I
Was ich im SPIEGEL ONLINE Forum über Scott Walker schrieb.
16.10.2006
Nebenbei, wenn es denn
um Astrologie ginge: dem "Steinbock" sagt man ja nach, eher
wertkonservativ zu sein und sich nicht gerade als Zerstörer gewohnter
Strukturen hervorzutun. Die Musik könnte beweisen, daß gerade jene, die sich in
der Tradition angeblich am wohlsten fühlen, also vielleicht auch am besten über
sie Bescheid wissen, sehr weit ins Ungewohnte vorzudringen wissen.
David Bowie, Scott
Walker, Blixa Bargeld, Patti Smith, Marilyn Manson, Syd Barrett, Jimmy Page -
alle Sternzeichen "Steinbock". Allesamt sehr gute Kenner der
Traditionen, allesamt sehr wagemutig und innovativ mit "Strukturen"
beschäftigt, zum Teil an Orten, wo sonst keiner mehr ist oder war, sehr
einzigartig in dem, was sie tun oder taten, ihrer Sache sehr ernsthaft verschrieben,
z.T. schon märtyrerhaft "weit draußen".
05.01.2007
Scott Walker und Peter Hammill sind irgendwie jenseits von "gut" / "nicht so gut", die operieren einfach weiter in ihren eigenen Zonen, Hammill ist der, den sie in der Geschlossenen Abteilung "Shakespeare" nennen, und Scott Walker ist ein Alptraum Kafkas, eingespeist in eine Überwachungskamera.
18.08.2007
"Das Bild der
Zwillingstürme ist ein Gleichnis für die amerikanische Selbstüberschätzung. Sie
hatten keine geistig reflektierbare Substanz. Elvis hatte einen tot geborenen
Zwillingsbruder und hat diesen nie gesehen. Dieser hatte für ihn also auch
keine geistig reflektierbare Substanz. Das paßte zusammen."
Sagt der seinerseits legendäre
Scott Walker, der in "Jesse" auf "The Drift" (2006) den
jenseits von Gut und Böse einsamen Elvis Zwiesprache mit seinem toten
Zwillingsbruder halten läßt ("In times of loneliness and despair, Elvis
Presley would talk to his stillborn twin brother Jesse Garon Presley"),
die Twin Towers stürzen ein und The King konstatiert: "I'm the only one
left alive."
Wer weiß.
17.02.2008
[Auf die Frage nach Musik für den Weltuntergang]
Glaubt man an das alte magische Prinzip, nur die Waffe, die die Wunde schlug, kann sie heilen, nimmt man die beiden letzten Werke von Scott Walker mit, "Tilt" und "The Drift". Könnte sein, daß der Weltuntergang sich dann, überrascht, sich selbst zu hören, wieder zurückzieht.
27.07.2008
Gottgroß. So sehr ich
die Walker Brothers der 60er liebe, richtig spannend ist, zur (Scott)-Hälfte,
ihr "Nite Flights" von 1978.
Und dann, um den Kreis
zu schließen, handelt dieser Scott Walker-Song von "The Drift" ja von...
"I read in an interview that those two guitar chords throughout the song are the same opening chords as 'Jailhouse Rock' by Elvis Presley, just downtuned 8 steps or so and played on a baritone guitar. It makes sense, seeing as the song is apparently supposed to be a conversation about 9/11 between Elvis and his brother Jesse. That said, music never made me truly frightened until this song."
06.09.2008
Anläßlich unserer
polyphonen Einstimmigkeit muß ich mal die höchsten Töne kramwursteln: gehet und suchet den Soundtrack zum Léos Carax-Film "Pola
X". Der Film ist zu Herman Melville, was "Apocalypse Now" zu
Joseph Conrad ist, dementsprechend ein völlig außer Kontrolle geratener Exzeß,
aber faszinierend bis dorthinaus. Dem Film verfällt man komplett oder man haßt
ihn wie die Pest, in beiden Fällen kann man ihn nur 1x sehen. Auf dem
Soundtrack überdeleruet Scott Walker Georges Delerue, Streicherstücke von solch
Bittersüße habt ihr noch nicht gehört, und dazwischen läßt Walker ahnen, wie es
klingt, wenn die Tore des Tartarus aneinanderschubbern.
[Light / Never Again / The Church Of The Apostles]
12.03.2009
Scott Walker war auch gerade mal 26, als er eine nervenzerfetzende Karriere als Pop-Ikone mit den Walker Brothers und ein Oeuvre von vier Solo-Platten hinter sich hatte, auf denen er Europa von Camus bis Ingmar Bergman, von Jacques Brel bis Prager Frühling abgehandelt und nebenher Gregorianischen Gesang studiert hatte. Neben einem solchen Enigmatiker muß man sich vermutlich entscheiden, ob Alex Turner mit seinen Anfang 20 ein wirklich versiertes Wunderkind oder nur ein genialer Rotzlöffel ist. Ich weiß es auch nicht. Was ich aber weiß, ist, daß "Scott 4" ein echtes Wunderwerk und "Boy Child" einer der Songs ist, für die das Wort "haunting" mal erfunden wurde. Reine unverständliche Schönheit, dunkel, süß, mysteriös, reine Poesie.
15.09.2009
Es war übrigens ein
Playboy-Bunny, das den in Europa angelandeten Walker mit Jacques Brel vertraut
machte. "I'd been dating
this bunny who was German, and she used to play Jacques Brel all the time at
home. One drunken evening I heard him and thought: 'This is amazing' and she
translated the lyrics for me. I was just about to go in and make my first
record, and so I thought I've got to have those songs. So, I had them, you know?"
Ich sag's ja immer, hohe Absätze und Kritik der Urteilskraft, untrennbar.
08.07.2010
"The godlike genius of Scott Walker". Es ist der Ballon, der Billy heißt. Und der dem
Jungen auf der Erde, dem der Ballon gehört, Antworten gibt. Der Ballon fliegt
über die nächtlichen Dächer, schließlich umgeben von Sternen. Der Junge will,
daß Billy herunterkommt, weil er nach Hause gehen muß, aber der Ballon kann
nicht herunterkommen und der Junge kann nicht nach Hause gehen, weil sie beide
außerhalb von Zeit und Raum sind und vielleicht ohnehin nur Erinnerung, aus
einer Welt, wo die Plastic Palace People Erwiderungen bellen und blaffen und dir Furcht in den Kopf packen. Dieselbe Furcht, die den Jungen schon
verfolgt, wenn er will, daß der Ballon herunterkommt. Der Ballon kennt den Weg
von realer Welt zu ersehnter Welt. Durch die Furcht des Jungen kommt der
verzerrte Klang von "They're laughing in the halls / They rip your face
with lies" hinein in seine Welt. Aber es ist, als ob, solange der Ballon
schwebt, das Kind nicht aus dieser nächtlichen Realität verschwinden kann. Es
ist der Junge, der Billy heißt. Es ist der Mann, der Billy heißt, hilfesuchend
in den Plastic Palace-Korridoren.
