Sonntag, 3. Februar 2019

Nietzsche IV










SPIEGEL ONLINE Forum "Literatur - Was lohnt es noch, zu lesen?"
Juli / August 2009 





Haio Forler. 
Zitat von Aljoscha der Idiot: 
Ihre Interpretation des "Übermenschen" jedenfalls ist aus Nietzsche heraus NICHT zulässig. 

Aljoscha, bitte; verrate nicht alles. Es soll und muß spannend bleiben. ;) 





ray05. 
Zitat von Aljoscha der Idiot: 
[...] Kunst / Kultur / Kultivieren / Selbstkultivierung als lebensdienliche Alternative zur "Wahrheit" [...]
Immer ist Sichhin- und drangeben und Sichbewahren zugleich - nur selten zu gleichen Teilen. :)

Ich würde da noch einen "Zacken draufsetzen" [P. Lahm] und die Selbstkultivierung Nietzsches als Beispiel für einen "bicklhoarten" [H. Krankl], fundamentalästhetischen Selbstversuch sonderbezeichnen. Wenigstens ab dem Zeitpunkt der Arbeit am "Zarathustra" durchmaß Nietzsche die Metamorphose vom ressentimentgeladenen, höchstens desillusionierten, Kritiker zum "Übermenschen" am eigenen Leib; sich allen gesundheitlichen / mentalen Konsequenzen dieses Schrittes bewusst aussetzend.

Wenn Nietzsche schmerzgebeugt, aber triumphierend und frohlockend den "Zarathustra" runterschreibt, ist das der Wille zur Macht über sich selbst, der Wille zur fundamentalästhetischen Identität. Das "gefährliche Denken" wird eins mit dem "gefährlichen Leben" wird eins mit dem "gefährlichen Schreiben" = Stil, weil Leben um des Lebens Willen im gleichen Maße gefährlich ist, wie Leben um des Erlebnisses Willen ungefährlich und touristisch ist: "Fundamentalästhetisch" bedeutet nichts anderes als das Leben in der Tatsache, dass Stil gleich Ausübung von Macht und das Ziehen der Konsequenzen daraus ist.





Aljoscha der Idiot. 
Ja. Man muß mit geradezu methodologischer Penetranz den "Übermenschen" mißdeuten, um Nietzsche überhaupt als "Schwächling" bezeichnen zu können. Man muß auch eine ziemlich alberne Vorstellung davon haben, was Schreiben bedeutet. Was es in einem Leben bedeuten kann. Was es darüberhinaus bedeutet, derart zu investieren, derartige Opfer zu bringen. Sich derart vorzuwagen, sich derart auszusetzen wie Nietzsche: das ist kein Scheitern im Vergleich zu einem von Nietzsche selbst Postulierten, das ist punktgenaue Erfüllung. 





oliver twist aka maga. 
Zitat von BerSie:
Was hat "Rope" mit Nietzsche zu tun? Das Motiv der beiden Mörder war wohl so etwas wie spätpubertärer Größenwahn. War übrigens ein Experiment - der Film. Hitch wollte den "echtzeitmäßig" in einem Take aufnehmen. Ging allerdings damals noch nicht, da die Länge der Filmrollen nur eine knappe halbe Stunde erlaubte...
Aber das hat nichts mit Nietzsche zu tun! ;)

Doch, es geht in dem Film um das von jeglicher Moral, "jenseits von Gut und Böse" stehende "Übermenschentum".





Aljoscha der Idiot. 
Dear Oliver Twist,
nein, es geht um ein paar Leute, die Nietzsche mißverstehen. :)
Ihr Copperfield 





oliver twist aka maga.
Dear Mr. Copperfield,
wahrscheinlich ist es nicht schwer, anhand des Nicks meinen Lieblingsschriftsteller zu erraten. :-)

Natürlich haben die beiden Studenten Nietzsche missverstanden. Der Übermensch ist ja nicht einfach ein ethisch schlecht handelnder Mensch, sondern die Beurteilung seiner Taten entzieht sich Kategorien wie gut und böse. Dennoch sollte man Nietzsche auch von seiner Wirkungsgeschichte her sehen, genauso wie man es bei Marx und anderen Philosophen / Literaten tun sollte. Und die Wirkungsgeschichte von Nietzsche ist hochgradig problematisch, wenn man sich das 20. Jahrhundert vor Augen führt.

Anmerkung 1: Haben Sie als Nietzsche-Kenner die Biographie von Safranski gelesen? Sie steht bei mir im Regal und "wartet" darauf, gelesen zu werden.

Anmerkung 2: Mich wundert, dass wir uns hier mit Nietzsche und Thomas v. Aquin beschäftigen und nicht mit dem Philosophen des 20. Jahrhunderts, Karl Popper. Wird Popper unmodern? ;-)

Beste Grüße auch an Mr. Dick und Mr. Traddles

Ihr Maga





Aljoscha der Idiot. 
Gelesen ja. Aber alles vergessen. :) Hatte es damals aus der Bibliothek, auch rechtzeitige Rückgabe vergessen. Denn schließlich, "Ich hatte die Fähigkeit, mich zu wundern, offenbar verloren. In der Welt des Stoffes gab es nichts das Erstaunen wertes, außer Dora Spenlow." :)

Über die angebliche Vorläuferschaft zum Dritten Reich läßt sich Safranski nicht groß aus, angenehm unvoreingenommen. Fasziniert ist Safranski vom "Zweikammersystem", von dem Nietzsche in "Menschliches, Allzumenschliches" spricht, und die Passage kann ich zitieren. :)

"Zukunft der Wissenschaft. ... Deshalb muß eine höhere Kultur dem Menschen ein Doppelgehirn, gleichsam zwei Hirnkammern geben, einmal um Wissenschaft, sodann um Nicht-Wissenschaft zu empfinden: nebeneinanderliegend, ohne Verwirrung, trennbar, abschließbar; es ist dies eine Forderung der Gesundheit. Im einen Bereiche liegt die Kraftquelle, im anderen der Regulator: mit Illusionen, Einseitigkeiten, Leidenschaften muß geheizt werden, mit Hilfe der erkennenden Wissenschaft muß den bösartigen und gefährlichen Folgen einer Ueberheizung vorgebeugt werden." (I / 251)

Nietzsche weiter: "Wird dieser Forderung einer höheren Kultur nicht genügt, so ist der weitere Verlauf der menschlichen Entwicklung fast mit Sicherheit vorherzusagen: das Interesse am Wahren hört auf, je weniger Lust es gewährt; die Illusion, der Irrtum, die Phantastik erkämpfen sich Schritt für Schritt, weil sie mit Lust verbunden sind, ihren ehemals behaupteten Boden: der Ruin der Wissenschaften, das Zurücksinken in Barbarei ist die nächste Folge; von neuem muß die Menschheit wieder anfangen, ihr Gewebe zu weben, nachdem sie es, gleich Penelope, des Nachts zerstört hat. Aber wer bürgt uns dafür, daß sie immer wieder die Kraft dazu findet?"

