Sonntag, 14. April 2019

Gustav Meyrink, Der Golem






SPIEGEL ONLINE Forum
"Literatur - Was lohnt es noch, zu lesen?"

10/2007



Gustav Meyrink, Der Golem. Selten einen Roman gelesen, der mit jedem Satz derart unterschwellige Bedrohung aus-spukt; im gespenstischen Dunkel des alten, versinkenden Prag mischen sich Realität, Traum und Phantasie, die zwischen unheilschwangerem Im- und atemberaubten Expressionismus schillernde Sprache produziert eine das Vorabgefühl des "Ob man das noch ernst nehmen kann?" im Handumdrehen vernichtende, ungemein sinnlich scheinende Erfahrung. Ob Meyrink, etwa mit der Figur des Aaron Wassertrum, antisemitische Klischees bedient – dahingestellt. Gleichzeitig verspürt man jedenfalls den seltsamen, unwiderstehlichen Wunsch, sich tatsächlich in diesem Labyrinth der Schatten und unzugänglichen Räume aufhalten zu können, in dem alles unübersichtlich voll ist mit Dingen, die ständig mit Eigenleben drohen, und aus jedem Winkel eine faszinierend rätselhafte Gestalt ihr dunkles Geheimnis mitbringt. Denn schließlich ist das Ganze ja wie einer jener bösen Träume, bei denen man sich nachher trotzdem wünscht, man könnte ihn mittels ans Hirn angeschlossenem USB-Stick reproduzieren. Ich weiß nicht, ob man Caligari werden muß, aber mit Coffee-to-go muß auch mal Schluß sein. Psychoreise in und aus dem eigenen Ich, nicht die erste, die den Ausweg aus dem eigenen Kopf sucht, aber eine überraschend faszinierende, und eine vor zuviel Schuhu immer von der Sprache gerettete.

























Montag, 4. März 2019

Boris Vian verzettelt sich







Boris Vian hat an der Technischen Hochschule von Angoulême studiert. Zu seinem Herzfehler kommt Magenweh, der Blues, der Krieg. Er heiratet Michelle, die Blonde, Feminine. Boris Vian preist ihre Beine. Der Ingenieur mit der Trompete. Genres mischen! Macht ein Jazztrio zum Quartett und 100 Sonette zu 112. Lyrik schlägt Haken. Vian spielt wie Beiderbecke, setzt das Mundstück am Mundwinkel an, spreizt die Beine. Schätzt Ubueskes (Alfred Jarry!). Pataphysik verhält sich zu Metaphysik wie Metaphysik zu Physik. Pataphysiker akzeptieren keine endgültige Definition und gestehen keinem Wert Wert zu. In öffentlichen Verkehrsmitteln befällt ihn Atemnot. Eine Art Dringlichkeitsgefühl. Herz zu heftig schlagend. 

Der angesehenste französische Verlag, Gallimard, veröffentlicht DREHWURM, SWING UND DAS PLANKTON. Raymond Queneau, Wortverdreher, reicht eine Lektorhand. Queneaus Frau Janine ist die Schwester von Breton! Queneau wird Freund.

Vian ist eher scharf- als leichtsinnig, trinkt nicht; Zurückhaltung und tiefe Nostalgie, und doch scheint ihm alles leicht zu fallen. Keiner weiß, warum DER SCHAUM DER TAGE so heißt. Der am schnellsten geschriebene Nachkriegsroman (wohl bis Kerouac). Jean-Sol Partre, dem seine Parodie gefällt. Sartre ist Papst. Alles geht mit, neben oder gegen, nichts ohne Sartre, der schneller zu schreiben scheint, als man ihn lesen kann. Scipion: die "Genpolcarthres".

Michelle muß weinen, als sie das Manuskript abtippt - über den Verlust der Unbeschwertheit und die Verletzlichkeit der Seelen. Aber der Verlagspreis entgeht Vian - unverdient, wie er meint - und wird zum Stachel in seiner Seite. Verharmlosend beklagt er den "nicht sehr lustigen" Stil des Gallimard-Vertrages und bietet an, am Rand "kleine bunte Bilder" anzubringen. Wie immer: Einsatz von Intelligenz, um Schamhaftigkeit zu bemänteln.

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Merleau-Ponty war ein Nachtschwirrer. Entzweit sich mit Camus bei einer Kuchenparty. Vian unterzeichnet keine Aufrufe, sondern macht ironische Bemerkungen mit schiefem Mundwinkel. Vians Helden, oft Ingenieure, müssen sich um Sinnloses kümmern. Sie verzetteln sich. HERBST IN PEKING, weder Herbst noch Peking. Schlaflosigkeit des Herzkranken. Erstickungsängste. HERBST IN PEKING ist der Roman des Morgengrauens.

