Donnerstag, 10. Februar 2022

Zeit macht nur vor dem Teufel halt

 

 

 



 
 
 

SPIEGEL ONLINE Forum 

"Schlager vor dem Comeback?"

 

19.07.2007

 

Parzival v. d. Dräuen: 

Ich halte Schlager für einen gewinnorientierten Ausdruck der Musikindustrie, um an die niedersten Instinkte des Menschen zu appellieren. Das kann ich als Verfechter der Aufklärung und als übergeordnet legitimierter Erzieher des Menschen so nicht hinnehmen.
So werde ich weder Schlager noch seichte Kinderlieder in meinem Haushalt absegnen können, da ich mich in der Pflicht sehe, die abendländischen Kulturwerte zu verteidigen.
Es sind auditive Reize, die den Menschen zur asozialen Vereinzelung zwingen. Der Schlager, als Gattungsbegriff der hörbaren Vereinsamung, lebt der Welt eine Vereinfachung und emotionsüberhöhende simplizistische Seinsentfremdung vor; das autistische Glücksbeharren hedonistisch agierender Selbstverfremdung entgrenzt den Menschen seiner musikalischen Möglichkeiten. Bildungspolitisch sehen wir also eine Verantwortung, die sich nicht nur dem bloßen Wünschen ergeben sollte.

 

 

 


 

ET MOI ET MOI ET MOI:

Die Zeit. Die trennt nicht nur für immer Tanz und Tänzer. Die Zeit. Die trennt auch jeden Sänger und sein Lied. Denn die Zeit ist das, was bald geschieht. Die Zeit. Die trennt nicht nur für immer Traum und Träumer. Die Zeit. Die trennt auch jeden Dichter und sein Wort. Denn die Zeit läuft vor sich selber fort. Zeit macht nur vor dem Teufel halt. Denn er wird niemals alt. Die Hölle wird nicht kalt. Zeit macht nur vor dem Teufel halt. Heute ist schon beinah' morgen. Die Zeit. Die trennt nicht nur für immer Sohn und Vater. Die Zeit. Die trennt auch eines Tages Dich und mich. Denn die Zeit, die zieht den längsten Strich. Zeit macht nur vor dem Teufel halt. Denn er wird niemals alt. Die Hölle wird nicht kalt. Zeit macht nur vor dem Teufel halt. Heute ist schon beinah' morgen. Die Zeit alle Zeit Ewigkeit. Zeit macht nur vor dem Teufel halt.

Die hörbare Vereinsamung, die Zeit im Zeitalter ihrer BarryRyanisierung, da geht ein Mann die Gleise entlang -> in Baden-Oos und im autistischen Glücksbeharren, durch den kalten Nebel der Selbstverfremdung, und der Supptext stellt bohrende, entgretzte Fragen. Wenn heute schon beinahe morgen ist, weil durch die vor sich selbst fortlaufende Zeit ein Loch entsteht, kann Henri Bergson durch das Loch kommen? Was macht den Teufel alterslos? Die Zeit, die zieht den längsten Strich, oder wie Ryan auch formuliert: "Schtrick". Wo ist dieser Strcikc, auf dem wir alle gehen, auf den wir zugehen, auf dem Strich dem Strich entgegen, dem längst gezogenen? "Ich habe verstanden, daß man contemporary sein muß, das future-Denken haben muß." (Jil Sander). Oder, um Jil Sander zu zitieren: Der problembewußte Mensch von heute kann diese Sachen, diese refined Qualitäten mit spirit eben auch appreciaten. Aber ist der problembewußte Mensch von heute der problembewußte Mensch von heute oder von beinahe morgen? Das eben fragt uns Barry Ryan, dieser Eulenspiegel der Selbstentfremdung, dieser Selbstbespiegler der entfremdeten Eulen, diese, um mit Heidegger zu raunen, Butter in einem Idiotensandwich.