(Kann man nicht eigentlich aus dem Duktus schon einer solchen Passage erkennen, was Nietzsche vom nationalsozialistischen Völkermord, aber auch von der pseudowissenschaftlichen Rassenhetze, die diesen stützte, gehalten hätte?) (Und auch von den Hitchcock-Studenten?). (Ich meine, schon.)

Safranskis Faszination für den Zweikammer-Begriff erinnere ich deshalb, weil David Bowie vor langer Zeit mal in einem Interview ein Buch empfahl mit dem Titel: "The Origin of Consciousness in the Breakdown of the Bicameral Mind". Nie gelesen, aber Titel eingeätzt in den Bregen. :)

Ansonsten erinnere ich Safranski als sehr gut lesbar; auch, wie er die besondere Bedeutung der Musik für Nietzsche hervorhebt, fand ich sehr gut.

Mein Dickens-Favorit ist übrigens Sidney Carton, "A Tale of Two Cities". Lektüre wird aber, Asche auf mein Haupt, nicht unwesentlich durch die Verfilmung mit Dirk Bogarde, Dorothy Tutin, Christopher Lee und Marie Versini (seufz) beeinflußt. :) 





oliver twist aka maga.
Die "Tale of Two Cities" habe ich als sehr schöne Ausgabe 1983 auf einer Klassenfahrt in Prag günstig erworben. Im Ostblock hatten sie zum Teil sehr viel schönere Bücher als im "Westen". Den Film kenne ich leider nicht. Mein Lieblingsbuch ist tatsächlich Copperfield - ich wollte mir den Nick nicht geben, weil man mich dann für einen Magier gehalten hätte :-) -, aber Dora Spenlow wie auch Agnes Wickfield und zahlreiche andere Frauenfiguren, mit Ausnahme von Copperfields Tante und Miss Murdstone, habe ich immer als eher schwach empfunden. Dickens hatte m. E. kein Talent für interessante Frauengestalten.

Den Safranski sollte ich lesen. Ich denke auch, dass Nietzsche eine komplexere Figur war, dass seine Religionskritik - im Gegensatz zu der vieler anderer Kritiker - sehr bedenkenswerte Elemente in sich trägt und dass man ihn natürlich nicht einfach als geistigen Vorläufer des Nazismus brandmarken sollte. Dennoch ist er sowohl von seinem Ansatz her als auch wirkungsgeschichtlich nicht unproblematisch. Zugleich ist Nietzsche zweifellos eine imposante Figur und auch literarisch ein viel höherer Genuss als etwa ein Kant, ein Hegel oder ein Heidegger. (Weiß der Himmel, warum deutsche Philosophen oft meinen, sie müssten besonders unverständlich und scheußlich schreiben, um ihre Gedanken kundzutun?).





Aljoscha der Idiot. 
Ich habe meine "Tale of Two Cities"-Ausgabe (mit Illustrationen von A. A. Dixon) aus Kopenhagen! Da gibt es einen "Booktrader" im Universitätsviertel, bei dem ich im Laufe einiger Jahre fast einen Meter englische Literatur through the ages in wunderschönen, alten, gebundenen Ausgaben zusammengetragen habe, Chaucer von 1926, Robert Burns von 1856, Wordsworth von 1914, Swinburne von 1873, Tennyson von 1906, Shelley von 1892, die gesammelten Briefe von Shelley in zwei Bänden von 1914, Byron, Keats, die ganze Bande, alles zu einem Spottpreis! Außerdem fand ich dort einmal ein 1972 erschienenes, französisches Buch mit Abbildungen von Werken des Malers Clovis Trouille, den ich sehr liebe, sehr seltenes Exemplar, also ich kann einen Besuch dort nur unbedingt empfehlen! Wie man -> hier sehen kann, war auch William S. Burroughs mal da. 

Das nur am Rande, zum Morgenkaffee! :) 





ray05.
[an oliver twist aka maga]
Schau, es war ja gerade der, wie Du schreibst, wissenschaftsgläubige, imperialistische Kontext, gegen den Nietzsche mit allem, was er hatte, ankämpfte. Und es war darüberhinaus die "bürgerliche Gesellschaft" seiner Zeit mit ihrem unausstehlichen Philistertum und ihren im Gewand der Moralhuberei daherkommenden Ressentiments, gegen die Nietzsche mit allem, was er hatte, anschrieb. Und es war der, ganz wichtig!, Untertanengeist jener Zeit, gegen den Nietzsche mit allem, was er hatte, anschrieb - jenen Untertanengeist, der ja in Heinrich Manns Figur des "Diederich Heßling" fast schon zum Phänotypen wurde.

Nietzsche war OPPOSITION, mehr noch als das, was man heute niedlich einen "Kulturkritiker" nennen würde; er lehnte all das, was ein "monströses Weltbild" (Maga) als Zeit- oder Epochensignet hätte sein können, FUNDAMENTAL AB. Er kann also gar nicht an diesem Weltbild, das Du als entscheidende Beeinflussung der Nazi-Ideologie kennzeichnest, mitgewerkelt haben. ANDERE haben da mitgewerkelt, diejenigen, gegen deren Auslegung seines Werkes sich Nietzsche nicht mehr wehren konnte, weil er tot war ...