Over the rooftops sails Billy, a string tied to his underwear. Through
cobblestone streets a child races and shouts, "Billy, come down from
there! My mother's calling", his voice whimpers, a string
clutched in his tiny hand. "Not till I've seen the sky's not lit up in tears,
child try and understand, don't pull the string, don't bring me down, don't
make me land."
Plastic palace people sing silent songs, they dream too long, their memories
just stare.
Plastic palace Alice, she steals her cards, tomorrow deals with deafening
despair.
Hurry, you've got to get in line, your nose might start to shine. And sweat it
out and dance about [...?]
A harvest of stars surrounds Billy, the night clings to his happy eyes. A
sleeping town square, beneath the fountain a child murmurs a weary sigh. "My
mother weeps and weaves her hair with worries, please come down from there."
Plastic palace people. Through fields of clay and granite grey they play
without a sound. Plastic palace Alice blows gaping holes to store her fears
inside her lover's head.
Listen, they're laughing in the halls, they rip your face with lies, to buzzing
eyes you cry for help, like dogs they bark replies.
Over the rooftops bursts Billy Balloon, sadly the string descends, searching its way down through blue submarine air, the polka dot underwear, to meet the trees in morning square, just hanging there, just hanging there.
Was ich sagen wollte... haltet den Ballon oben. :)
"Just in his music, there's so much mystery." - JD Beauvallet
II
SIE hatte mir "Boy
Child / The Best of 1967 - 1970" geschenkt, nach kurzer Zeit hatte ich
diese Songs so kristallklar im Kopf, daß es nicht normal war. Ich weiß nicht,
ob es möglich ist, Scott Walker zum ersten Mal zu hören, ohne in Ungläubigkeit innezuhalten; ohne überwältigt zu sein vom nahezu unbegreiflichen Phänomen, daß eine solche Musik
tatsächlich existiert. Die Texte, die Arrangements, die den Songs bei aller Makellosigkeit
inhärente strangeness und diese Stimme, diese zweifelsohne von den
Göttern verliehene Stimme. Orpheus. Damon Albarn: "It was very much a kind
of Year Zero, listening to Scott Walker."
Mitte
der 1990er erwarb ich der Reihe nach "Scott", "Scott 2",
"Scott 3", "Scott 4" - und "Tilt", jenes Album,
mit dem die charismatischste & enigmatischste aller Legenden nach einer
Dekade völligen Verschollenseins 1995 wieder auftauchte. "Tilt" wurde
als erste Platte des 21. Jahrhunderts beschrieben und verursachte Gavin Friday
"nearly a heart attack". Musik, die einen fühlen läßt, wie es ist,
wenn einem langsam die Zähne herausgezogen werden - ohne Betäubung. Mit "Tilt" betrat Scott Walker einen
Raum, den sonst noch niemand betreten hat.
In "30th Century
Man", dem Film über Scott Walker von 2006, erscheint eine erlesene Schar
von Sängern und Musikern, um die Faszination und den Einfluß Scott Walkers auf
ihr Leben und ihr Schaffen zu würdigen, darunter David Bowie, Brian Eno,
Radiohead, Alison Goldfrapp, Marc Almond, Jarvis Cocker (Pulp), Johnny Marr
(The Smiths), Hector Zazou, Simon Raymonde (Cocteau Twins), Gavin Friday
(Virgin Prunes), Damon Albarn (Blur) und Ute Lemper. Julian Cope mochte nicht vor
der Kamera erscheinen, sandte aber einen Brief, in dem er sich über die Kompilation
von Scott Walker-Songs äußert ("Fire Escape In The Sky - The Godlike
Genius of Scott Walker"), die er 1981 zusammenstellte. Jean-Daniel
Beauvallet, Herausgeber des Musikmagazins Les
Inrockuptibles, erwähnt Echo & The Bunnymen, man könnte auch Künstler
aus anderen Bereichen nennen wie Rainer Werner Fassbinder. Beauvallet sagt im
Film: "I somehow envy people who don't know Scott Walker." Lucky bastards, "this huge world
waiting for them." Aber auch: "careful, it's dangerous."
Die Walker Brothers
wußten, warum die Sonne nicht mehr scheinen wird. A deep
shade of blue is always there. Walker führt "das Modell des schönen, zerbrechlichen Existentialisten
in die Popwelt ein" (1); er selbst beschrieb
das Image der Walker Brothers einmal als "neurotic romanticism". Die
Walker Brothers müssen Konzerte zuweilen nach
Minuten abbrechen, weil das Pandämonium des teenage girl riot nicht mehr zu bändigen ist. Jedes gesungene Wort
der Walker Brothers - weder waren sie Brüder, noch hieß einer von ihnen Walker
- macht aus Mädchen Furien, die sich selbst nicht mehr denken hören können: in Dublin
kippen sie das Auto um, in das die drei Walker Brothers nach einem Auftritt
geflüchtet waren, und trommeln stundenlang an die Scheiben, eine Hundertschaft
junger Schönheiten, die in Scott Walkers Erinnerung vor allem eins bedeutet:
Todesangst.
Scott Walker war sehr
dünn und inaugurierte die Sonnenbrille als Ausdruck melancholischer Stimmung.
Und er trug praktisch immer eine
Sonnenbrille. Als Noel Scott Engel am 9. Januar 1943 in Ohio geboren,
Einzelkind, ständige Ortswechsel der Eltern, ein einsames Kind; die Eltern
lassen sich scheiden, als er 6 Jahre alt ist. In den Sixties eines der meistphotographierten Gesichter der Popszene,
ultimatives Sexsymbol, the epitome of cool. Als "Make It Easy
On Yourself" den Rolling Stones-Überhit "Satisfaction" von der
Nummer Eins-Position des Melody Maker
verdrängt, bewerfen ein eifersüchtiger Mick Jagger und seine Entourage im Scotch of St James Club Walker, der mit seiner Freundin in einer Ecke sitzt, mit
brennenden Zigaretten. Auf dem Höhepunkt der Walkermania, zur Zeit von
"The Sun Ain't Gonna Shine Anymore", tragen die Walker Brothers auf
dem Weg zwischen Bühneneingang und getaway
car Sturzhelme. Orpheus, kurz davor, von den Mänaden in Stücke gerissen zu
werden. In Portsmouth wird ein 14jähriges Mädchen im Tumult von einem dieser getaway cars angefahren; als sie wieder
bei Bewußtsein ist, fragt sie die Notärzte ängstlich, ob es Scott gut gehe.