Juliette Gréco. "Ihre Gelassenheit konnte rasend machen." Schweigsame Muse aller. Bar Vert, Rue Jacob - hier hat Artaud seine letzten öffentlichen Auftritte, er krächzt, sein Publikum verfluchend, ein paar Gedichte, dann versinkt er in Umnachtung.

ICH WERDE AUF EURE GRÄBER SPUCKEN. Von Vernon Sullivan. Paris rätselt, munkelt, fordert schließlich Vian, der als Übersetzer auftrat, zum Bekenntnis. Sullivan wird einer der Geister, die man nicht wieder loswird. Der Spaß wird bitterer Ernst, nicht nur wegen der Obszönitäts-Anklage.

Bogart und Bacall waren im TABOU, Welles und Cotten erscheinen in der Szene, der Existentialist hat keinen Nachtisch, Martine Carol steht hoch im Kurs, Marlon Brando fährt Juliette Gréco auf dem Motorrad nach Hause. Deren erster Auftritt: tot vor Lampenfieber.

Reiten auf dem Rücken der Dummheit. Vor Beschützerinstinkten erleidet Vian Gesundheitsanfälle. Sammelt Projekte wie andere Schmetterlinge. Hyperaktiv. Interpretationsversuche bringen ihn auf. Was Gallimard ablehnt, verschleudert er. Verzettelt sich. DAS ROTE GRAS ist totgeboren und zieht im Keller des Grossisten Wasser.

Ursula Kübler, schweizerische Tänzerin bei Roland Petit, eine etwas zerknirschte Einzelgängerin. Hört Vian über die "Verknotungen" seines Lebens reden. Michelle Vian, eher die Betrogene, wird die Geliebte Sartres, nachdem sie lang seine Vertraute und Analytikerin seines Werkes war.

Versuche eines Tagebuches, zerfahren. Entdeckung des Reservoirs der Science-Fiction. Nächtelanges Schreiben von Drehbüchern, umsonst. Welcher Produzent soll "Le Cow-boy de Normandie" lesen? 1952 hat Vian nicht mehr genug Atem für die Trompete. Hochzeit mit Ursula, mürrisch, angespannte finanzielle Situation. Nachbarschaft mit Prévert, der zuweilen über laute Jazzmusik schimpft, aber Anlaufstation bleibt.

Dann die Aera des Chansons. Die Vorstellung allein, vor ein Publikum zu treten, bringt Vian schon um. Jedoch: man kann einen Roman ablehnen, aber man kann niemandem verbieten, ein Lied zu singen.

Gebannt lauscht Serge Gainsbourg, dessen Gesicht "auf ähnliche Weise beunruhigend" ist wie das von Vian. Am Tag des ersten Auftritts ist Vian steif und starr, grün vor Lampenfieber. Wunder geschehen auf der Bühne nur für den Exhibitionisten, die Introvertierten sind verloren. Aber das Publikum verurteilt niemanden zum Tode. Und zuletzt gibt es immer einen im Publikum, den die Verzweiflung rührt: dessen Augen suche. Vian steht da wie vom Mond gefallen, ein sich Sträubender, der sein Gedächtnis zermartert, um zu erfahren, was er hier tut. Schlimmer noch als die Gréco bei ihren ersten Auftritten. Regungslos, nur die Augen kreisen irr, suchen Ursula und einen Fluchtweg. Sprechgesang ohne Vibrato. Serge Gainsbourg später: "Es war grauenerregend, er wirkte wahnsinnig... die Leute waren vom Donner gerührt... er sang wahnsinnige Sachen, die mich fürs Leben gezeichnet haben."

Abend für Abend nun. Abend für Abend Magenkrämpfe vor Angst. Der zerstreute Anarchist mit bebender Stimme. Kriegsveteranenkommandos stören die Auftritte: kleingeistige nationalistische Baskemützenfranzöselei, die nicht will, daß Vian auf ihre Werte spuckt.

Das Literaturmilieu kann Genre-Vermischungen nicht leiden, denn es versteht sie ALS UNTRÜGLICHE ZEICHEN FÜR AMATEURTUM UND MANGELNDE ERNSTHAFTIGKEIT. Vian wird Schallplattenproduzent, schreibt Lieder, erfindet den ersten "falschen" französischen Rocker (Rock Failair) und nimmt den ersten wirklichen (Gabriel Dalard) bei FONTANA auf. Und steckt Energie in die Produktion der LP von Hildegard Knef, von der er bezaubert ist.