Nochwas, ein weiteres Mißverständnis scheint bei der Beurteilung Nietzsches hinsichtlich "Nihilismus" und "Gott ist tot" zu bestehen. "Nihilismus" KONSTATIERT Nietzsche als Folge der Tatsache, daß wir Gott abgeschafft haben. Nietzsche hat Gott NICHT abgeschafft ... :)

Nein, Nietzsche ist derjenige Denker, der uns Menschen das Allerhöchste ZUTRAUT. In diesem Punkt ist er der Höhepunkt des Idealismus. Er traut jedem einzelnen von uns zu, in einer gewaltigen Willens- und Lebensleistung über uns hinauszuwachsen, unsere "Sklavenmoral" zugunsten der "Herrenmoral" zu überwinden, also FREI zu werden. Fast schon eine frohe Botschaft, oder. :)





oliver twist aka maga.
Ray, ich bin ja kein vehementer Anti-Nietzscheaner, wenngleich ich ihn kritisch sehe. Was Du über ihn schreibst, ist in meinen Augen alles richtig. Auch habe ich nicht behauptet, Nietzsche habe Gott abgeschafft. Was ich als Christ als sehr problematisch ansehe, ist der innere Zusammenhang zwischen der Abschaffung Gottes und der Überwindung der "Sklavenmoral". Auch verhält es sich mit Nietzsche ähnlich wie mit Marx. Auf Marx, der vom Absterben des Staates schrieb, beriefen sich jene, die ein nie wieder erreichtes Maß an Staatsallmacht herbeigeführt haben. Zur Rezeptionsgeschichte, erst recht zur Wirkungsgeschichte, gehören eben auch die falschen Rezeptionen.

Ein weiterer Punkt: Mich würde interessieren, wie Nietzsche in unserer Zeit schreiben würde. Das Philistertum ist geblieben, nur hat es inzwischen viele verschiedenen Facetten - das unterscheidet es vom damaligen Philistertum. "Moralhuberei" - die Kritik daran ist auch für einen Christen richtig, denn Christentum ist eben kein Moralismus - und Untertanengeist existieren in allen politischen Lagern, in vielen Schichten. Und der Diederich Hessling lebt ebenfalls weiter, wenn auch in veränderter Form. Auch der in Dickens "Edwin Drood" beschriebene Philantrop, der eigentlich ein Misanthrop ist. Warum ich bei der Figur immer an Michael Moore denken muss? Jedenfalls glaube ich, dass Nietzsche die Heuchler schnell entlarven würde.





Aljoscha der Idiot. 
Zitat von hans-werner degen: 
Der Übermensch war die Speerspitze dieser Bewegung 
-> Sozialdarwinismus
Und an der Diskussion nahmen alle bekannten Philosophen, Literaten und Wissenschaftler Anteil.
Und ausgerechnet der Professor Nietzsche soll davon nix gewußt haben... soll nicht gewußt haben, dass der Begriff der Eugenik entstammt?

Treffer "Nietzsche" im Wikipedia-Artikel "Sozialdarwinismus": 0

Treffer "Übermensch" im Wikipedia-Artikel "Sozialdarwinismus": 0

Aber, doch, Nietzsche hat eine Menge Dinge deutlich gesehen. Zum Beispiel, 1878:

"Beiläufig: das ganze Problem der Juden ist nur innerhalb der nationalen Staaten vorhanden, insofern hier überall ihre Tatkräftigkeit und höhere Intelligenz, ihr in langer Leidensschule von Geschlecht zu Geschlecht angehäuftes Geistes- und Willens-Kapital in einem neid- und haßerweckenden Maße zum Übergewicht kommen muß, so daß die literarische Unart fast in allen jetzigen Nationen überhand nimmt – und zwar je mehr diese sich wieder national gebärden -, die Juden als Sündenböcke aller möglichen öffentlichen und inneren Übelstände zur Schlachtbank zu führen."

Herr Degen, Nietzsches "Der Starke" hat nichts mit irgendeinem darwinistisch gedachten "Stärkeren" zu tun. Nietzsches "Der Starke" meint Souveränität, nicht: Angewiesensein auf Demonstration der Stärke. Ich glaube fest daran, daß dieser Unterschied auch in einem fundamentalchristlichen Schädel ankommen kann. I have a dream. 





KLMO.
Nach dem letzten Satz selten so gelacht...





chevy57.
Dem kann ich mich nur unumwunden anschließen. Die Hoffnung stirbt zwar bekanntlich zuletzt, aber in diesem speziellen Fall auf Einsicht bezüglich der eigenen Voreingenommenheit, Ideologie-Hörigkeit und schlichter Unkenntnis zu hoffen ist denn doch schon SEHR optimistisch.





hans-werner degen.
In Sozialdarwinismus gefunden:
Eine besonders krasse, inhumane Variante des Denkens des Sozialdarwinismus, die verbunden ist mit einer Verkennung der neuen höheren Qualität des Menschen, ist die Philosophie Nietzsches. Eine besonders krasse und praktizierte Form des Sozialdarwinismus ist der rassistische Faschismus, besonders in seiner deutschen Variante mit der millionenfachen Vernichtung von (angeblich) rassisch minderwertigen und kranken Menschen.

Im Ikonenmagazin gefunden (3. Link)
Wer sich ernsthaft mit einer Ethik und Theorie des Sozialdarwinismus auseinandersetzen möchte, ist mit Redbeard - vor allem aber mit den eigentlichen Quellen dieser Strömung (etwa Nietzsche) - erheblich besser bedient.

Den Faschismus auf Antisemitismus zu verengen, nur um Nietzsche zu helfen, find ich impertinent.
Und hierauf keine Reaktion, nur Schweigen:
Auszüge aus "Der Antichrist"
"Es steht niemandem frei, Christ zu werden: man wird nicht zum Christentum »bekehrt«, - man muss krank genug dazu sein."
"Die Schwachen und Missratnen sollen zu Grunde gehen: erster Satz unserer Menschenliebe. Und man soll ihnen noch dazu helfen."
Das ist Faschismus, der Faschismus des Nietzsche Verehrers Duce... der Antisemitismus ist deutsche Beigabe eines unmenschliche Konzepts.





river runner. 
Zitat von Aljoscha der Idiot: 
Herr Degen, Nietzsches "Der Starke" hat nichts mit irgendeinem darwinistisch gedachten "Stärkeren" zu tun. Nietzsches "Der Starke" meint Souveränität, nicht: Angewiesensein auf Demonstration der Stärke. Ich glaube fest daran, daß dieser Unterschied auch in einem fundamentalchristlichen Schädel ankommen kann. I have a dream. 

Ich sehe, dass Herr Degen sich gegen Ihre Ausführungen wehrt. Wenn Sie versuchen, einem alten Katholiken einen Autor als empfehlenswert zu verkaufen, der Cesare Borgia als den letzten Papst sehen wollte, konnte das nicht sofort den ersehnten missionarischen Erfolg haben.

Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, 61: "Cesare Borgia als Papst ... Versteht man mich? ... Wohlan, das wäre der Sieg gewesen, nach dem ich heute allein verlange -: damit war das Christentum abgeschafft!"





Aljoscha der Idiot. 
Pupertär 
Du sollst nicht lügen, Herr Degen. Das steht nicht im Wikipedia-Artikel "Sozialdarwinismus", sondern in Ihrem "Schul-Wiki"-link, in unmittelbarer Nähe dieser Passage:

"Was bei einer solchen Übertragung vergessen bzw. nicht erkannt wird, ist die neue, höhere Qualität, die der Mensch als bewusstes, vernunftbegabtes Wesen (alle Schüler des Gk 12???) der übrigen Natur gegenüber darstellt. Wenn auch die natürlichen Evolutionsgesetze im Verhalten des Menschen und in der menschlichen Gesellschaft eine Rolle spielen, so müssen sie doch nicht das Geschehen dominieren. (z.B. Balzverhalten und Trinkrituale am Oktoberfest; militärisch, pupertäres Auftreten, Prestigedenken und ritualisierte Machtdemonstrationen ...)"

Zitat von hans-werner degen: 
Den Faschismus auf Antisemitismus zu verengen nur um Nietzsche zu helfen find ich impertinent.

Man hat, um jene Teile der Hl. Schrift, in denen Ressentiment sich verbal austobt, überhaupt als annehmbar zu rechtfertigen, genau von dem auszugehen, was Taureck über Nietzsche sagt: Bilder. Entweder das, oder man hat in der Bibel ein Buch, das, "logisch", Haß und Gewalt rechtfertigt. Mit zweierlei Maß messen kann man jedenfalls nicht. Sie können nicht Nietzsche beim Wort nehmen, wo es Ihnen paßt, und bei einem anderen, Ihnen liebwerten großen Poesiebuch die Augen zukneifen. Nur einige Beispiele: die Juden sind, laut Paulus, Gottesmörder und "allen Menschen zuwider" (1 Thessaloniker 2,15). Im Titusbrief (1,10 ff.) fordert Paulus, man müsse den Juden "das Maul stopfen", sie sind "freche, unnütze Schwätzer und Verführer".

Nietzsches Meinung über Paulus ist bekannt, lassen wir den mal weg, der hatte auch konkrete Gründe für Römerbrief 13, die wir ihm zugutehalten müssen, wenn wir nicht in eine Diskussion verfallen wollen darüber, ob er da, "protofaschistisch", theoretisch, auch Naziherrschaft und Drittes Reich legitimiert.

Das Unkraut soll brennen, erklärt Jesus (Matthäus 13, 24-40), gemeint sind die "Kinder der Bosheit" (Matthäus 13,38), die im "Feuerofen" (Matthäus 13,42) landen werden. Lukas 19,27: "Doch jene meine Feinde, die nicht wollten, daß ich über sie herrschen sollte, bringet her und erwürget sie vor mir!"

Aufrufe zum Massenmord an Andersdenkenden finden Sie bei Nietzsche nicht. Wann immer bei Jesus die Rede ist von "Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert", hat man, um die ständigen Vernichtungsphantasien überhaupt irgendwie zu rechtfertigen, davon auszugehen, daß es um den Anbruch der Heilszeit, das Reich Gottes geht, das sich aber schon konkret als aktives Erdenhandeln darstellt und in das Jesus sich einbezogen sieht. Daran kann man dann auch 2000 Jahre danach noch glauben oder es als Beleidigung menschlichen Geistes ansehen, als Beginn der selbstverschuldeten Unmündigkeit, daß die lang zurückliegenden internen Fehden eines kleinen Häufleins von Piepel auf einem Fleckchen dieses Globus noch immer maßgeblich sind. Spielt aber keine Rolle jetzt. Entscheidend ist, daß Jesus wie Nietzsche, offensichtlich, für ihr Anliegen Bilder benutzen.





Aljoscha der Idiot. 
Zitat von river runner:  
Wenn Sie versuchen, einem alten Katholiken einen Autor als empfehlenswert zu verkaufen, ...

I wo, nur ein bißchen justice for Nietzsche, und...
... Tucholsky schrieb ja in seinem Essay zu Panizza, das "Liebeskonzil" sei ein "grandioses Drama". D'accord. Wohl solle man die religiösen Gefühle seiner Mitbürger schonen. D'accord. Schließlich hat man selber welche. Aber: es wäre eine Anmaßung der Mitbürger, zu verlangen, "... wir sollten im selben Tempo fühlen wie sie und im selben Rhythmus leben wie sie. Ihr Lachen ist nicht unser Lachen, und ihr Schmelzpathos ist uns keines." D'accord. 





ray05. 
Zitat von oliver twist aka maga:
Auch die Schriften von Philosophen werden ausgelegt. [...] Lässt man die Rezeptionsgeschichte einmal beiseite und konzentriert sich nur auf den Autor, bleibt ihre Philosophie dennoch sehr problematisch. Bei dem einen sind es die Unterscheidung von Über- und Unterbau und die Vergötterung der Geschichte, bei dem anderen die Unterscheidung von Herren- und Sklavenmoral und die Vergötterung des Übermenschen.

Hallo Maga. Deiner Logik folgend, wäre die einzig UNproblematische Philosophie eine Philosophie, die sich einer Auslegung verschlösse bzw. die keiner Auslegung bedürfe. Eine solche Philosophie kann es für meine Begriffe aber nicht geben. Wenn wir uns in der (politischen) Philosophiegeschichte umschauen, entdecken wir ausschließlich Theoriebildungen, die "problematisch" sind - aus der heutigen Sicht des aufgeklärten Bürgers der westlichen Hemisphäre wohlgemerkt: Platons Primat der staatlichen Kinderaufzucht [sic!] oder nimm gleich ganz sein Modell der "Philosophenherrschaft" - problematisch! Nimm Aristoteles' Herren- und Sklavenmodell - problematisch! Nimm Machiavellis System des "Zweck heiligt jedes politisches Mittel" - problematisch! Nimm Hobbes' funktionalistisches Staatsmodell des "Leviathan" als notwendige Überwindung des "Naturzustandes" - problematisch! Nimm Hegels "sittlichen Vernunftstaat" als ultima ratio des "Geistes" - problematisch! Marx - problematisch! Max Weber und Carl Schmitt - problematisch! Jeder Theorie über den Menschen und der zu beschreibenden Beschaffenheit seiner (Sozial)Verbände liegt EINE entscheidende Grundprämisse zugrunde, die SELBST problematisch ist: Mein ureigenes "subjektives" Bild des Menschen, das als Ausgangspunkt jeder Betrachtung bzw. System- oder Theoriebildung wirkmächtig einfließt. Das Problem der problematischen Theoriebildung ist der problematische Mensch selbst. (Unter anderem dies meinte Nietzsche mit dem Satz: Der Wille zur Systematik ist ein Mangel an Redlichkeit.)