 


 

 

21.07.2007

 

Wenn schon deutscher Schlager, entdecke ich halt lieber die 60er. Ricky Shaynes "Ich sprenge alle Ketten" ist so viel unterhaltender als jedes Stück von, ich weiß nicht, werden Juli und Silbermond auch unter deutscher Schlager verbucht? Marion Maerz hat damals mit "Er ist wieder da" ein Stück abgeliefert, bei dem auch Phil Spector die Pistole in der Tasche gelassen hätte und an dem es nichts zu mäkeln gibt, selbst wenn man das verobjektivierte Trauma, daß da gerade keiner bei Marion anruft, mittlerweile durch den Shakespeare'schen Lyrics-Kosmos eines Peter Hammill ersetzt haben mag.

 

 

 

 

 

25.07.2007

 

Die "CDs der Woche" feiern gerade gebührend die Wiederaufstehung des Marc Almond, nach einem Motorradunfall dem Tod von der Schippe gesprungener Gänsehautverursacher seit 25 Jahren, und bei der Gelegenheit fällt einem auf, daß es diese Tradition in Deutschland, im deutschen Schlager eben einfach nicht gibt, mit extremer äußerer Künstlichkeit extreme Authentizität zu produzieren, den torch song a la Marc Almond, in dem sich die Seele bloßlegt. "Seele" wird im deutschen Schlager nur gespielt, und das neuerdings sehr gruselig.

 

 

 

 

 

 

 

29.07.2007

 

Francoise Hardy. Von mir aus könnte sie auch das Telefonbuch singen.
Francoise Hardy war als BRAVO-Girl und mit diversen Songs in Deutsch Teil der hiesigen Schlagerszene, die damals wiederum, wenn auch mit teilweise sehr kruden Resultaten, Teil der internationalen Schlagerszene war. Marion Maerz aber hat einen Song von Ray Davies (The Kinks) singen können, und das ganz wunderbar.

 

 


 

Ich habe vor einer Weile eine Udo Jürgens-Platte aus den 60ern in die Hände bekommen, und es ist sehr vergnüglich, mitanzuhören, wie er die steifen und praktisch in jeder Zeile zu langen Texte immer noch so gerade um die Ecke kriegt.

 

 


 

 

Jedenfalls, irgendwann fing der deutsche Schlager an, nurmehr in der eigenen Suppe herumzudrögeln. Der "internationale" Touch mutierte für eine Weile noch zur Mischung aus deutscher Tümeligkeit und deutschem Fernweh, dann war der Ofen aus. Währenddessen hat Francoise Hardy, beispielsweise, Mitte der 90er mit einer Rockband ein erstklassiges Album aufgenommen ("Le Danger"), singt so en passant mal ein Duett mit Iggy Pop (das sehr zauberhafte "I'll Be Seeing You" auf dem Sampler "Jazz at Saint Germain") und macht kontinuierlich weiter gute Platten.

Insgesamt sind Schlager hierzulande, statt etwas über das wirkliche Leben zu erzählen, einfach zu sehr Kompensationsangebote für sehr bestimmte Zielgruppen. Es fehlt nach wie vor völlig die Komponente Charisma, Authentizität, was auch immer, die über den Song hinausgeht, die auch das Genre transzendiert. Wenn Johnny Cash den Mund aufmachte, war die Kategorie "Country" weggewischt.

 

 

 

Muffin Man:

... das hat in der Tat noch eine gewisse Ähnlichkeit mit dem frz. Chanson, dessen Liedgut gewissermaßen das Schattendasein der Gosse auf der Bühne thematisiert - ähnlich dem Brecht'schen Theater. Es würde einen langen Dialog über das Showbiz im allgemeinen und Unterhaltung der frühen Nachkriegszeit im besonderen erfordern, hier alle nennenswerten Aspekte zu ergründen...

Das hierbei vermittelte Frauenbild ist jedoch, daß die Frau ob ihrer Rolle als Opfer der Verhältnisse sich betrübt und wehmütig Ausdruck verschaffen darf (...)

 

 


Francoise Hardy ist nun sicher ein Spezialfall französischer weiblicher Melancholie, aber warum zum Beispiel war Emma Peel in den 60ern so populär? Ich vertrete ja die These, daß es im popkulturellen Diskurs eine Kombination von betont femininer Weiblichkeit und Stärke gab, die sich zu behaupten wußte. Sicher reden wir da nicht vornehmlich von Deutschland, in Frankreich kann man eine Reihe von Frauen entdecken, die sehr eigene bis eigenwillige Vorstellungen künstlerisch umgesetzt haben, die hatten einfach ihren eigenen Plan; sie haben mindestens genau das Bild vermittelt, das sie selbst vermitteln wollten.