Zweites Lungenödem, Ursulas letzte Vorstellung ist DER FAKIRLEHRLING, dann hängt sie die Ballettschuhe an den Nagel, um ständig bei Boris zu sein. Vian schreibt ein Drehbuch für eine Verfilmung von ICH WERDE AUF EURE GRÄBER SPUCKEN. Verzettelt sich. Weil er DAS SCHEITERN ANSTREBT: "Vian macht sein Drehbuch vollkommen unverfilmbar."

Vian kann nicht funktionieren.

23. Juni 1959, 10 Uhr 10: Vian rutscht vom Sessel.







[Notes bei der Lektüre von: Philippe Boggio, Boris Vian, Köln / Basel 1995. Sehr gutes Buch.]






























Mittwoch, 20. Februar 2019

Dieter Kurzhorst-Faust (Slight Return)







The Return of -> Dieter Kurzhorst-Faust: Leider hat ray05 seinen Blog "Letzte Lockerung" ins Nihil befördert. Im April 2011 erschienen dort Lebenszeichen von DKF, die nun also wieder verschwunden sind. Zur Strafe für dieses nichtgutzumachende Verbrechen drucke ich hier die von mir damals verfaßten Kommentare ab.




Zu "Neues von Dieter Kurzhorst-Faust"

Auch in diesem Film, der uns in Hoffnungslosigkeit zu entlassen droht, verweigert sich Kurzhorst-Faust einem pessimistischen Ende. Doch bei aller Brülljanz bleibt er hochkontrovers. Formulierte Blixa Bargeld einst als sein Movens: "Türen aufmachen, wo es vorher gar keine gab", scheint für Kurzhorst-Faust mittlerweile zu gelten: Gegen Türen bumsen, wo es immer noch keine gibt. Mit unverstelltem Blick. Wenn in einer atemberaubenden Einstellung dieses Films ein Kind Löwenzahn zerstückelt, bedeutet das in Kurzhorst-Fausts Welt ja letztlich nichts anderes als die Bedrohung des Kunstgewerblichen mit einem Korkenzieher. Vorbei die Zeiten, in denen Kurzhorst-Faust in Ermangelung eines wirklichen Feindes ein metaphysisches Hohnlachen anstimmte. Nein, Kurzhorst-Faust ist zurück als Spion in trügerischen Idyllen, als wütender Niederbrenner der kleinen Spaßhäuser, in denen immer der gleiche Irrtum der vermeintlichen Puristen aufhört, die Welt zwischen die Zeilen zu schreiben.




Zu "Der fünfte Stein von Dieter Kurzhorst-Faust"

Dankenswert, wie die Antipodie herausgewerkt wurd. Herzog wollte ja immer mit Jack Nicholson drehen, doch es kam nie zustunde, weil Nicholson "an island of sanity" sei. Verglochen mit Kinski. Wie nun hier Jack Nicholson, der seinen Gefährten schiebt, bei 2:14 den Kopf einzieht, unter der ganzen Wucht Kurzhorst-Faustscher Herangehensweise - das ist denkwürden, das ist epochell. Die Lüneburger Heidi. Die Lüneburger Alpen, eine mächtige Quelle des Erhabenen. Bei all ihrer strangulativen Majestät doch eine Königin der effektiven Unruhe. Es ist die große Kette der Fünf-Uhr-Sachen, die Kurzhorst-Faust zu interessieren scheint. "Der fünfte Stein" zieht uns zum Thron Gottes hin, den Gott sich eben dahin zu stellen beliebte, volle Möhre in die schwundelerregenden Höhen der Lüneburger Hochgebirge, wo auf speziöse und doch grazielle Weise die Schwerkraft werkt, zwischen diesen visuellen Objekten von immenshaften Dimensionen. Wenn Kurzhorst-Faust die Flachwelligkeit dieses norddeutschen Tourismusschwerpunkts gänzlich ausblendet, ist das nicht bloße Willkür. "Der Landkreis Soltau-Fallingbostel ist von so ausdrucksvoller Ungewißheit, daß mir die Sprache verschlug", sagt Kurzhorst-Faust. So bricht denn auch der verstörende Soundtrack (Gogol Wu und die Frau von Hans Moser) urplötzlich ab, die Stimmigkeit der Stummigkeit der Pferde, am Ende der einsame Mann - ist es Jack, ist es ein Heidebewohner? -, der mit seinem Veloziped noch einmal das Fundament der Proportionen zu durchglöten scheint: um hier affiziert zu sein, ist Mitwirkung des Willens unnötig.


