Gruß, Ray





oliver twist aka maga.
[...] Die Verachtung von Systematik dürfte aber ein Grundzug des Denkens Nietzsches gewesen sein, der ja keine etwa Hegel vergleichbare Systematik entwickelt hat, sondern eher genialisch im Ungefähren, im Nebeneinander Stehenden geblieben ist. Insofern ist bei ihm die Auslegung noch notwendiger und je nach Standpunkt des Betrachters noch unterschiedlicher. Und insofern mag in seinem Satz auch etwas wie Rechtfertigung mitschwingen. [...]





ray05.
Du meinst, aus Unfähigkeit oder Unlust, ein systematisches Lehrgebäude zu errichten, zieh er, sich dadurch rechtfertigend, einfach die Schulwissenschaft der Unredlichkeit? :)

Nein. Nietzsches "Methode" ist DEZIDIERT künstlerisch. Sein Denken und Schreiben in teils sehr mächtigen Bildern ist der Überzeugung geschuldet, daß das "Logosgemäße", in Modelle "wissenschaftlich" Zusammenkausalisierte und -systematisierte KEINESFALLS wahr oder wahrhaftig ist, weder noch. Alle jene, die ein "logosgemäßes" Zustandekommen von "Wahrheit" dennoch behaupteten, z. B. Marx, bezeichnete Nietzsche deshalb als "unredlich". Dem "Wahren" komme man stattdessen einzig auf dem Weg subjektiver, ästhetischer bzw. künstlerischer Betrachtung bzw. im ästhetisch-künstlerischen LEBEN und Schaffen wahrhaftig nah.















Dienstag, 29. Januar 2019

Nietzsche III












SPIEGEL ONLINE Forum "Literatur - Was lohnt es noch, zu lesen?"
Juli 2009 





Aljoscha der Idiot. 
Zitat von hans-werner degen:
Der Logik folgen heißt, dass ein Rädchen des Denkens folgerichtig ins andere greift... und das kann man bei Nietzsche nicht sagen... 

So wie es "logisch" ist, daß aus der Rede vom "Übermenschen" bei Nietzsche, die Sie vermutlich ähnlich krude verstehen wie Nietzsches Rede von der "Lust" oder Nietzsches Rede vom "Willen zur Macht", folgt, daß es auch "Untermenschen" gibt, nicht wahr?

Zeigen Sie mir eine Stelle, in der Nietzsche von "Untermenschen" redet. Tip: es gibt genau eine. Und wenn Sie es schaffen, auch diese Passage "logisch" und "logosgemäß" so zu verstehen, wie Nietzsche zur Nazizeit verstanden wurde, machen wir eine Schießbude auf. Drei Treffer gewinnen das Goldene Kalb.

"Herrschen? Meinen Typus Andern aufnöthigen? Gräßlich! Ist mein Glück nicht gerade das Anschauen vieler Anderer?" (N.)





hans-werner degen. 
Wenn es Übermenschen gibt, muß es Untermenschen geben... sonst wäre das Über... sinnlos und leer. Verwende ich einen solchen Begriff, muß jedem klar sein, dass es da noch etwas anderes geben muß... und der Gegensatz von Über... ist Unter...





Aljoscha der Idiot. 
Fakt ist, daß das Wort bei Nietzsche nur einmal, und zwar in einem völlig anderen Zusammenhang, auftaucht. Sie können Nietzsche jederzeit redlich kritisieren, aber doch bitte nicht derart oberflächlich. Im einem der Links, die Sie gestern anbrachten, hieß es wieder mal (yawn): "Für Nietzsche wäre er wohl die Verkörperung des Übermenschen gewesen." Nein, wäre er nicht, da können Sie Gift drauf nehmen.

Im übrigen beweisen Sie gerade, wie wir nicht nur Gott, sondern auch die Logik nicht loswerden, solange wir an die Grammatik glauben. Leider ist auch da nicht alles so eindeutig. Denn natürlich ist ein Über ohne ein Unter konzipiert worden, als reines Heraus aus dem Bestehenden. Es gibt in der menschlichen Sprache "das Übernatürliche", wo wäre "das Unternatürliche"?

Noch was zu gestern: Hermeneutik ist nicht Identifikation, auch da verfahren Sie nicht redlich, nicht "logosgemäß". Nietzsche-Interpretation macht einen nicht zum "Nietzsche-Jünger".


Zitat von hans-werner degen:
Zu jedem Wort, das einen Bezug auf Variabilität enthält, gibts einen Gegensatz. Und zu dem arischen Übermenschen gabs schnell den semitischen Untermenschen. Und ich halte ... Nietzsche nicht für so blöd, dass er diesen Gegensatz nicht gekannt hätte.

Was heißt denn um Gottes Willen "nicht so blöd, diesen Gegensatz nicht gekannt zu haben"? Welchen? Den von den Nazis konstruierten, zugespitzten, fatalen und letalen? Wie soll er denn den gekannt haben? Bei Nietzsche selbst gibt es zig Äußerungen zu "arisch" und "semitisch", in vielerlei Färbung, mit einem erkennbaren Wandel der Konnotationen, als Gegensätze, als Nichtgegensätze. Weder hat Nietzsche bei "arisch" an eine "deutsche Herrenrasse" gedacht, noch war er antisemitisch; er war erklärter Anti-Antisemit, sein Bruch mit Wagner ging nicht zuletzt auf dessen extremen Antisemitismus zurück. Wollen Sie behaupten, Nietzsche hätte seinen Antisemitismus nur mit Synonymen bemäntelt? Der späte Nietzsche hat "Rassenmischung" als "Quell großer Kultur" befürwortet. Die einschlägigen Passagen bei Nietzsche lassen mindestens erkennen, wie fern Nietzsche dem stand, was Wagner oder Hitler aus Gobineau folgerten. Und Sie haben jede einzelne Passage Nietzsches, in der er von "Rasse" spricht, überhaupt erst einmal daraufhin zu untersuchen, ob er da überhaupt den Begriff im Sinne der gebräuchlichen "Rassentheorie" verwendet, das ist nämlich beileibe nicht immer der Fall.