Scott Walker ist der große
unglückliche Romantiker. Seine gedankenschwer wirkende Schönheit und seine Aura
der Verletzlichkeit bilden eine unwiderstehliche Kombination. Legionen von
Mädchen möchten ihn erlösen aus seinem Privatuniversum der Schmerzen. Aber es
ist gerade die Schönheit der
Melancholie, die er verkörpert. Das Dunkle hinter dem Romantischen. Tragisch
gutaussehend und mysteriös, hip und
intellektuell, den goldenen Walker
Baritone über dramatische, epische, mächtige Arrangements von höchster
Finesse legend: big backing für
außergewöhnliche Intensität und Emotion. 25 bis 35 Musiker pro Aufnahmesession,
keine Overdubs. Symphonische Melodramen, ein riesiger, überwältigender, hinwegspülender Sound, aber auch eine
orchestrale Architektur voller Höhlungen und Echos. Johnny Marr beschreibt den Sound der Walker
Brothers als "gothic and beautiful gloom", Paul du Noyer nennt Scott
Walkers Stimme "a marvel of haunted gothic grandeur". Den Song "Mrs. Murphy", den Walker für
eine B-Seite schreibt und der eigentlich ein Film ist, seine Geschichte mit
Blende von Szene zu Szene erzählend, siedelt Marc Almond zwischen kitchen sink drama und Endstation Sehnsucht an: "If it was
American, it would be Tennessee Williams."
Doch die Walker Brothers singen
nicht die Songs, die Scott Walker singen möchte. Er sehnt sich nach Songs mit
mehr Substanz.
Noch in den USA entwickelt Walker eine
Obsession für Bergman-Filme wie "Das siebente Siegel" und "Die
Jungfrauenquelle", er ist fasziniert von europäischer Literatur und Kunst.
In Europa entdeckt er Sartre und Camus, diskutiert Existentialismus. 1995 wird
er erklären, er habe Fassbinder geliebt; in "30th Century Man" erwähnt
Walker neben Bergman auch Carl Theodor Dreyer, den Regisseur von "La
Passion de Jeanne d'Arc" (mit Antonin Artaud als Mönch Massieu) und
"Vampyr". In Europa aber will jeder über amerikanische Filme reden,
über Woody Allen, "so I was the classic bore of the party."
Swinging London
verursacht ihm Unbehagen. Der stage act
der Walker Brothers wird Nacht für Nacht in ein Schlachtfeld verwandelt, die
traumatischen Erfahrungen im Sturm der teen
hysteria setzen einem komplexen Charakter zu, der Notausgänge sucht:
tagelang absent without official leave,
und zuviel Alkohol. Der phänomenale Erfolg der Walker Brothers - fan club membership ist zeitweise höher
als bei den Beatles - trifft auf die Myriaden von Selbstzweifeln eines Mannes,
der das Rampenlicht haßt. Walker hat chronische Bühnenangst, eine Furcht von
nahezu paralysierendem Ausmaß. Wenn die Kameras bei Fernsehauftritten der
Walker Brothers den begnadeten, von allen bewunderten Sänger einfangen, zittert
die Hand, die das Mikrophon hält. "The God-Like Genius of Scott
Walker": eine einzigartige Begabung, die jeder spürt, und nur er selbst
hat kein Vertrauen in sie.
"It's because I'm
frightened." Im August 1966, die Aufnahmen zum zweiten Walker
Brothers-Album "Portrait" sind in der Endphase, unternimmt Walker einen
Suizidversuch. "I'd developed an attitude of almost hate at what was going on
around me," he revealed some years later. "I held it against anyone
who appeared to be denying me my life, my privacy. Not only my fans - but also
my friends. It was a very bad period. I thought everyone was trying to destroy
my life. I had this idea that the press were people who misquoted me; fans were
the ones who wouldn't stop ringing my phone, smashing my door and making me
move flats. Then there was the man who was my manager - making me do it all;
the agent who wanted my money; and the record company was sucking my blood ... It
was very immature of me. But to someone going through a paranoic stage it all
seemed to make sense." (2)
Wenn ein Mensch meint,
daß jeder ihn anstarrt, und dann passiert das tatsächlich, ist das nicht
unbedingt eine paranoische Phase. Eine Walkermaniacs-Horde schaffte es wie
nebenbei, Marlene Dietrich in einem Hotelfoyer in Birmingham über den Haufen zu
rennen. Nicht nur die schwindelerregende Unwirklichkeit all dieser Szenen
bricht Walker buchstäblich fast das Genick: mittlerweile versuchen die Mädchen,
den Walker Brothers die Sturzhelme vom Kopf zu reißen. Spätestens mit
"Portrait" aber werden John und Gary endgültig zu Nebendarstellern,
verblassend vor dem spektakulär geheimnisvollen Nimbus des Leadsängers. Walker
hat eine natürliche Neigung zum Einsiedlertum, 1966 aber spucken ihn sein
eigener Ruhm und der Fanatismus, den er inspiriert, in die Kälte kompletter
Isolation: overwhelmed by loneliness.
"In my room, way at the end of the hall / I sit and stare at the
wall / Thinking how lonesome I've grown, all alone, in my room." - Die
ersten Zeilen auf "Portrait".
Fab 208
fragt die Walker Brothers nach ihren persönlichen Ambitionen. John: "To become
an international entertainer in all fields". Gary: "An international
star". Scott: "To become a human being."
Ein Weg aus schlaflosen
Nächten ist songwriting. Kaum ist
"Portrait" erschienen, erklärt er seine Zukunft: "I'm writing
surrealist songs and using surrealist arrangements." Einer dieser Songs ist "Archangel", für den Scott Walker seine musical directors Johnny Franz und Reg Guest ins Odeon Cinema am
Leicester Square zerrt, um den unirdischen Klang einer enormen Pfeifenorgel
aufzunehmen.
Where's the girl, the canary stopped singing the moment she walked out the door
Where's the girl, the flowers are dying 'cause nobody cares any more
The canary and the poor lonely flowers miss her so very much
You can tell this apartment and I are in need of a woman's touch
On the floor there is one nylon stocking and I'm leaving it there where it lies
Oh who'd have thought that one nylon stocking could ever bring tears to these eyes.
Scott
geht in ein Benediktinerkloster auf der Isle of Wight und studiert
Gregorianischen Gesang. Liebeskranke Mädchen hämmern an die Klostertüren.
Father Dean händigt Walker einen Schlüssel aus und erklärt, er könne ins
Kloster zurückkehren, wann immer er wolle. Walker trägt den Schlüssel jahrelang
bei sich.
