LES
YEUX SANS VISAGE / EYES WITHOUT A FACE (Frankreich 1960, Georges Franju)
beginnt mit einer nächtlichen Autofahrt auf einsamer Landstraße. Am Steuer
eines 2CV sitzt Louise (Alida Valli), mit schwarzbehandschuhter Hand den
Rückspiegel verstellend und kontrollierend, was auf der Rückbank sitzt: eine in
sich zusammengesunkene Gestalt, das Gesicht unter einem großen Hut verborgen.
Auf dem Soundtrack ist ein derangierter Walzer zu hören. Louise hält an und
schleppt die Gestalt aus dem Wagen. Es ist eine junge Frau, deren Körper nur
mit einem Trenchcoat bedeckt ist. Louise wirft ein totes Mädchen in die Seine.
Während der Autofahrt haben wir Louise kurz aus der Perspektive der Gestalt auf
dem Rücksitz gesehen; aus toten Augen also.
Und
wer ist Louise? Assistentin und Gespielin eines Arztes, Professor Génessier,
der in der Nähe seiner Villa eine eigene Klinik führt. Eine Frau, deren
Ausstrahlung sich zu gleichen Teilen aus kühler Grausamkeit und einer sinister
glühenden Erregung zusammensetzt. Alida Valli eben.
Professor
Génessier (Pierre Brasseur) hält einen Vortrag über die Möglichkeit, lebendes
Gewebe zu transplantieren. Das dabei auftretende Problem der biologischen
Kompatibilität, erklärt er, sei womöglich zu lösen mit modifizierenden Maßnahmen
an dem Organismus, der fremde Gewebeteile empfangen soll. Eine Methode sei das
Strahlenbombardement der Antikörper, die das transplantierte Gewebe abstoßen.
Doch könne der Patient die dafür erforderliche Strahlenbelastung kaum
überleben. Daher, so Génessier, praktiziere man Exsanguination. Das heißt, der den Strahlen ausgesetzte Patient
wird blutentleert bis auf den letzten Tropfen.
Harter
Stoff, der jedoch betagteren Damen Mut macht, die Génessier nach seinem Vortrag
herzlich zu danken wünschen für die wunderbare Zukunft, die er ihnen und der Menschheit
eröffne. Génessier erwidert kalt: was die Zukunft angeht, könne er nicht so
lange warten. Eine wiederkehrende Angewohnheit Génessiers: sich bereits
abzuwenden, während er noch spricht. Dieser Mann scheint angewidert von der
Welt. Er ist gebrochen und genial, bleischwer bedrückt und brandgefährlich. Seine Stimme ist eine Grabesstimme. Ihn
interessieren nur noch zwei Menschen. Einer davon ist Louise. Er hat sich
verändert seit dem Verschwinden seiner Tochter, bemerken zwei Zuhörer seines
Vortrags. Soviel ist sicher: dieser Mann hat sich mit Schaurigem beschäftigt. Ein
Anruf zitiert ihn ins Leichenschauhaus.
Dort
unterhält sich Dr. Lherminier mit Inspektor Parot, Abteilung Vermißte Personen.
Man rekapituliert: als Dr. Génessiers Tochter aus der Klinik verschwand, war
ihr Gesicht eine einzige Wunde. Man hat ein junges Mädchen im Wasser gefunden,
nur mit einem Trenchcoat bekleidet, ohne Gesichtshaut, offenbar mit jenen
schweren Verbrennungen und Entstellungen, die Génessiers Tochter bei einem
Autounfall erlitt, die Augen aber unversehrt. Das scheint zusammenzupassen.
Doch paßt die Beschreibung des Mädchens auch auf eine vermißte junge Frau
namens Simone Tessot. Vorsorglich hat Parot auch ihren Vater herzitiert.
Möglich, daß Génessiers Tochter aus Verzweiflung über ihre Entstellungen
Selbstmord begangen hat, aber warum sollte sie sich zuvor bis auf den
Trenchcoat entkleiden? Seltsam auch, daß die riesige offene Wunde, die ehedem
ein schönes Gesicht war, so geometrisch ist; saubere Ränder, wie mit dem
Skalpell geschnitten.