Pieseln Sie Nietzsche ans Bein, aber tun Sie es richtig. Kaufen Sie sich das Buch, das Sie gestern verlinkt haben. Taureck wird es freuen, und Sie haben ein Beispiel dafür, wie eine differenzierte Kritik an Nietzsche aussehen kann. Taureck ist übrigens auch nicht immer auf dem richtigen Dampfer, meinem Verständnis nach, aber wer ist das schon. Die Zeit, in der man Nietzsche mit in kindischer Hartnäckigkeit wiederholten Empörungen diskreditieren kann, ist jedenfalls lange vorbei, dafür hat akribische wissenschaftliche Arbeit doch nun wirklich in breiter Front gesorgt. Wenn Sie bei "Alle Lust will Ewigkeit" nicht weiterkommen als bis zu masturbierenden Pennälern, mag das nur embarrassing sein. Wenn Sie aber partout und hartnäckig den "Willen zur Macht" auch so verstehen wollten, wie es zur Nazizeit geschah, wäre das indes ein Problem. Aber nur das Ihre.





oliver twist aka maga. 
Zitat von Aljoscha der Idiot: 
Was heißt denn um Gottes Willen "nicht so blöd, diesen Gegensatz nicht gekannt zu haben"? Welchen? Den von den Nazis konstruierten, zugespitzten, fatalen und letalen? Wie soll er denn den gekannt haben? Bei Nietzsche selbst gibt es zig Äußerungen zu "arisch" und "semitisch", in vielerlei Färbung, mit einem erkennbaren Wandel der Konnotationen, als Gegensätze, als Nichtgegensätze. Weder hat Nietzsche bei "arisch" an eine "deutsche Herrenrasse" gedacht, noch war er antisemitisch; er war erklärter Anti-Antisemit, sein Bruch mit Wagner ging nicht zuletzt auf dessen extremen Antisemitismus zurück. ...

Mit dem "Alle Lust will Ewigkeit" habe ich keine Probleme. Man kann den Satz in zweierlei Hinsicht deuten. Und Nietzsche hat mit dem Denken Gobineaus, Wagners und Chamberlains nichts gemein. Man sollte aber nicht vergessen, dass der ursprünglich dem Rassendenken fremdstehende Mussolini - noch Mitte der 30er Jahre machte er sich lustig über den Hitlerschen Rassenwahn - stark vom Denken Nietzsches beeinflusst worden ist. Der Übermensch, der ja nur Übermensch sein kann, wenn andere keine Übermenschen sind, hat zwar nicht den Amoralismus in der Politik begründet - der ist so alt wie der Mensch selbst -, er hat ihn aber zu etwas Erstrebenswerten gemacht und ihm seine philosophische Rechtfertigung gegeben. Es gibt tausend Gründe dafür, wenn man nach seinem Lieblingsphilosophen - meiner ist Aristoteles - gefragt wird, nicht Nietzsche zu nennen.

PS: Kennen Sie Hitchcocks Film Rope, zu deutsch Cocktail für eine Leiche? 





BerSie.
Das ist wahr! Meiner ist Bertrand Russell. Leider verstand der nichts von Logik und wurde vermutlich schon von Thomas von Aquin widerlegt - vielleicht ist das der Grund für meine Sinnkrise!?

Was hat "Rope" mit Nietzsche zu tun? Das Motiv der beiden Mörder war wohl so etwas wie spätpubertärer Größenwahn. War übrigens ein Experiment - der Film. Hitch wollte den "echtzeitmäßig" in einem Take aufnehmen. Ging allerdings damals noch nicht, da die Länge der Filmrollen nur eine knappe halbe Stunde erlaubte...
Aber das hat nichts mit Nietzsche zu tun! ;)





Aljoscha der Idiot. 
@maga
Es gibt tausend Gründe dafür, überhaupt keinen "Lieblingsphilosophen" zu haben, weil sie alle wertvoll sind. Sicher kenne ich "Rope", guter Film, aber wie BerSie sich auch schon wunderte – ist von Nietzsches "Übermensch"-Idee so weit entfernt wie "Rope" von Hitchcocks bestem Film. Nein, weiter. :)


Zitat von BerSie:
Das ist wahr! Meiner ist Bertrand Russell.
Sehr gut! Der hat seine amerikanische Professur verloren, weil seine Schriften, wie ein Vertreter der Anklage vor Gericht erklärte, als "wollüstig, libidinös, lüstern, unkeusch, erotoman, aphrodisisch, respektlos, unwahr und bar jeglicher Moral" zu betrachten seien. Also wen das nicht reizt. :)


Zitat von hans-werner degen:
Ich habe Nietzsche nicht haftbar gemacht, nur gezeigt, dass diese Interpretation möglich und daher zulässig ist.
Ihre Interpretation des "Übermenschen" jedenfalls ist aus Nietzsche heraus nicht zulässig. Daß Nietzsche nicht von "Untermenschen" spricht, daß er kein Antisemit war, daß Sie in # 17401 beim Zitieren meines Beitrags das Nietzsche-Zitat, das Ihnen nicht in den Kram paßt, und es ist nur eines von vielen möglichen, vielsagenderweise weggelassen haben, nämlich: "Herrschen? Meinen Typus Andern aufnöthigen? Gräßlich! Ist mein Glück nicht gerade das Anschauen vieler Anderer?", all das ist gar nicht so relevant. Entscheidend ist Ihre falsche Sicht auf Nietzsches Begriff "Übermensch" selbst.

In # 17403 habe ich Ihnen einen Hinweis dazu gegeben:

"Denn natürlich ist ein Über ohne ein Unter konzipiert worden, als reines Heraus aus dem Bestehenden. Es gibt in der menschlichen Sprache 'das Übernatürliche', wo wäre 'das Unternatürliche'?"

Das "reine Heraus aus dem Bestehenden", darum geht es. Dazu bedarf es keines "Untermenschen", dazu bedarf es nur des bisherigen Menschen. Der Über-Mensch ist nicht Herr über andere, er ist Herr über sich selbst. Jeder Versuch, aus Nietzsches Begriff des Übermenschen irgendeine Idee von Gewaltausübung über andere abzuleiten, ist barer Unsinn. Wenn Sie sich da auf eine Stufe mit den Nazis stellen wollen, tun Sie das, aber machen Sie Ihre Motive klar.