Scott
und John entfremden sich, während einer Tourpause erklärt Scott seiner Mutter,
daß die Gruppe praktisch am Ende sei. Jimi Hendrix hat einen Hit mit "Hey
Joe", Walker Brothers-Balladen erscheinen im Handumdrehen als
Anachronismus. Scott irritiert weiter mit Ankündigungen wie: er wolle nach
Moskau gehen, um Schostakowitsch zu studieren. Zur Premiere von John Hustons
"The Bible" erscheint er verspätet, ruft laut vom Wandelgang
"Has God been on yet?" und wird gebeten, das Theater zu verlassen.
Die
Pop-Ära, zu deren Göttern die Walker Brothers gehörten, war passé. Szene
nach dem letzten Konzert der Walker Brothers: "Scott, sitting in the
opposite corner with his back to everyone, scrutinised his reflection in the
mirror and slowly and deliberately clawed his face with his hands. He then
started hugging himself as if he was cold and was distinctly heard to mutter:
'It's over... thank God, it's over'." (3)
"That is very important to me, to establish
myself as myself." - Scott Walker 1967.
Ein Freund erinnert sich, daß Francoise Hardy Scott
Walkers "ideal woman" war: "Like a lovestruck schoolboy, he had
her picture on the wall of his latest flat and one night dragged Martin down to
a club to see her." (4). Walker
schreibt Teile seines ersten Soloalbums in Kopenhagen, in der Wohnung seiner
Freundin Mette Teglbjaerg, die er bald heiraten wird. "It's uncommercial and
difficult to understand", sagt er. "Odd abstract stuff." Walker ist von Genet fasziniert, den
Sartre als existentialistischen Helden feiert. Und die erste Übersetzung der
Texte von Jacques Brel ins Englische durch Mort Shuman, für die er sich die
Rechte sichert, setzt Walker buchstäblich unter Strom: "I took it and
ran." Brel
verändert alles für ihn: "He opened every door for me. Before this, I had
been writing these strange B-sides for the Walker Brothers, but when I heard
Brel, I didn't feel like such an alien. I thought, it can be done, and this is
a guy who's doing it."
Walker schätzt Brel für "rarely offering
solutions yet stating the confusion so beautifully." Gavin Friday erklärt: wenn jemand Brel als
Einfluß nennt, meint er eigentlich Scott Walker. Walker "took his songs
and sang them like a Greek God." Der erste Song auf "Scott" ist
Brels "Mathilde". In seiner BBC-Fernsehshow, die 1969 sechs Wochen lang läuft (die BBC hat
alle Bänder der 6 Shows vernichtet, nur einige Audioaufzeichnungen existieren),
kündigt Walker "Mathilde" als Song über eine "sadomasochistic
love affair" an.
"Phil McNeill, in an NME article of January 1977,
described the devastating effect of Engel's discovery: 'Nobody, not even Bob
Dylan, or Jim Morrison or Lou Reed ... has ever made more nihilistic, grandiose,
debauched, schizophrenic, souls-in-torment, night-riding, heart-rending music
than 'My Death', 'Amsterdam', 'Jacky', 'Next', 'Mathilde' and Scott's own
Brel-influenced tales of paranoia and loneliness.' What Scott did, in effect,
was take Brel's work as a starting point and absorb the Belgian's influence
into his own material which gradually expanded on each of his first four solo
albums." (5)
Von nun an macht Walker die Platten, die er
machen will.
Das Cover des ersten Soloalbums wird zum definitiven Scott Walker-Image: leidgeprüftes Antlitz gesenkt in tiefer Kontemplation, Sonnenbrille, Schal. Sadness, heartbreak, mystery, yearning, alles, was die ungeheure Ernsthaftigkeit von Walkers Stimme transportiert, ist auch in diesem archetypischen Bild eingefangen. Mit "Scott" beginnt Walkers zunehmend unkommerzieller Output, Fans zu irritieren, die sich langsam fragen, warum ein Mann, der alles hat, in solcher Permanenz so gottverdammt trübselig erscheint.
Tatsächlich
beginnt der schwermütige Bastard (Nik
Cohn) jetzt eine Art von Songwriting, die sein raison d'être wird: immer dunkler, immer mysteriöser, immer
gewagter. Als ein anderer Scott die Welt nach San Francisco einlädt, bestimmt
Walker als Richtung seiner Reise: Der
Mensch ist ein Abgrund. Orpheus und die Unterwelt.
Wally Stott, Arrangeur, nach einer Geschlechtsumwandlung Angela Morley, erinnert sich an die erste Begegnung mit Walker: Scott sitzt auf dem Studioboden, Texte über den Teppich verstreut, spielt seine Stücke auf der Gitarre und läßt Sätze verlauten wie: "I really hear Sibelius here." Drei der zwölf Songs auf "Scott" hat er allein geschrieben: "Such A Small Love", "Always Coming Back To You" - und "Montague Terrace (In Blue)". Stott / Morley: "The imagery was so strong and so graphic, now and then I was a little shocked actually, like, you know - uh, is that allowed?"
The little clock's stopped ticking now
We're swallowed in the stomached rue
The only sound to tear the night
Comes from the man upstairs
His bloated belching figure stomps
He may crash through the ceiling soon
The window sees trees cry from cold
And claw the moon
But we know don't we
And we'll dream won't we
Of Montague Terrace in blue
The girl across the hall makes love
Her thoughts lay cold like shattered stone
Her thighs are full of tales to tell
Of all the nights she's known
Your eyes ignite like cold blue fire
The scent of secrets everywhere
A fist filled with illusions
Clutches all our cares
But we know don't we
And we'll dream won't we
Of Montague Terrace in blue
Auffallend an vielen Songs, die Walker singt: er befindet sich in einem Raum, von dem aus er Geschehen in angrenzenden Räumen wahrnimmt, interpretiert und in Phantasien umwandelt, eine nahezu voyeuristische Stimmung, die Nick Cave in seinem Song "From Her To Eternity" zur Obsession treibt:
Ah wanna tell ya 'bout a girl. You know, she lives in
room 29. Well that's the one right up top a mine. Ah start to cry. Ah
start to cry. When I hear her walkin'. Walkin' barefoot cross the floor-boards.
All thru this lonesome night. Ah hear her crying too. Hot tears come splashin down. Leaking thru the cracks. Down upon my face. Ah catch'em in my mouth!
Ah catch'em in my mouth! O walk and cry!
From her to eternity! From her to eternity! From her to eternity! Ah read her
diary on her sheets. Scrutinizin' every lil piece of dirt. Tore out a page'n'stufft
it inside my shirt. Fled outa the window and shinning it down the vine. Outa
her nightmare, and back into mine. Mine! Mine! Mine. From her to eternity! From
her to eternity! From her to eternity! Walk and cry! Walk and cry! Kneel and cry! Kneel and cry!