Dies
ist die Art, die dem Zuschauer von Les
yeux sans visage beibringt, 2 und 2 zusammenzuzählen und sich auszumalen,
mit welch schaurigen Dingen sich
Génessier beschäftigt.
Génessier
erscheint in der Morgue. Man führt
ihn zu der Leiche des an diesem Morgen in der Seine gefundenen Mädchens. Er bestätigt,
die Tote sei Christiane - seine Tochter. Im selben Augenblick wird mitgeteilt,
Monsieur Tessot sei hier. Lherminier gibt die Anweisung, man könne Tessot
sagen, das Mädchen sei identifiziert, es handele sich nicht um Simone.
Dies
war eine Frage von Sekunden, Génessier weiß es, und wir ahnen es. Um so
unbehaglicher die Indifferenz, mit der Génessier Tessot begegnet, als er diesen
vor dem Eingang der Morgue antrifft.
Tessot ist verzweifelt; vor zehn Tagen habe man Simone zuletzt gesehen, etwas
müsse ihr doch zugestoßen sein. Tessot hört von Génessier nur: Seltsam, daß ich Sie trösten soll, da für Sie noch
Hoffnung bleibt. Nach nur wenigen Minuten des Films ist Génessier bereits
atemberaubend unheimlich: die mit virtuoser Ökonomie verabreichten Informationen
(das im Fluß versenkte Mädchen, Génessiers Vortrag über
Hautgewebe-Transplantation, das gehäutete Gesicht der gefundenen Mädchenleiche)
lassen ahnen, daß Génessier mit skrupelloser Gefühlskälte die Rollen tauscht.
Tessot nimmt Génessiers abweisende Schroffheit als die Trance der Trauer eines
Mannes, der seine Tochter verloren hat, blickt ihm beinahe mitleidsvoll nach,
und wir, die Zuschauer, haben jeden Grund zu glauben, daß hier der Mörder den
Vater des Mädchens, das er auf dem Gewissen hat, in der Dunkelheit stehen läßt.
Schnitt:
Paris. Nähe der Sorbonne. Zwei junge Mädchen, Studentinnen. Der derangierte
Walzer setzt ein, der sich als Leitmotiv für einen Todesengel entpuppt: das
Intro für die schöne Stalkerin
Louise, die ihre Opfer in die Falle lockt. Als eines der Mädchen ihren Freund
trifft, folgt Louise dem Mädchen, das allein bleibt.
Bei
der Beerdigung des Mädchens, das als Christiane Génessier begraben wird,
unterhalten sich zwei Männer über den Professor: hat vor vier Jahren seine Frau
verloren und nun seine Tochter, was nützen da Erfolg und Ruhm? Krähen krächzen,
neblig das Land. Der Friedhof liegt abgelegen. Zu den Schlägen einer Glocke
kondoliert man drei Personen: neben Génessier stehen Jacques, ein junger
Doktor, Génessiers Assistent und Verlobter Christianes; sowie Louise, von der
einer der beiden Männer sagt, man nenne sie Génessiers "Sekretärin".
Eine Fremde im übrigen. Alida Valli eben.
Jacques
verabschiedet sich. Génessier und Louise bleiben bei der Gruft der Génessiers
zurück. Louise, aufgewühlt, fleht Génessier an, ebenfalls zu gehen. Génessier
erklärt, daß er die Dinge ordnungsgemäß getan haben will. Er nimmt den großen
Blumenkranz mit der Schleife, auf der steht A
ma fille bien aimee (Meiner geliebten Tochter) und betritt die Gruft.
Louise, im glänzend schwarzen Lackledermantel, folgt ihm hinein, Tränen glänzen
in ihren Augen; sie bittet Génessier noch einmal, daß sie gehen mögen, sie
ertrage es nicht mehr. Génessier ohrfeigt sie und befiehlt ihr, zu schweigen.