Freut mich, daß Sie Taureck so schätzen. Ich werde Ihnen mal aus Taurecks "Nietzsche-ABC" referieren, was da zum "Übermenschen" zu lesen ist.

"Um alles über Nietzsche zu sagen, könnte man bemerken, daß er mehr Bilder benutzt und schafft als irgendein anderer Denker. ... Bild ist auch der 'Übermensch', ein Wort, das Nietzsche zum Beispiel in Goethes Faust finden konnte, wo Faust von dem Erdgeist mit diesem Titel ironisch angeredet wird. ... 'Übermensch', ins Griechische übersetzt, könnte 'Hyper-Anthropos' oder auch 'Meta-Anthropos' heißen. Bei Lukian ist hyperánthropos tatsächlich belegt. ... 'Hyper-Anthropos' käme etwa ... einer höheren biologischen Evolutionsstufe jenseits der neuronalen Komplexität des Menschen (gleich). 'Meta-Anthropos' dagegen meint einen Menschentypus, der in der Lage ist, alles Menschliche zum Gegenstand zu machen."

Taureck schreibt weiter, es gehe Nietzsche nicht um den Hyper-Anthropos, "... sondern um die reflektierende Gestalt des 'Meta-Anthropos'. Der Übermensch ist für Nietzsche primär ein Mensch, der über den Menschen Bescheid weiß und kraft dieses Wissens die Grenzen des bisherigen Menschen überschritten hat."

Der Übermensch ist ein Selbst-Schöpfer, der keinen Dogmen mehr hinterherlaufen muß, fähig, das Leben ohne vorgegebenen Sinn zu bejahen.





hans-werner degen.
Und warum hat er das nicht geschrieben, wenn er es gemeint hat? Und grundsätzlich: gerade Taureck nennt Nietzsche den protofaschistischsten Denker in der Ahnenliste des Faschismus.





ray05.
My Nietzsche 
Wilamowitz' bekannte Kennzeichnung Nietzsches als "Prophet einer irreligiösen Religion und einer unphilosophischen Philosophie" ist so paradox wie zutreffend. Nietzsches Selbstauskunft: "Ich bin ein Immoralist"; ich ergänze à la Wilamowitz: Er ist ein moralischer Immoralist.

Nun, was bedeutet es denn, wenn Nietzsche konstatiert: "Gott ist tot. Wir haben ihn umgebracht." Er bezeichnet damit den Kulminationspunkt menschlicher Dekadenz, das low level life, das nur noch nach Instanzen und "Gerechtigkeit" blökt, die Lebensarmut und -schwäche, die sich im Wunsch nach den Imperativen umfassender "Moral" oder "Tugend", von selbstgebasteltem "Recht" und "Gesetz" offenbart und ohne deren Verabreichung in immer höheren Dosen keine Lebensäußerung mehr möglich scheint. Nietzsche ist nicht nur der "Antichrist", er ist auch der Platon-Umkehrer.

Tja, die Erkenntnis, das "logosgemäß" gültig zu Formulierende, beisst sich mit schöner Regelmäßigkeit selbst in den Schwanz, sagt Nietzsche, die von ihr behauptete "Wahrheit" ist nichts weiter als eine Komödie. Der Primat logosgeleiteter "Wissenschaft" geht nicht zufällig Hand in Hand mit der schleichenden Entmündigung Gottes. Erst schickt man ihn in die Kurzarbeit, dahin, wo er nur noch "gut" oder "gütig" zu sein braucht, dann verbannt man ihn in die Sphäre des Imaginären, schließlich entsorgt man ihn vollends, und kann sich - befreit - so ganz der menschlichen Erkenntniskomödie hingeben: Selbstgerecht moralisierend und halbsenil vor sublimer Geistesschwäche.

Fort mit der "Sklavenmoral", lasst uns dem Leben zurückgeben, was des Lebens ist, höchste Zeit für die Umkehr, sagt Nietzsche, für die "Umwertung aller Werte"! Gott werden wir nicht mehr zum Leben erwecken können; ihn als ausgestopften Popanz vor uns her zu tragen, kommt nicht in Frage, das überlassen wir den Kirchen. Nein, WIR als Menschen ohne Gott werden unsere Lebenshülle zurücktragen müssen, freilich noch hinter Plato zurück, weil dessen Sokrates schließlich als Erster mit dem Unfug anfing, den Logos über den Ausdruck zu stellen, die Kunst zu diskreditieren, indem er die Leinwände mit Tugend- und Erkenntnissuppe vollspritzte.

Es ist moralischer, sich hin- und dranzugeben, als sich zu bewahren, sagt Nietzsche mit Clawdia Chauchat; ja, berstend vollgepackt soll es sein, das Leben, mit lustvoller Intensität und intensiver Lust wechselwirkend zwischen den zwei Lebenssäulen (Werten) des Ekstatischen, Gefährlichen, bejahend Hingebenden und des Abmessenden, Gestaltenden, die "fröhliche Wissenschaft" Betreibenden. Was sei nun das Ergebnis dieser Wechselwirkung, deren höchster Ausdruck, die höchste Moral, die höchste Erkenntnis, die "Wahrheit"? Eben: Die Kunst. Künstlerisches Leben, lebendige Kunst.

Ist zu lau. Eher: Ästhetisches Leben. Leben als Gesamtkunstwerk.





KLMO. 
Eine sehr schöne kompakte Zusammenfassung.
Über die Sklavenmoral bzw. die daraus resultierende Immoral Nietzsches braucht man nicht viel zu referieren. Nietzsche: "Es gibt gar keine moralischen Phänomene, sondern nur eine moralische Auslegung von Phänomenen..." (Die Natur kennt keine Moral, nur der Mensch, der sie definiert und auslegt.)

Nietzsche stellt, und dies berechtigt, alles in Frage, er ist ein Zerstörer, er bricht die alten morbiden Gemäuer bis zu ihren Fundamenten nieder. Und hier beginnt die Stunde des Übermenschen, der versucht, auf diesen alten Fundamenten ein neues Gebäude zu errichten.

Vom Grundtenor her habe ich Nietzsche sehr gut verstanden, besonders auch was das Christentum anbelangt. Was machte ein Peter Abaelard, der in einem Kloster verstarb, anderes, indem er in seiner Schrift "Sic et Non" (Ja und Nein) 158 Widersprüche der Kirchenväter zusammenfasste und diesen 1800 Zitate von Streitfragen hinzufügte. Die Verurteilung durch das Konzil zu Sens erwog ihn, den Ländern der Christenheit den Rücken zu kehren und zu den Heiden zu gehen, um dort in Ruhe und Frieden unter den Feinden Christi christlich zu leben! Nietzsche setzt doch nur bei Abaelard nach 800 Jahren wieder an, nur radikaler, konsequenter.