She's wearing those blue stockings Ah bet! And I know standin'
like this with my ear to the ceiling... Listen, Ah know it must sound absurd but Ah can hear the most melancholy sound Ah ever heard!
This desire to possess her is a wound!
"Montague
Terrace (In Blue)" beschreibt den unzerstörbaren, romantischen Traum
zweier Liebender in einem Hexenkessel von Haus - Scott Walker in a nutshell.
Immer tiefer wird Walker, angeleitet von Brel, hinabsteigen in eine
zwielichtige, dekadente Welt der Huren, Gauner, Gifte, Außenseiter, in
Geschichten von Liebeswahnsinn, Einsamkeit, Sex und Tod; doch immer
wieder ist da, unendlich fragil und subtil, eine unangreifbare Würde und
Schönheit, ein Licht am Ende der dunklen Melancholie. "Montague Terrace
(In Blue) ist auch der Auftakt schier unwirklicher musikalischer
Arrangements, dicht und luxuriös, doch immer mehr durchsetzt von
surrealen drones und Spuren von Dissonanz.
Walkers
unorthodoxe Haltung, sich von nun an als Album-Künstler zu verstehen, an Touren im bislang üblichen Stil nicht einmal zu
denken, bringt ihm erste giftige Kommentare in Musikblättern ein. Eine
Vorabsingle für das zweite Album, zu deren Veröffentlichung er genötigt wird, sorgt
für weiteren Aufruhr, denn sie handelt unter anderem von "opium dens,
authentic queers and phoney virgins": "Jacky", Brels tobende
Hymne auf die Megalomanie. "We haven't banned it", erklärte die BBC,
"we're just not playing it."
Walker
war auf seiner Reise von teenage idol
zu den outer limits, und seine
Überzeugung, daß die menschliche Natur zu komplex sei für Flower Power ("But for talentless people, full of vice, it's
the easy way out"), bestärkt ihn in der Hoffnung, seine Fans
konvertieren zu können zu Aufgeschlossenheit dem nun wesentlich
anspruchsvolleren Material gegenüber. Seine chronische Schlaflosigkeit münzt er
um in fieberhafte Arbeit an neuen Songs, bis 6 oder 7 Uhr morgens.
"Scott
2" enthält mit "Next" einen Brel-Song, der wirklich verstörend
ist, mit "The Girls From The Streets" Walkers eigenen Brel-Song, und
als pièce de résistance "Plastic
Palace People".
"Scott
2" verkauft sich gut. Walker erklärt in vertrauter Manier, er sei nicht
glücklich mit dem Album: "Now the nonsense must stop, and the serious
business must begin."
"Scott
Walker recoiled from stardom like a vampire in the sunlight." (Paul du Noyer). Seine garboeske Neigung zu Abgeschiedenheit wird
weiter durch ausweglosen Ruhm erschüttert. Nach einigen Auftritten, denen er nur dann zustimmt, wenn auch seine frugale
Lebensweise nicht verhindert, daß er wieder einmal pleite ist, verbringt Walker
den Rest des Jahres 1968 im Studio, seinen Abschied vom "pop
rat-race" herbeisehnend: "If you don't put out a single you are under
pressure from the public who pressure my record company who pressure my manager
who pressures me. That is the kind of tension which I can't abide and
eventually it will be the thing that stops me." Trotzdem wird er Anfang 1969 von den Lesern des Disc & Music Echo zum "Top TV
Artist (Male)" und zum "Top Male Singer (World)" gewählt und
liefert eine der seltsamsten acceptance
speeches der Geschichte ab: "You figure you've left it all behind you
and then this happens. It's like a ghost rearin' up after you wherever you
go. I figured about nine months ago some new meteorite would come along and
wipe me from the face of the earth - but it didn't happen."
Als
"Scott 3" schließlich fertig ist, wird offensichtlich, daß Walker
seine Inspiration mittlerweile fast ausschließlich aus klassischer Musik zieht.
Er besitzt 6 verschiedene Versionen jeder Symphonie von Beethoven, der neben
Schostakowitsch und Brahms zu seinen Favoriten zählt.
Auf
"Scott 3" stammen bereits 10 der 13 Songs aus seiner Feder, darunter
"It's Raining Today",
"Copenhagen", "Rosemary", und sein persönlicher Favorit, "Big Louise".
"I tried to get close to Debussy or Delius", sagt Walker. "That fluttering feeling." Über dem
ganzen Album liegt eine kristallklare Anderweltlichkeit, die es später zum
Favoriten vieler Walker-Bewunderer machen wird. Der zunehmend experimentelle
Ansatz sorgt Anfang 1969 jedoch für langsamere Verkäufe, die Walker wiederum
als Scheitern interpretiert: "The melody lines were too long and people
were puzzled and got bored halfway through. So 'Scott 4' is gonna be
much harder and tighter."
In der
Presse gibt es weitere Anzeichen dafür, daß die Liebesaffäre der Medien mit
Scott Walker ihrem Ende entgegengeht. Schlagzeilen wie "Scott Walker hides
away in a gloom-world" sind noch harmlosere Menetekel. Walker trennt sich
von seinem langjährigen Manager Maurice King, erklärt, daß er von nun an unter
seinem tatsächlichen Namen Scott Engel weiterarbeiten wird, und beginnt mit
grimmiger Entschlossenheit die Arbeit an seinem masterpiece.
"'Scott
4' tried to link lyrics by Sartre, Camus and Yevtushenko to Bartok
modal lines, but nobody noticed." - Scott Walker, 1976
"Scott 4" erscheint Ende 1969 und trifft auf komplette Apathie. Es
ist das Album, mit dem Scott Walker schließlich zwischen alle Stühle fällt. Es
enthält nur noch Eigenkompositionen. "Scott 4" findet keinen Platz in
den Charts mehr, wird nach kurzer Zeit von der Plattenfirma aus dem Katalog
genommen und gerät in Vergessenheit. Ende der 80er zahlen Sammler in England
bis zu 40 Pfund für die LP.
Für dogmatische Rockfans war, wie Chris Bohn 1981 schrieb, der Besitz einer
Walker-Platte gleichbedeutend mit Pest. Das "Scott 4"-Trauma wird
Walker ewig verfolgen; noch in "30th Century Man" beschreibt er den dunklen Begleiter all seiner Veröffentlichungen
danach: "That's
always in the back of my head: people are not gonna like it."
Walker gibt keine
Interviews mehr zu "Scott 4", die den kommerziellen Mißerfolg
vielleicht abgewendet hätten, er ist nicht mehr zu den Konzessionen und
Kompromissen bereit, die der celebrity-Status
verlangt.
In "30th Century Man" zu sehen: die lange Tirade von "14 ex-Scott Walker fans", die seinerzeit in Disc abgedruckt wurde.