Das Seltsame ist, daß die Proklamierer selbst das Proklamierte, das zuvor durchaus existent war, abschaffen. Die "Girl Power" proklamierenden Spice Girls haben genau das getan: als bloßes Marketingtool sozusagen die Girl Power der Sixties abgeschafft. Auch diese immer weitere Verschiebung zur Pose spricht eigentlich dafür, daß in den Erscheinungsformen, die Sie wahrscheinlich mit dem "vermittelten Frauenbild" meinen, vielfach sehr viel mehr Subjekthaftigkeit als Objekthaftigkeit lag.

Sich in den Songs zum Subjekt über die eigene Geschichte machen
– das ist, was man im deutschen Schlager halt vergeblich sucht.

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

Samstag, 15. Januar 2022

Rykarda Parasol [IV]

 

 



 
 

 

Von Außenseiterin zu bad girl, vom Schätzenlernen der Ungebundenheit zum Aufgehen im Anderen: der Weg der Erzählerin führt schließlich in das vielleicht größte Abenteuer - Liebende zu sein. In einem Interview erklärt die Sängerin zu THE COLOR OF DESTRUCTION: "It's about courage … about having the courage to be a loving person." Das Wagnis, sich auszuliefern, der Mut zur Hingabe, der auch eine neue Art von Verletzlichkeit und Verwundbarkeit bedeutet.

THE COLOR OF DESTRUCTION erscheint 2015 bei Warner Music Poland, 2016 im Rest Europas und der Welt. Die Arrangements von AGAINST THE SUN waren vergleichsweise minimalistisch, was zum Thema von Introversion, Autonomie und Sichselbstgenügen paßte, das musikalische Spektrum auf THE COLOR OF DESTRUCTION ist vielgestaltig, es gibt Streicher, Trompeten, Flöten, guest vocalists, der Sound expandiert in alle möglichen Richtungen.

Passages, 83: "The myth tells us that after Perseus decapitated Medusa, he placed her head upon the riverbank and her blood flowed into the water, mixed with the seaweed, which then turned it into coral. Though she'd had the power in life to turn men into stone, in the end man destroyed her – albeit, she had just enough lifeblood left to firmly return her to the natural world. A dramatic 'last word' in a sense. 

When one knows their fate is doomed, shall they simply accept the enveloping waves – or shall they set their sinking ship ablaze?" 

84: "The figure hangs between floating up and sinking down in between the whirling blue and red. Fire, water, ruins, wrecks, spring and winter, are the running themes. Our narrator, whether loved or not, has finally opened herself up to the world. Songs intended for a lover or music itself? You decide. We only know it takes courage to be vulnerable no matter where we land." 

Das Aktmodell, das auf allen vier Albencovern erscheint, ist, wie sie in "Passages" bestätigt, Rykarda Parasol herself. "I was the model simply because I was affordable and available." (15) Die Körpersprache der Figur und der im Artwork entfaltete Symbolismus geben Hinweise auf die Atmosphäre des jeweiligen Albums. Der weibliche Akt auf dem Cover von THE COLOR OF DESTRUCTION, von blutroter Koralle umfangen, ist der dynamischste der vier. Dynamis ist das Vermögen, etwas zu bewirken, oder die bewegende Kraft. Ovid beschreibt in den "Metamorphosen" die Szene, in der Perseus das Haupt der Medusa ablegt: die Seepflanzen "rissen die Kraft des Wunderwesens an sich" (Ov.Met.4,745) und wurden zu roten Korallen. Our narrator wird hin- und hergerissen, von innerer Bewegung, aber auch, weil etwas die Kraft des Wunderwesens an sich reißt. 

To burn or to drown ist die existenzielle Frage: Hin- und Hergerissensein zwischen Feuer und Wasser, Brennen oder Untergehen. "To burn or to drown, what shall we do now?" heißt es in "The Loneliest Girl In The World", ein Song heißt "An Invitation To Drown", ein anderer "Ready To Burn". Aber auch die Alternativen sind mehrdeutig – to burn schillert zwischen Entflammtsein und Verglühen, to drown zwischen Untergang (allen Strebens, aller Hoffnung) und Goethe (in "Eins und Alles"): sich aufzugeben ist Genuß. Für etwas brennen kann dich auch zu Asche brennen. 
 