Die Gottesfrage und das Christentum muss bei Nietzsche differenziert werden, deren Unterscheidung Christen oft nicht gelingt. "Wir haben Ihn getötet" heißt nichts anderes, dass menschliche Bilder zerstört werden, da sie letztendlich in die Irre und in einen Götzendienst führen. (Siehe erstes Gebot – klassisches Beispiel, wenn auch hier Nietzsche von den "Umkehrungen aller Werte im Christentum" spricht.)

In einem Punkt bin ich mir nicht sicher: ob man bei Nietzsche von einem reinen Atheisten sprechen kann, womöglich will er auch hier nur alte Fundamente zerstören. Auch hier ist Nietzsche nachvollziehbar. Seine Intentionen gehen eher hin zu einem Deismus, der allerdings mit dem Christentum nichts mehr zu tun hat.

Man lese nur seine Verse:

Noch einmal, eh' ich weiterziehe
Und meine Blicke vorwärts sende,
Heb' ich vereinsamt meine Hände
Zu Dir empor, zu dem ich fliehe,
Dem ich in tiefster Herzenstiefe
Altäre feierlich geweiht,
Daß allezeit
Mich Deine Stimme wieder riefe.

Darauf erglüht tief eingeschrieben
Das Wort: Dem unbekannten Gotte.
Sein bin ich, ob ich in der Frevler Rotte
Auch bis zur Stunde bin geblieben:
Sein bin ich – und ich fühl' die Schlingen,
Die mich im Kampf darniederziehn
Und, mag ich fliehn,
Mich doch zu seinem Dienste zwingen.

Ich will dich kennen, Unbekannter,
Du tief in meine Seele Greifender,
Mein Leben wie ein Sturm Durchschweifender,
Du Unfaßbarer, mir Verwandter!
Ich will Dich kennen, selbst Dir dienen.





Aljoscha der Idiot. 
@ ray / KLMO: "Ich sage nur ein Wort: Vielen Dank!" (Hrubesch). :)

Der dominierend ästhetische Zug von Nietzsches Denken enthält ja den anti-ideologischen Duktus auch rücksichtslos in der Form: Wille zum System = Mangel an Rechtschaffenheit. Der Dorn in der Seite der Nietzsche-Ablehner ist ja nicht nur, daß er allen Schmock wegtritt mit dem Ruf, die alten Lebenskrücken seien ohnehin marod. Es ist auch die Schwierigkeit, dem interdisziplinären Seiltanz Nietzsches überhaupt zu folgen: die Form seiner Experimentalphilosophie selbst ist künstlerisch. Von ihm "logische" Stringenz zu erwarten bedeutet doch schon, nicht nachzuvollziehen, wie er neben Moralkritik und Religionskritik auch Rationalitätskritik betreibt, Kritik an der rationalen Vernunftanmaßung. Kunst / Kultur / Kultivieren / Selbstkultivierung als lebensdienliche Alternative zur "Wahrheit": DIE Wahrheit als absoluten Maßstab der Erkenntnisse gibt es nicht. Der Intellekt ist Erzeuger von Illusion. Wahrheit ist eine Lüge, die interessehalber von einer Allgemeinheit aufrechterhalten wird. Für Nietzsche ist "Wahrheit" ein bewegliches Heer von Metaphern, bestenfalls kann er "die" Wahrheit als die Illusion fassen, von der man vorsätzlich vergessen hat, daß sie eine ist. Wirklichkeit wird sprachlich konstituiert, in der Konstitution findet jene Produktivität statt, die Nietzsche ästhetisch nennt.

Leben, gelingendes Leben, ist ein Erfolg der Kunst. Von diesem Gedanken hat Nietzsche niemals gelassen. Produktivität am Grunde aller Wirklichkeit: Nietzsche siedelt das Künstlerische auf denkbar elementarer Stufe an, wenn er schon mentale Prozesse als künstlerische Leistung faßt. Die Wirklichkeit selbst wird so zum Gesamtkunstwerk, als Konglomerat erzeugter Bedeutungen. Es gibt keine Wirklichkeit außer der, die wir uns mittels kognitiv-produktivem Enthusiasmus erschaffen. Aber das ist nur der Ausgangspunkt: der Übermensch ist ja eben der, der den durchschauten Konstruktionen eigene entgegensetzt.

Der zugleich gelassene und ausgelassene Immoralismus, der sich bei Nietzsche im Lauf seines Schreibens als Ideal ausprägt, ist immer vor dem Grundgedanken Nietzsches zu sehen: das größte Kunstwerk ist eine Welt, die sich aushalten läßt. Und der in dieser Hinsicht "Starke", weil Schöpferische, Selbstbestimmte, Freie, ist nicht ohne moral sense, im Gegenteil: im "Werde, was du bist" ist von Anfang an ein praktischer Vektor, ein fließender Übergang von Ästhetik zu Ethik. Was Nietzsche ablehnt, ist das aggressiv organisierte Ressentiment, das ein schlechtes Gewissen andreht, die Moral als Vampirismus.

Und, ja, unschätzbar der Gedanke, einen fundamentalästhetischen Grundtrieb aufzulösen in zwei sich gegenseitig herausfordernde Komplementärtriebe, deren Wechselspiel an allem teilhat. Immer ist Sichhin- und drangeben und Sichbewahren zugleich - nur selten zu gleichen Teilen. :)





Edda Sörensen.
An ray / Aljoscha:

Der Aufenthalt auf Sardinien ist Euch anscheinend wirklich bestens bekommen, um nun mit solch wunderbar zu lesenden, wahrhaftigen Gedanken zu Nietzsches Intentionen das Forum zu bereichern. Deshalb trage ich es Euch nicht nach, dass Ihr mit dem Hubschrauber nach Rom und dort Firstclass weiter auf die McCoy-Islands geflogen seid, das Geld der Vatikanbank abgehoben und eine Yacht gechartert habt, mit der Ihr nun mit Euren Ladys eine Kreuzfahrt rund um die Jungferninseln macht. Eine wunderbare Zeit voll brillianter Gedankengänge wünscht Euch
Edda