Could the king have lost his crown?
Has this legend now lain down?
The lonely young long distance Walker
The avid Brel and Sartre talker
Don't underestimate our force
The end is nigh, you're way off course
Your reign is over - goodbye Scott
Face it man, you've had your lot!
Traurig und bestürzt über die Ablehnung, auf die
"Scott 4" stößt, zieht Walker nach Amsterdam, radelt an Kanälen
entlang und lebt seine Liebe zu europäischer Kunst im Rijksmuseum ungestört
aus. In den folgenden Jahren wird er ohne jeglichen Enthusiasmus, going through the motions, doch er hat
Frau und kleine Tochter zu versorgen, einige uninspirierte Platten aufnehmen,
deren Wiederveröffentlichung er bis heute verhindert. 1975 kommen die Walker
Brothers noch einmal zusammen, haben mit "No Regrets" erneut einen
Hit, veröffentlichen zwei minore Alben und machen dann aus ihrer letzten Chance
1978 das Album "Nite Flights", das jedem der drei Musiker Raum für
seine eigenen Songs läßt. Was dieses Album bemerkenswert macht, sind die ersten
vier Songs: die ersten Kompositionen Scott Walkers seit 8 Jahren.
Brian
Eno nimmt diese Stücke mit nach Montreux, wo er mit David Bowie arbeitet:
"Christ, you gotta listen to these. This is really going
somewhere." Eno ist fasziniert von den "sensibilities that came from
quite outside pop music", die Walker in den Pop-Song einbringt, und
erklärt 28 Jahre später: "I have to say it's humiliating to hear this. It
is! You just think, Christ, we haven't got any further."
Mehr als einmal las ich über "The
Electrician": "The most frightening song I've ever heard."
Sirrende
Streicher: das Schöne ist der Beginn des Schrecklichen. "The
Electrician" inszeniert den Dialog zwischen einem Folterer und seinem
Opfer. "Baby
it's slow / When lights go low / There's no help, no / If I jerk the handle,
you'll die in your dreams / If I jerk the handle, you'll thrill me". Niemand hat erwartet, was auf einer Platte der Walker Brothers zum Thema wird: die
US-Regierung unterstützte bis mindestens 1978 den Sicherheitsapparat
oppressiver Regimes in Südamerika (vgl. Operation
Condor) mit "technical support" - was u.a. hieß: Folterspezialisten
("Mechanics").
"... the track abruptly flies off at a tangent with
a bank of strings and Spanish guitar playing the sweetest of melodies,
completely at odds with the concept of violent interrogation. Unless, that is,
Scott meant to portray the sadistic pleasure gleaned by the perpetrator, or
perhaps the merciful release of the victim's death." (6)
Richtungsweisend, aber ohne jeden kommerziellen
Erfolg, versinkt
auch "Nite Flights" in Vergessenheit. Jahre vergehen mit Walkers way of disappearing, bis 1984 das für
lange Zeit letzte Soloalbum erscheint, "Climate of Hunter".
Hochgelobt von Kritikern, während die Legende geht, daß kein Album der
Plattenfirma Virgin sich jemals schlechter verkaufte. In einem Radiointerview mit
Alan Bangs sagt Walker, 6 Jahre seien vergangen "rather working towards
what I call a silence where this could come to me rather than me force it. It
was very important that it flowed to me rather than me trying to push it
on." Und: "I don't like to talk too much about the process 'cause I
don't really understand it."
Während der Aufnahmen zu "Climate of
Hunter", so Walkers Co-Produzent Peter Walsh, "melody was a closely
guarded secret". Keiner der Musiker war über Melodielinien oder Texte
informiert. Zum Saxofonisten Evan Parker sagt Walker: "I'm thinking about clouds of saxophone" und erwähnt
Ligeti.
Nach
"Climate of Hunter" 11 Jahre ominöse Stille. Britische
Sonntagszeitungen fordern ihre Leser von Zeit zu Zeit auf, Scott Walker
ausfindig zu machen. Dann "Tilt". "The first album from
Scott Walker for 11 years", schreibt die Times im Mai 1995, "is a shocker."
Brian Gascoigne, Walkers langjähriger
Mitstreiter: "After three or four hours in the studio he is a basket case 'cause he lives the
thing with such intensity of emotion." Walkers Stimme: haunted, distant, desolate.
Hector Zazou visualisiert Scott Walker allein im
Weltraum: "The picture that I have - he's alone in a big space and he's
singing with all his heart but there is nobody else around."
Alison Goldfrapp empfindet Walkers Stimme auf
"Tilt" als "beautiful and unpleasant at the same time", a voice that makes you feel embarrassed.
Düster,
trostlos, karg und hart, die musikalische Landschaft ist erschreckend.
Schönheit "nur im Widersprüchlichsten gedacht und aufgeführt", und:
"Indem das Unmögliche, fast Unanhörbare gesetzt wird, ist man eingesogen
in dieses zerbrechlich geschichtete Monster von Platte (...) ein nicht
kartographiertes Gebiet aus symphonischen Resten (...) bewegte Fragmentierung,
gleitendes Zerfetztes. Nicht der Körper in gestückelten Teilen, sondern die Stimme,
die Gedanken, die Gefühle in ausgeklügelten Fassungen von
Fassungslosigkeit." (Jutta Koether / 7) Ein Song verwendet Worte aus dem
Eichmann-Prozeß, ein anderer ("Farmer In The City") versetzt sich in
die letzten Minuten des Filmregisseurs Pier Paolo Pasolini. Pasolini wurde
mehrfach von seinem eigenen Wagen überrollt, am Steuer ein Strichjunge.
"Walker's voice takes on a tone of total terror,
and he strings together isolated images to create a bleak collage of sorrow and
memory. By the time 'Farmer In The City' reaches its haunting, inevitable
conclusion, it's clear what Walker has accomplished: The song is the sound of
someone's life passing before his eyes." (magnetmagazine.com, 2006).
Hector
Zazou über die, wenn man so will, "Rhythmusgitarre" im Song
"Tilt": "Listen here the guitar. There is something wrong with the guitar. The chord that
you hear is perturbed by something else. And I was looking for the reason why,
why this guitar sounds at the same time in tune and out of tune. How can it be,
how could it be? I couldn't find it. This is a great idea. It's a detail but it
makes all the piece."
Brian Gascoigne: "What he's after is the boundary
between chords and dischords." Für eine englische Radiosendung sucht Walker Musik aus und spielt eine
Aufnahme des Pianisten Arturo Benedetti Michelangeli direkt nach Nine Inch
Nails.