Freitag, 15. Februar 2019

Helmut Griem












2. September 2018. Nach einer ersten erfolglosen Mission im Frühjahr fand ich schließlich beim zweiten Versuch das Grab von Helmut Griem, versteckt und überwuchert. Ich schnitt einige Zweige ab, die den Grabstein verdeckten, entfernte Efeu, betrieb tatsächlich ein bißchen Grabpflege beim großen Helmut Griem. Ein Edelmann, wenn man den - erschreckend wenigen - Berichten, die man findet, zuhört. Nur eine kleine Auswahl seiner Filme: 1968 "Bel Ami" mit Erika Pluhar. 1969 Aschenbach in "Die Verdammten" von Luchino Visconti. 1972 Baron Maximilian von Heune in "Cabaret". Dürckheim in "Ludwig II.", erneut Visconti. 1976 Hans Schnier in "Ansichten eines Clowns". Auch in der "Zauberberg"-Verfilmung von 1982 - jener Dreiteiler mit Christoph Eichhorn und Marie-France Pisier, für den ich eine inkurable Schwäche habe - taucht er auf, als James Tienappel. Chabrols "Wahlverwandtschaften" mit Stéphane Audran. "Die Spaziergängerin von Sans-Souci" mit Romy Schneider. Im TV-Mehrteiler "Peter der Große" (1986) ist er zu sehen als Alexander Menshikov.

Einige Fundstücke:

"Das war der Udo Proksch. Und der war ein ganz faszinierender Kerl, ein sprühender Mensch, der mich mit seiner Ideenfülle und Unbekümmertheit anzog. Ich war ja eher brav und pflichterfüllt. Obwohl er ein kleiner, klobiger Mann mit breitem Gesicht war, sind ihm die Frauen buchstäblich nachgerannt. Diesen seltsamen, leicht verrückten Menschen habe ich sehr geliebt. Die Ehe war sehr schwierig. Er war immer unterwegs und hat mich ständig beschissen. Und er wurde Alkoholiker. Das war das Schlimmste. Im Alkohol hat er mich zweimal wirklich verprügelt. Was mich da gerettet hat, und das sage ich mit großer Zuneigung, war der Helmut Griem, mit dem ich beim Drehen von Bel Ami eine Affäre hatte. Diese Beziehung gab mir die Kraft, mich von meinem Mann scheiden zu lassen."

(Süddeutsche Zeitung Magazin, Interview mit Erika Pluhar, Oktober 2011)


"Helmut Griem war von so einer unglaublichen Bescheidenheit, wie ich es sonst nie erlebt habe. Er war ein so besonders feiner Mensch. Er hat sich immer zurückgenommen und ist in einer ganz feinen, respektvollen Weise mit allen umgegangen. Er hat sich nie beschwert, auch wenn wir etwas ein paar Mal drehten und er warten musste. Er war ein ganz uneitler, sehr aufmerksamer, sehr leiser, sehr angenehmer Mensch.

Griem hat sich in sein Privatleben nicht hineingucken lassen, das machen die wenigsten Schauspieler, weil sie Sorge haben, dass sie etwas preisgeben, was die anderen nichts angeht und sie schützen das. Sie wollen für sich einen Bereich erhalten, wo kein anderer Zutritt hat und das ist absolut richtig und verständlich, weil ein guter Schauspieler so viel in seine Rollen hineinlebt - von seinem Leben - bei Griem war das viel von seiner Melancholie und das ist ein ganz heikler Vorgang vor der Kamera, denn die ist unbestechlich. Griem war immer sehr konzentriert und immer in seiner Rolle...

Ich war erschrocken, wie man damit umgegangen ist, als er starb. Da stirbt ein Weltstar, der so bekannt war, und man hat ihn nicht gewürdigt."

(Bernd Böhlich, Regisseur und Drehbuchautor)


"Wir sind uns beim Drehen leider nicht begegnet, aber im Hotel in Budapest. Ich ging auf ihn zu, ich sagte, Herr Griem, ich bin so froh, dass ich endlich die Gelegenheit habe, Ihnen mal was zu sagen, ich war in München auf der Schauspielschule, damals, ich habe sie gesehen, live, damals, am Resi, als Philoktet ..., ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, aber ich glaube, Sie haben mich für das ganze Leben beeindruckt. - Er lächelte, und sagte: "Hast Du auch Hunger?"

(Peter Sattmann)




6.4.1932 - 19.11.2004