt, die sich
aushalten läßt. Und der in dieser Hinsicht "Starke", weil
Schöpferische, Selbstbestimmte, Freie, ist nicht ohne moral sense, im Gegenteil: im "Werde, was du bist" ist
von Anfang an ein praktischer Vektor, ein fließender Übergang von Ästhetik zu
Ethik. Was Nietzsche ablehnt, ist das aggressiv organisierte Ressentiment, das
ein schlechtes Gewissen andreht, die Moral als Vampirismus.
Und, ja, unschätzbar der Gedanke, einen fundamentalästhetischen Grundtrieb
aufzulösen in zwei sich gegenseitig herausfordernde Komplementärtriebe, deren
Wechselspiel an allem teilhat. Immer
ist Sichhin- und drangeben und
Sichbewahren zugleich - nur selten zu gleichen Teilen. :)
Edda Sörensen:
An ray / Aljoscha:
Der Aufenthalt auf Sardonien ist Euch anscheinend
wirklich bestens bekommen, um nun mit solch wunderbar zu lesenden, wahrhaftigen
Gedanken zu Nietzsches Intentionen das Forum zu bereichern. Deshalb trage ich
es Euch nicht nach, dass Ihr mit dem Hubschrauber nach Rom und dort First Class weiter auf die McCoy-Islands geflogen seid, das Geld der Vatikanbank abgehoben
und eine Yacht gechartert habt, mit der Ihr nun mit Euren Ladies eine Kreuzfahrt
rund um die Jungferninseln macht. Eine wunderbare Zeit voll brillianter
Gedankengänge wünscht Euch
Edda
Eingestellt von
Antirationalistischer Block / Christian Erdmann
um
29.1.19
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