Allein durch das schimmernde Licht des Wahnsinns in den Augen der dem Professor
hörigen Alida Valli, allein durch ihr Zerrissensein zwischen Angst und
bedingungsloser Ergebenheit, ist vollends klar: das in die Gruft gelegte
Mädchen ist nicht Christiane.
Génessier
und Louise fahren zurück in ihr Reich, vorbei am Klinikgebäude, vorbei am
Schild, das Patienten und Besuchern den Zugang zur Nähe der Villa untersagt.
Louise steigt aus dem Wagen und begibt sich ins Haus, Génessier fährt den Wagen
vor seine Garage. Als er die Garagentür öffnet, ist das Bellen und Jaulen von
offenbar sehr vielen und sehr aufgebrachten Hunden zu hören. Wie das Geheul von
Kreaturen am Eingang in die Unterwelt.
Die
Garage hat einen direkten Zugang zur Villa. Génessier steigt langsam die
Treppen empor. Vor der letzten Tür ganz oben bleibt er stehen und horcht. Musik
erklingt. Scheinbar munter, heiter, und doch wie derangierter Mozart. Im Zimmer
befindet sich ein Vogelkäfig. Zarte, gefangene Kreaturen. Auf einer Récamière
liegt eine junge Frau, das Gesicht in den Kissen verborgen. Im Zimmer befindet
sich jetzt auch Génessier, der die Musik aus dem Radio abstellt. Auf dem
Nachttisch ein Papier, das Génessier in die Hand nimmt. Barsch fragt er das
Mädchen, wo sie dies Papier gefunden habe, das Herumstöbern gefalle ihm nicht.
Das Papier ist die Todesanzeige für Christiane Génessier. Das Mädchen, das die
Todesanzeige gefunden hat, ist Christiane Génessier.
Génessier
fragt, was sie denn phantasiere, wenn sie ihren Namen schwarz umrandet sehe.
Christiane antwortet, sie brauche nichts zu phantasieren. Sie sehe den
Schrecken, sie lebe den Schrecken. Sie fragt ihren Vater: was hast du nun
wieder getan; ein Augenblick, in dem ihre Stimme scharf und verzweifelt klingt.
Ihr Gesicht bleibt abgewandt.
Génessier
sagt: Ich tat, was ich tun mußte. Alles, was ich tue, tue ich für dich. Er
sagt: Das Mädchen ist an den Folgen der Operation gestorben. Ich habe das
Wagnis auf mich genommen, sie für dich auszugeben. Wenn die Leute dich für tot
halten, werden sie keine Fragen stellen. Sie werden nicht versuchen,
herauszufinden, was hier vorgeht. Génessier beugt sich über seine Tochter,
berüht ihr Haar, ihren Arm. Das Mädchen hebt plötzlich und rasch den Kopf. Noch
immer sehen wir nur ihr Haar. Génessier hält ihren Kopf fest und sagt:
Christiane... deine Maske! Er sagt: Du mußt es dir zur Gewohnheit machen, sie
zu tragen.
Wieder
birgt Christiane ihr Gesicht in das Kissen. Sie beginnt zu weinen. Gewohnheit, wiederholt sie. Ein Wort
nur, und die ganze Verzweiflung Christianes ist deutlich; ihre Vertrautheit mit
der Hoffnungslosigkeit, der Vergeblichkeit, dem Wunsch zu sterben. Génessier
streichelt seine Tochter tröstend und bittet sie, nicht mehr zu weinen. Er
werde Erfolg haben. Sie sagt, sie glaube nicht mehr daran. Sie liegt auf dem Bett
wie ein junges Mädchen mit Liebeskummer. Aber Christiane weiß, sie wird nie
mehr Liebeskummer haben, wird nie mehr einen Menschen lieben, hassen,
verwünschen oder herbeisehnen können, sie wird nie mehr unter Menschen sein.
Christiane Génessier hat kein Gesicht mehr.