Das Prélude "Opening Scene: Ignition On Oberkampf" ist eine Collage aus Pariser Glocken und strings, die in Trance versetzen. Ein paar Noten nur, die ein Universum öffnen.

"At long last the sorrow fades" heißt die erste Zeile in "The Ruin And The Change"; irgendein entschlossener Schritt oder one magical movement bewirkt irgendeine Wandlung, auch wenn dies nicht verblaßt: "My beautiful friend has a name / And sleeps underneath a stone engraved / I don't know why he gone away / I don't know". Tod und Loslassen: der Himmel offenbart immer aufs neue im Handstreich, wie Emily Dickinson schreibt, daß uns Einer fehlt, dem Auge geraubt für immer. Die Mitglieder des Unsichtbaren, nicht einholbar, wir hielten sie nicht auf, warum? Aber wie bedeutsam, zu verstehen, daß es auch nie ihr Wunsch war, uns aufzuhalten. "My beautiful friend, I know / Love's life's sickness / I won't let go". Nochmals aus "Aljoscha der Idiot": "Die Lust an der perfekten Krankheit, Liebeskrankheit, schweigt vor dem Rettenden mit schauriger Verstocktheit und bedeutet der Erlösung verheißenden Arznei: du wirst zugrunde gehen an mir." Liebe ist wie das Dämonische, nur in reverse. "I've seen the ruin and the change", und doch kleidet sich der Song wie französischer Sixties-Pop, "On Tuesday morning where will I be? / On Tuesday morning what shall I see?", das wissen nur die Götter, aber so, wie Rykarda Tuesday morning singt, wird Dienstag dein Lieblingstag.





 

"An Invitation To Drown". Sternstunde der Poesie. "Red was the color of her coat / A long time ago during a storm / Red is the color of new lover's kiss / Red be the color ravaged and worn". 2010, während eines Interviews im Green Apple Books, begab sich Rykarda auf die Suche nach einem Band von Paul Verlaine, und wie ein französischer Symbolist erkundet sie die Wechselwirkung zwischen der Farbe Rot und schicksalhaften Stürmen. Die intensivste Farbe, die intensivsten Gefühle, Farbe des Blutes, Farbe des Lebens und Farbe der Vernichtung. Feuer, Energie, Wärme, und die erotische Wirkung von Rot. Farbe der Hingabe: "Red colors stoke our devotion". Farbe des Blutopfers. Brennendes Korallenrot. "Some of us glide unsteady oceans". Rote Glut, saphirblaue Tiefen.

"Fate is not our control": für "The Loneliest Girl In The World", Song und Video, trete ich ein Loch in Gottes Tür. Natürlich denkt man daran, wie Nico "All Tomorrow's Parties" singt, natürlich denkt man auch an Rykardas Vorliebe für mittelalterliche Musik, aber all dies ist von einzigartiger Schönheit. Bis auf die E-Gitarre spielt Rykarda hier alles selbst. Die zwei Orgeltöne nach "To burn or to drown / What shall you do now?", wieder so ein Bowie-Trick. Wie die drei Minimoog-Töne auf Bowies "Breaking Glass". Die erscheinen 3x bei einer Song-Länge von 1:52. Die beiden Orgeltöne auf "The Loneliest Girl In The World" erscheinen nur einmal, man wartet darauf, daß sie wiederkommen, aber sie kommen nicht wieder. Die einsamsten Orgeltöne der Welt. Hypnotisches Zeugs.  

Rykardas Gesang und ihre Backing Vocals auf diesem Song – an diesem Punkt bin ich verloren. Das von Krystal Kenney vermutlich mit dem Smartphone in Paris aufgenommene Video trägt nicht im geringsten zu meiner Rettung bei. Natürlich ist Rykarda in diesem Video auch das schönste Mädchen der Welt, aber das will niemand hören, nichtmal sie selbst.