Ian Penman über "Tilt":
"Walker
schreibt auf ein seltsames, beschädigtes, schimmerndes Palimpsest einer
Privatsprache; als ob Teile (die Teile, welche die Sicherheit enthalten, die
Ausschmückung, Information und Erklärung bieten) von einem plötzlichen Unglück
ausgewaschen oder abgenutzt wurden und Spuren aus merkwürdigen Anspielungen und
wunderbaren Trugschlüssen zurückgelassen hätten. In jedem Song scheinen sich
zwei gegensätzliche Impulse an die Gurgel zu gehen: zum einen die
Notwendigkeit, eine schreckliche Wahrheit zu kommunizieren; zum zweiten die
Notwendigkeit, das Grauen der Wahrheit nicht zu verraten, indem man ihr eine
unwürdige Sprache gibt. (...) Was an 'Tilt' abstoßend sein mag, ist auch seine
höchste Tugend: eine fast unerträgliche (und sicherlich unmodische) moralische
und künstlerische Ernsthaftigkeit zu riskieren." (8)
Walker in einem Interview 1995: "I've become the
Orson Welles of the record industry. People want to take me to lunch, but
nobody wants to finance the picture. I keep hoping that when I make a record,
I'll be asked to make another one."
Another one wird 9 Jahre später das radikale Klanggemälde "The
Drift". Logik
der Traum-Welt. Ein Poet und Komponist des Unbewußten. "I have a very
nightmarish imagination. I've had very bad dreams all my life." Texturen
statt Arrangements. Abstraktion
von Emotion statt Ausdruck und
Emphase, Walker versucht, personality
zu exorzieren. Meta-Orpheus. "Ultimately it's just a man singing
now." Kein goldener Walker-Bariton to
tranquilize, sondern genuine terror.
Fast nicht erträgliche Nähe, aus ungreifbarer Distanz. Raum für Stille,
"and for language to emerge. You have to feel the phenomenon of the words
coming out of silence almost."
Worte über
die an den Füßen aufgehängten, von einer aufgebrachten Menschenmenge
geschändeten Leichen von Benito Mussolini und seiner Geliebten Clara Petacci.
Ein weltbekannter Percussionist schlägt für "The Drift" im Studio auf
eine Schweinehälfte ein: "Scott wanted the sound of punching flesh." (Walsh).
"Jesse": "The song is a structural
marvel. It opens with the same two chords that kick off 'Jailhouse Rock', but
they've been radically detuned to sound sick and sorrowful. In the place where
the song's two drum kicks belong, Walker whispers the word pow - first in the left channel, then in the right, mirroring the
two jetliners striking the buildings in lower Manhattan."
(magnetmagazine.com).
"By pulling it apart, we can understand how
valuable language is, what a gift it is." - Scott Walker.
David Bowie: "I don't know anything. Who knows anything about Scott Walker?"
Im
Dezember 2012 wird ein neues Album von Scott Walker erscheinen, betitelt "Bish
Bosch". Hieronymus Bosch. Walker wird erneut als Scout für uns vorausgehen,
um zu zeigen: This is where you can go.
III
Auf "Scott 4" läßt Walker ein Zitat von
Albert Camus drucken, das aus dem Vorwort zu "Licht und Schatten"
stammt:
"A man's work is nothing but this slow trek to
rediscover, through the detours of art, those two or three great and simple
images in whose presence his heart first opened."
"Scott 4" war 1969 out of time und wird es immer sein.
Balladen, intoxicatingly beautiful, mit immer noch epischen Streicher-Arrangements, aber weniger
überwältigend als früher, von mitfließender Gegenwärtigkeit, und überall lauert
ein neuer Tonfall, ein neuer Klang, Akustik- und Countrygitarren, eine
schabende Basslinie auf "The Old Man's Back Again", eine hingebungsvolle
Truppe weiblicher Backgroundsängerinnen auf "Get Behind Me", alles
wirkt weniger makellos, dafür intimer, und Walkers Charisma schwebt immer noch
unfaßbar souverän über der Musik, aber auch lebhaft wie nie, leibhaftig wie
nie, herzzereißend soulful, dann
wieder Passagen, in denen die spannungsgeladene Beziehung zwischen der Musik,
den Texten und Walkers Gesang eigenartig und verquer zu werden scheint, wenn
sich Walkers Stimme unerwartet vom Geschehen distanziert wie in "Hero Of
The War", als er die kryptische Mischung aus Sympathie und Ironie, mit der
Walker das Heimgekommensein des schwerverwundeten Soldaten schildert, in einen
so bizarren wie virtuosen Scatgesang ausklingen läßt. Message from experience:
irgendwann weiß man, warum dieses scat
outro da ist, aber man kann es nicht erklären.
"Taken as a whole, the album sounds like a
message from another dimension." (magnetmagazine.com)
Wäre diese Platte eine Frau, würde man sie lieben für ihre Verkörperung
von Intelligenz, grace, Schönheit und
Tiefe unter der Schönheit, Unerklärlichkeit, Rätselhaftigkeit, Vieldeutigkeit, Poesie,
für ihre Dramatik, für die Art, wie sie sich exponiert, allein auf weiter Flur,
für das, was sie investiert, für ihren Mut, completely
out of it zu sein - für ihre
Einzigartigkeit. Weil sie heartbreakingly
gorgeous and deliciously subversive
ist. Weil sie manchmal zu intensiv
ist. Weil sie dich aufnimmt wie einen Geliebten. Weil sie dich zum Weinen
bringt und weil sie dich rettet. Wenn ich ankomme bei der Pforte des Turms am Ende der Welt und ein Heiligtum vorzeigen muß, habe ich "Scott 4" in der Hand.
"The Seventh Seal". Der Bergman-Film "Das siebente
Siegel" umkodiert zum Songlyric, Walker als Beobachter dem Ritter
auf den Fersen, der alles auf das Schachspiel mit dem Tod setzt.
Existentialistisches Mittelalter, apokalyptische Stimmung, ein Chor wie aus der
Unterwelt, der immer lauter wird, die Pest wütet, Gott schweigt. Ein Davonstürmen im Sound, wie um dem Tod zu entkommen, treibendes Arrangement mit
Morricone-Anklängen, der Unausweichlichkeit entgegen, unheimliche Bildersprache
von dramatischer Eindringlichkeit, Walker singt Avantgarde-Anti-Pop mit
bitterernster Anmut.
"On
Your Own Again". Der Moment, in dem Walker sich fallenläßt
bei "far behind like our love", das ganze Arrangement dann ansteigt. Die
Streicher nach jeder Zeile von "You're on your own again / And
you're your best again / That's what you tell yourself":
berührt vom Zauber des Unwiederbringlichen. Die letzte herzzerreißende Zeile erinnert an den
Anfang der verlorenen Liebe: "Except when it began I was so happy, I
didn't feel like me." Ally Davids auf amazon.co.uk 2002: "On Your Own
Again, the second track, doesn't even last two minutes, yet manages to convey
more emotion than Coldplay will probably manage in their whole career."