Louise
erscheint im Zimmer. Zufall oder kein Zufall, daß Génessier im selben
Augenblick seine verzweifelte Zärtlichkeit gegen patriarchalische Strenge
eintauscht: Christiane habe keinen Grund, an ihm zu zweifeln. Er sei ein Mann
von hervorragenden Eigenschaften, oder nicht? Christiane werde wieder ein
Gesicht haben, er gebe sein Wort. Langsam wendet er sich ab und verläßt das
Zimmer.
Christiane
sagt: Man erlaube ihr keine Spiegel, aber sie könne ihre Erscheinung im
Fensterglas sehen. Und es gebe andere glänzende Oberflächen... Messerklingen,
lackiertes Holz... ihre Stimme ist ein gehetztes Wispern jetzt. Ihr eigenes
Gesicht jage ihr Schrecken ein; ihre Maske erschrecke sie noch mehr.
Louise
sagt zu Christiane: Haben Sie Vertrauen. Sehen Sie mich an. War er nicht bei
mir erfolgreich? Die Szene läßt das Blut gefrieren: Alida Vallis strenge,
glühende Schönheit ist zustandegekommen unter einem blitzenden Skalpell.
Christiane: Sie aber hatten noch ein Gesicht; verwüstet vielleicht, aber nicht
zerstört wie meines. Er lügt mich an, weil er weiß, daß es seine Schuld ist.
Louise: Es war ein Unglück, ein
Autounfall.
Christiane
und Louise blicken sich an. Louise blickt ohne Schrecken in das Gesicht, das
wir immer noch nicht sehen, anteilnehmend, mitempfindend.
Christiane: Er muß alles dominieren, immer,
sogar auf der Straße. Er ist gefahren wie ein Dämon, wie ein Wahnsinniger. Ich
wollte sterben nach dem Unfall - warum hat er mich am Leben gehalten? Ich
möchte blind sein... oder tot.
Wieder
beginnt sie zu weinen. Louise nimmt Christianes Kopf in ihre Hände, tröstet
sie, hilft ihr, sich aufzurichten - und legt ihr die Maske an.
Und
so sehen wir Christiane: die großen, traurigen, verzweifelten Augen hinter der
unheimlichen weißen Maske.
Louise
kämmt Christianes Haar. Christiane blickt Louise an mit Augen, die zu lesen
versuchen. Die zu fragen scheinen: warum das alles noch. Warum tust du dies,
was gibt es noch, das du mir sagen kannst. Augen, die hinter den
ausgeschnittenen Löchern der Maske ein so einsames Leben führen, als blickten
sie schon aus einem Jenseits durch zwei Löcher in der Mauer des Todes. Aber –
und man kann es nicht beschreiben, man muß es gesehen haben – auch das Mädchen,
das Christiane einmal gewesen ist, lebt noch in diesen Augen, und es lebt –
dies die unfaßbare Leistung der Schauspielerin Edith Scob – nur in diesen Augen. Die zusehen, wie
Louise den Raum verläßt, Augen voller Schrecken, aber zugleich endlos weit
entfernt von allem, was sie sehen.
Christiane erhebt sich, mit der Maske wirkt sie wie eine lebendig gewordene,
traurige Schaufensterpuppe, ihre Zerbrechlichkeit noch gesteigert durch den weiten
Kragen an ihrem hellglänzenden Engelsmantel. Sie geht zu einer Kommode, auf der
ein Bilderrahmen steht - Jacques, ihr Verlobter. Nur durch die Bewegung, mit
der Christiane sich davon wieder abwendet, erraten wir ihr Innerstes. Die
herzzerreißende Einsamkeit des Mädchens wird illustriert durch die Musik auf
dem Soundtrack, die an ein Karussell aus Kindertagen denken läßt. Christiane
lauscht vorsichtig an ihrer Zimmertür, huscht dann hinaus, schleicht die Treppe
hinab. Sie öffnet die Tür zum Arbeitszimmer. Sie berührt etwas an der Wand; ein
geschwärzter Spiegel. Sie nimmt den Telefonhörer ab und wählt eine Nummer. Die
Stimme eines Mannes: Hallo? Wer ist da? Antworten Sie doch! Christianes Augen
blicken sehnsüchtig in weite Ferne, während sie der Stimme lauscht; dem Mann,
den sie verloren hat für immer, einen Moment lang nah. Jacques legt auf.