Kleiner Rösselsprung hier. In einem Blog-Beitrag von 2018 schreibt jemand: "In the accompanying video Parasol wanders the streets of Paris with a handful of red balloons and an unreadable expression like the Mona Lisa come to life." Über Leonardos Mona Lisa wiederum schreibt Camille Paglia: "Sie ist enervierend gelassen. Die schönste Frau wird, wenn sie sich als die Ruhe selbst stilisiert, unfehlbar zur Gorgo." (Paglia 1995, 195) "Though she'd had the power in life to turn men into stone…" – siehe oben.

Und überhaupt, von wegen die Ruhe selbst. Auf "It's Only Trouble Now" streiten eine weibliche Stimme und eine männliche Stimme (Dante White Aliano) angemessen heftig um die Wahrheit hinter allen Anschuldigungen und Zuschreibungen. Der aggressivste Rocksong in Rykardas Oeuvre.

"Valborg's Eve" ist Rykardas Le Sacre du Printemps, sozusagen. Valborg (Walpurgis) ist ein Frühlingsfest in Schweden. "New love hail new way for us all / Make way for strange times / Advance to the sky". Der Blick in die Ferne an der Wende zwischen Frost und Glut. Das Herz schmilzt und versprüht liquides Funkeln. Das Morgen ist zurückgewonnen, die lange kalte Winternacht vorüber, das Freudenfeuer angezündet. Der Song ist von mystischer Schönheit, epische Reise in heidnisches Land, das Streicher-Intro/Outro so geheimnisvoll und magisch, Landschaften beschwörend wie aus Bildern von Nicholas Roerich. Und oh die Stimme. Die Stimme einer Hohepriesterin, die ihr Gefolge beschwört, und das Gefolge antwortet mit einem chant. Wenn man es schafft, sich aus ihrem Bann zu lösen: einfach nur mal darauf achten, was Danny Luehring so nach dreieinhalb Minuten am Schlagzeug zu veranstalten beginnt.





 

"Intermission: To Burn Or To Drown?" – Gewitter, Regen. Dann verschwand sie im Nebel ihrer Gedanken.

Um wieder aufzutauchen mit selbstsicherem Schritt und "Schicksalsüberlegenheit" (Emily Dickinson): "Your Safety Is My Concern" bekennt sich furchtlos zu Bedingungslosigkeit. Vergiß den ironischen Gestus, der einen Slogan aus der Businesswelt ("Your safety is our concern") aufnimmt: wenn eine Frau solche Dinge zu dir sagt, fall einfach auf die Knie. You're the luckiest guy.





 

"Sha La Took My Spark" ist ein Duett mit Bart Davenport, Chaosbewältigung als Pas de deux. Einen Shala la la la-Chor gibt es auch in "Le temps des souvenirs" von Francoise Hardy, dessen Shala la la la bekanntlich von Barry Adamson in einen sehr düsteren Zusammenhang überführt wurde, als Sample in "Something Wicked This Way Comes" für den Soundtrack für "Lost Highway" von David Lynch. Auch hier ist das Shala la la la leicht trügerisch: das Flair eines Popsongs der Wahlheimat muß eine dunkle Nacht illuminieren ("All things crooked and cold"). Zwischen Wunsch nach Betäubung und Vertrauen in die Stimme, die sagt: It's gonna be alright. Jemand ist da. "Get me through the night / Hold me tight".
 
Why would anyone make a suicide? 
When they could revel in the swell of slow demise
Undress me, Love, lay me at your side
And I'll demonstrate my destruction
 
Dies ist nichts für Pseudoromantiker. Liebe und Leidenschaft sind von mythologischer Gewalt. "A Lover's Death Wish" ist vielleicht das Zentrum dieses Albums. Die Lyrics lassen sich auf einer zutiefst existentiellen Ebene verstehen, wie auch auf einer rein erotischen, nimmt man den Orgasmus als "kleinen Tod" zum Ausgangspunkt. Beiden Ebenen gemein: der Mut zum Kontrollverlust, endlich sich auflösen und versinken in einem Anderen. Hingabe, Geben, Lieben ohne Erwartungen, Geschehenlassen sogar unerwiderter Liebe: "Oh, Love, I don't care if you love me in turn". In der Liebe untergehen oder an der Liebe untergehen, I don't care. "I'll give my very last until I'm bled out". Rykardas Stimme so zart und verträumt, full of love and full of wonder, unendlich bewegend, wie sie am Ende "Oh Love, I'm in love, I'm in love..." wiederholt und wiederholt, als würde sie langsam in die Ewigkeit verweht.