"The World's
Strongest Man". Ein Song durchdrungen von Licht, Wärme und Sanftheit, ein Bekenntnis
zu Liebe und Verletzlichkeit in einer Art straightem
Impressionismus. Walker steht vor den Wellen (aus Streichern und Hammondorgel) zwischen
Verlust und glücklichen Erinnerungen, mit Bedauern und doch Hoffnung.
"Angels Of Ashes". The Angels of Ashes will give back your passions again and again.
Their light shafts will reach through the darkness and touch you, my friend.
They'll fly in a mind dance and blind you with wings wrapped in flame. If
you're down to an echo they just might remember your name. In the unbroken
darkness where emptiness empties alone. There's no starting or stopping where
there is no right or no wrong. Well that's all right for some who can hang the
absurd on their wall. If your blind hands can't grope through these measureless
waters, you'll fall. You've been following patterns and fleeting sensations too
long. And the fullness that fills up the pulse of durations is gone. Let the
great constellation of flickering ashes be heard. Let them burn with a fire,
all it takes to confess is a word, just a word. I can recommend angels, I've
watched as they've made a man strong, oh so strong. If your humbleness shows then
I'm sure that they'll take you along. You can tell them who sent you, it might
help to get you above. You can say that he laughed, and he walked like Saint
Francis with love.
Orphisches Wissen. Für die innersten und ureigensten Regionen des Selbst. Begegnung mit dem Vergessenen. Traumgleiches Leuchten.
"Boy
Child". Alison Goldfrapp erzählt in "30th Century Man", wie sie den
Song zum ersten Male hörte: "I was completely like: --- "
Beyond any rational explanation, was Walker in diesem Song macht, wie er in ihm das Mondlicht einfängt.
Ally Davids: "Boy Child is, in my opinion, the peak of music itself,
the best song ever written, across any musical medium in any time,
period. Beautiful lyrics, and a tune that I would be quite happy to
listen to for the rest of my life."
Oft genug aus diesem Song erwacht, um in die Welt eines Romans zurückzukehren. Wenn du in den Nachtwinden hinter mirrors dark and blessed with cracks gestanden hast, fügen sich alle Fragmente zusammen. Für immer.
"Hero Of The War". Vietnam
und die Kriegsfolgen, Musterbeispiel für die Schonungslosigkeit im Wohlklang,
rasiermesserscharfe Schilderung der Heimat, die keine mehr ist, lange vor
"The Deer Hunter" oder Springsteens "Born In The USA". Der
junge Mann im Rollstuhl, nur noch mißverstandenes Symbol, aber kein Mensch
mehr, zu dem seine Umgebung eine echte, helfende Beziehung aufbaut, auch
"the girl next door" kommt nicht mehr: "Once you couldn't keep
that whore from hanging round". Easy
Listening ist nur eine List des Uneasy
Listening: Zeilen, die einen Zug in den Schienen aufhalten.
"The Old Man's Back Again". Die zerstörten Träume des Prager Frühlings 1968,
bittere Abrechnung mit dem todbringenden "Old Man" - dem Geist
Stalins. "I've
seen a hand, I've seen a vision / It was reaching through the clouds to risk a
dream / A shadow crossed the sky / And it crushed it to the ground just like a
beast." Dann
beantwortet Walker, eigentlich left-wing,
gewissermaßen die Frage "Ist der Existentialismus ein Humanismus?",
indem er Schlaglichter wirft auf die Schicksale Einzelner, auf entsetzte
Gesichter junger Frauen, alter Frauen, zuletzt aber auch auf einen Soldaten,
der im Regen steht, "Devoured by his pain / Bewildered by the faces who
pass him by / He'd like another name, the one he's got's a curse, these people
cry / Why can't they understand / His mother called him Ivan, then she
died".
Grollender,
rumorender Bass, die Streicher wehmütig, dann wieder, als wollten sie
Stichwunden hinterlassen, quasi-russischer, aber geisterhafter Chor im
Hintergrund. Bowie: "That bass is extraordinary."
"Duchess". Nachdem
Walker unendlich feinfühlig gerade eines der traumhaft schönsten Liebeslieder ever gesungen hat, diese Mikrosekunde
Zögern vor: "I'm lying... she's crying."
It's your bicycle bells and your Rembrandt swells
Your children alive and still breathing
And your look of lost when you're coming across
Makes me feel like a thief when you're bleeding
Duchess Duchess
Light up your candles for me
Duchess Duchess
Put all your love back in me
I come listening, I touch, touching
With the Persian sea running through your veins
You shed your names with the seasons
Still they all return with their last remains
And they lay them before you like reasons
With your shimmering dress, it says no, it says yes
It says I've nothing left for concealing
It's your shiftless flesh and your old girl's grace
It's your young girl's face that I'm breathing
Duchess Duchess
Light up your candles for me
Duchess Duchess Duchess
Put all the love back in me
I'm lying... she's crying
"Get Behind Me". Für die Sehnsucht, "to
rediscover ... those two or three great and simple images in whose presence his
heart first opened", gibt es no
thresholds at all in Raum und Zeit: "There's no noise high above us /
As the moon turns in space / Just the face of a lady / Who we loved for her
grace." Und: "Set us free of this being / So we'll be once again / So
we won't feel the gravity of time / And the face in the faces / Of the loves we move through /
Reappears in original design". Atemberaubend, mit welch erhabener Ernsthaftigkeit die Streicher nach
dem Refrain Walker zu jeder Strophe zurückholen.
"Rhymes Of Goodbye". Musikalisch zunächst von Dylanesker Simplizität,
bis Streicher und Bläser im Hintergrund das Universum öffnen. Diesen Song sehr
laut durch die Lautsprecher donnern lassen, erleben, wie Walkers Stimme diese
Musik dominiert, wie sie das
Universum ausfüllt. "The rhymes of a woman's / A river that never
ends."
1 Christian Storms: Endspiel, Interview mit Scott Walker, SPEX 1995
2 Mike Watkinson & Pete Anderson: Scott Walker, A Deep Shade Of Blue, London 1994, 81
3 A Deep Shade Of Blue, 105
4 A Deep Shade Of Blue, 109
5 A Deep Shade Of Blue, 112
6 A Deep Shade Of Blue, 197
7 Jutta Koether über "Tilt", SPEX, 1995
9 zitiert in: Storms, Endspiel
There is only one Scott Walker, the rest of us can just watch from the sidelines. - Marc Almond
P.S. Dieser Artikel erschien zuerst im Oktober 2012 auf Antirat. Scott Walker verstarb im März 2019 - an meinem Geburtstag.