Christiane weiß, daß es so sein muß. Mit hoffnungslosem Schmerz blickt sie sich
im Zimmer um. Ein Gemälde an der Wand zeigt ein junges, bezaubernd schönes,
anmutiges Mädchen mit einer weißen Taube auf dem ausgestreckten Arm. Wohin Christiane
sich auch wendet, ihr kann nur noch begegnen, was unwiederbringlich verloren
ist für sie.
Paris.
Eine lange Menschenschlange vor einem Theater. Am Ende der Schlange das
Mädchen, das Louise beobachtet hat. Dann der entstellte Walzer. Dann Louise. Im
Hintergrund ein Plakat: Victimes du Devoir,
Ionesco.
Louise
gewinnt das Vertrauen des Mädchens, von dem sie weiß, daß es eine Unterkunft
sucht. Edna Gruber ist ein Mädchen aus der Schweiz, weit weg von zuhause. Bald
treffen sie sich in einem Café. Louise sagt, sie habe es kaum abwarten können, die
gute Neuigkeit zu überbringen: sie habe für Edna eine Bleibe gefunden. Der
Garcon fragt, was die Dame wünsche. Louise sagt: La même chose pour Mademoiselle. In der Tat. Edna erwartet dasselbe
wie Simone Tessot.
So
fährt Louise mit ihrem 2CV den langen Weg zur Villa Génessiers, und Ednas
Unbehagen wächst mit jedem Kilometer. Als sie das Haus erreichen, bellen die
Hunde ihr Höllenhundbellen. Edna fragt, was auch wir uns fragen: wie viele sind das? Die Begegnung mit Génessier
entnervt Edna vollends. Im Innersten bereits zu Tode erschrocken, gibt sie vor,
der Weg hierher sei ihr zu lang. Beide Seiten wahren Höflichkeit, die eine
lauernd, die andere einen Ausweg suchend. Génessier gießt ein Glas mit Wein
ein, den Edna bereits abgelehnt hat – und überfällt sie dann urplötzlich, das
schreiende Mädchen mit Chloroform betäubend.
Génessier
und Louise tragen das Mädchen ihrem Schicksal entgegen. Christiane sieht von
der Treppe aus zu und folgt den beiden heimlich. Erneut ist das enervierende
Gebell der noch unsichtbaren Hunde zu hören. Edna wird zunächst in die Garage
getragen und dann durch eine geheime Tür, hinter der Génessiers chamber of horrors liegt. Christiane
wartet in der Garage. Als Génessier und Louise wieder erscheinen, erklärt der
Doktor, er werde nach dem Abendessen mit der Arbeit beginnen. Dieses Mal müsse
er es mit einem größeren Transplantat versuchen, das er als Ganzes ablösen
wolle.
Die
Rede ist von Haut. Von der makellosen Haut einer jungen Frau.
Als
die beiden die Garage verlassen haben, schleicht Christiane durch die offen
gelassene Tür in das düstere Sanctum Sanctorum, die Arme gestreckt, die Hände leicht gespreizt -
wie eine schwebende Sylphide.
Sie öffnet eine weitere Tür. Da
sind die Operationstische, das kalte Labor des mad scientist. Das Hundegebell ist lauter geworden. Auf einem der
Tische liegt die bewußtlose Edna, der Génessier die Gesichtshaut abzulösen im
Begriff steht. Christiane tritt zu ihr. Wir sehen ihr Gesicht nicht, doch wir
sehen, was sie fühlt. Sie dringt tiefer in das Dunkel, öffnet eine letzte Tür
und macht Licht: da sind die Hunde, vielleicht ein Dutzend, einzeln eingesperrt
in Käfige. Das infernalische Bellen verebbt, als Christiane wortlos mit den
Tieren kommuniziert. Sie streichelt einen großen Hund, der sich aufgerichtet
hat, legt ihren Kopf an seinen, streichelt und beruhigt auch einige der
anderen Hunde - verlorene Kreaturen unter sich.