 

Danach das Cover von "La fille du Pere Noël" folgen zu lassen, der Song, mit dem Jacques Dutronc 1966 eine Frühfrom von Glam in Szene setzte, die David Bowie mit "The Jean Genie" weiterführte, ist ein dramaturgischer Genie-Streich, auch wenn Rykarda den Text abwandelt zu "Le Fils du Père Noël", und sich bei dem Text ohnehin das Gehirn im Schädel dreht. 
 
"Finale: Extinguished By The Red Reef":
 
Strange voice
Quietly the song ends,
Nobody sing it again.
And the happiness gone.
It never come back.
It never come back.
 
Doch das echte Finale heißt "Ready To Burn". Schon das Klavier-Intro läßt fühlen, wir betreten hier heiligen Boden. Die ernste, eindringliche Stimme, die sich mit dem Schicksal versöhnt, mit dem fremden, unbekannten Land: "I've never known what you have known / You've known love before". Die Seele, die nun die Kraft hat, sich von der Last zerschlagener Hoffnungen zu befreien, vom Dämon, der Mißtrauen einflößt. 
 
The demons hear the exterior
They'll try and hold her down
They've never meant much to me
The way you do now
 
Noch ist da die zweifelnde Frage "Am I the one you want?", aber all dies läuft fast im gleichen Tempo wie "All You Need Is Love", nur etwas langsamer, damit Zeit genug ist, auch dem Teufel noch ein Loch in die Tür zu treten. "I'm ready now to burn / Dust and ash on the floor." Das ganze Album nähert sich dieser Macht an, die siebzehn Ruinen im Sand zerbrechen läßt. Die Macht, die dich ins Mehr-als-ich geleitet. Die Macht, die gerade darin liegt, sich auszuliefern: Transformation, Zerbrechen der Abgrenzungen, Verschmelzen ohne Rücksicht auf die Folgen, Liebe als Außer-sich-sein, Liebe als die dynamis, die bewegende Kraft, die in einen neuen Zustand eintreten läßt. Als Schönheit und Zerstörung. Wie der Song nach drei Minuten zu
 
No heart is safe
That's the risk you take
Be courageous and crazed
You played it safe, I was not afraid to lose
 
hymnisch wird, mit Streichern und einer Mariachi-artigen Trompete, die Tiefe der Traurigkeit und dann die Höhe der Euphorie, himmelwärts, alle emotionalen Schutzwälle durchbrochen, und am Ende dann doch noch ein Break zum letzten "Dust and ash on the floor" - danach muß man erstmal raus und einmal um den Block gehen.





 

Die polnische Publikation Onet.muzyka schrieb über Rykarda Parasol: "This woman can change your life."

Sie hat es wieder getan.

"From operas to the Pre-Raphaelite Brotherhood to film costume dramas, I still delight in revisiting history from an allegorical perspective." (Passages, 12) My own little Q & A mit ihr: "Colin Firth as Mr. Darcy or Colin Firth as Vermeer?" - "LOL. The Colin Firth thing is an inside joke that is now out of hand. Mr. Darcy for sure." Sie brachte Colin Firth in fast jedem Interview unter, das ich hörte, und natürlich gehört sie auch selbst in ein historisches Kostümdrama. Weil es sie möglicherweise ohnehin aus einer anderen Zeit hierher verschlagen hat, zu unserem großen Glück, einem Bild von Joshua Reynolds entstiegen, oder, bedenkt man ihre tiefe Zuneigung zur französischen Kultur, jener Epoche am Vorabend der Revolution, in der "libertine" Frauen in Paris sich die Mittel ihrer Unabhängigkeit in eigener Regie beschafften, selbständig, in zuweilen teuer erworbener Freiheit für die eigenen Entscheidungen selbst verantwortlich. (Blau und Rot sind auch die Farben von Paris. -> Stadtwappen)

Auch für Rykarda Parasol hat die Unabhängigkeit ihren Preis. Die künstlerische Integrität ist ein Segen, die Notwendigkeit, die Musik auf eigene Faust zu promoten, eine Last, die Energie raubt. "Lastly, like many of you, - I have unwillingly ended up doing things DIY", schreibt sie auf ihrer Website. Ein renommierter Verleger, jener, der meinen zunächst auf eigene Faust herausgebrachten Roman in seine Edition aufnahm, sagte: das wirklich Aufregende passiert an den Rändern. So sehr ihre dramatischen Geschichten die Condition humaine illuminieren, ist Rykarda Parasol mit ihrer oft leicht unheimlichen Poesie zu eigenwillig für den Mainstream.

"A mesmerizing storyteller" (Big Takeover, 2021), eine mysteriöse Chanteuse, die scharfsinnig, gefühlvoll und elegant von Elend, Sehnsucht und Besessenheit singt, von Verlust und Tod, Täuschung und Enttäuschung, von bösen Erfahrungen und teuflischen Abenteuern, von der Suche nach Identität, von Selbstbestimmung und Hingabe, von Einsamkeit und Stärke, von dem, was Menschen sich antun, von Untreue, Verrat und Gewalt, vom zerstörerischen wie vom romantischen Verhängnis, von Dunkelheit, aber vor allem davon: das Licht zu finden in der Dunkelheit. Von der Prüfung namens Liebe. Und all das klingt "weirdly gorgeous" (LA Weekly), "darkly intoxicating and viscerally affecting" (Examiner.com); "the depth of her sultry sound is uncommon" (Nitewise).

Die Songs sind ihre Autobiographie, und ihr Werk ist so intim wie universal. Die wundersame Macht der Kunst, die uns das Allgemeingültige und Ewige menschlicher Erfahrung entschlüsseln läßt in Werken, deren Charakter exzentrisch ist in jeder Hinsicht.

Rykarda Parasol wird mit dir sein in einer verrückten Welt, in der Kunst die realere Realität ist, aber auch, wenn man meint, auf einen finsteren Planeten versetzt zu sein, und erst recht, wenn es gilt, über unruhige Ozeane zu gleiten, weil die Liebe ihren Wahnsinnskurs nimmt. "Beauty is Truth, Truth Beauty" (Keats). "Capturing the truth" (Passages, 9) ist die Mission dieser Songs, die noch viele tiefe Geheimnisse bergen: auch wenn Schönheit Wahrheit ist, kann sie Mysterium bleiben.

Zitieren möchte ich noch, was sie mir über die Menschen schrieb, mit denen sie zusammengearbeitet hat, denn die Würdigung klingt am besten aus ihrem Mund.

"I am so thankful to so many musicians who are as talented as they are reliable as well as good friends, teachers, and artists themselves. To me, Colleen Browne was so essential in the first album and I have always looked up to her… Mark Pistel who has engineered and recorded each album – I don’t think these albums would exist without him. Danny Luehring who played drums on the last two albums. He’s one of the best musicians I have ever met. I am hoping to record with Mark and Danny next year. Since 2010, most of my live concerts has been with a group of musicians from Warsaw and Lodz, most notably Milosz Wosko and Robert Radz. Piotr, Kornell, Lukaz, Martin, and Andrez – these guys are my heroes. To be on the road with men who naturally treated me with dignity and professionalism was healing. Knowing they were on stage with me made me feel secure. I really truly value each of them."

Pistel, Betreiber des Room 5 Studios in San Francisco, übernimmt auch den Bass und einige Gitarrenparts auf "The Color of Destruction". Nur dafür, daß er ihre Alben aufgenommen hat, sollte Mark Pistel auf jeder Liste der 100 wichtigsten Persönlichkeiten des Jahres stehen. Jedes Jahr.

Derzeit arbeitet Rykarda Parasol zusammen mit dem französischen Musiker Marc Ottavi an neuen Songs; die Demos, die man auf Soundcloud hören kann, sind wundervoll in ihrer leicht geisterhaften Schönheit.

Für die Ankündigung "New music in 2022" ist Bob Dylan gerade gut genug - "I said, that's the best news that I've ever heard".

 

 

 

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Rykarda Parasol Paris 2021: The photographer is Panos (Panagiotis) Achouriotis 

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Camille Paglia, Die Masken der Sexualität, München 1995