Christiane
geht zurück in das Labor, macht auch hier Licht, nimmt vor einem kleinen
Spiegel ihre Maske ab, doch ihr Gesicht ist noch nicht zu sehen. Sie geht an
den Operationstisch, auf dem Edna festgezurrt ist. Mit ihren schönen, schlanken
Händen tastet sie das Gesicht des Mädchens ab. Edna erwacht aus ihrem
Chloroformrausch, blinzelt, und mit Ednas vernebelten Augen sehen wir jetzt zum
ersten Mal das entstellte Gesicht Christianes - vielmehr, wir sehen leuchtende
Augen in einer dunklen Masse. Ednas Augen fallen zu, doch als ihr Hirn
begriffen hat, was sie da sah, reißt sie die Augen wieder auf und schreit;
jetzt sehen wir Christianes Gesicht deutlicher, die Augen in dem hautlosen
Gesicht. Christiane weicht langsam zurück. Die Hunde bellen.
Dann
wartet Les yeux sans visage mit
Szenen auf, die bis dahin medizinischen Ausbildungsfilmen oder
Greueldokumentationen vorbehalten waren. Génessier und Louise in weißen
Kitteln: sie ist ihm behilflich beim Anlegen des Mundschutzes, er spannt seine
Chirurgenhandschuhe aus Plastik. Génessier zeichnet mit schwarzem Stift auf dem
Gesicht des bewußtlosen Mädchens die Linie, an der er die Gesichtshaut abzutrennen
intendiert. Vom Nachbartisch ist das noch in der Betäubung angstvolle Seufzen
Christianes zu hören, ihr Gesicht ist mit einem Tuch abgedeckt. Dann reicht
Louise ihrem Gebieter das Skalpell.
Génessier
schneidet an seiner Vorgabe entlang. Blut tritt aus, voluminöse Tropfen rinnen
an Ednas Hals herab. Louise tupft zunächst das Blut, dann den Schweiß von
Génessiers Stirn ab. Dann werden die Linien um Ednas Augen gezeichnet. Auch
dort trennt das Skalpell Edna von ihrem Aussehen. Das Geklapper der chirurgischen
Instrumente ist zu hören, Schnitt für Schnitt leidenschaftlos dokumentarischer
Blick, Zange für Zange wird festgeklickt an den Schnitträndern. Nur das schwere
Atmen Génessiers und das Geräusch, wenn Louise ihm ein Instrument aus kaltem
Metall in seine plastikumhüllte Hand klatscht, sind zu hören; ansonsten
peinigen die Minuten mit Stille: "(...) an almost believable surgical
accuracy that is nauseating" (Frank 1974, 108). Die Gesichtshaut des Mädchens beginnt sich auf ihrem Kopf zu bewegen. Und dann heben
Génessier und Louise an den Klammern das Antlitz ab, das Christianes werden
soll. Kurz ist darunter das nackte Fleisch zu sehen, dann - Schnitt.
Hellichter
Tag, Génessier: Hat sie gegessen? – Louise: Ja, sie hat gut gegessen. Sie
verging. Dieses Mal ist sie glücklich. Dieses Mal hat sie Vertrauen. – Génessier: Endlich. – Louise: Ich zeigte ihr, wie gut alles
verheilt. Es wirkt vollkommen. So viel besser als gestern. - Génessier: Ich habe Angst. – Louise: Nein. Auch ich glaube, dieses
Mal. – Génessier: Ich kann nur
hoffen. Könnte ich es wirklich erreichen... Gott, es wäre nicht mit Gold
aufzuwiegen. Ich habe so oft Unrecht getan, daß ich dieses Wunder vollbringen
muß. Ich habe auch dir Unrecht getan. – Louise:
Ich weiß. Doch ich werde niemals vergessen, daß ich dir mein Gesicht verdanke.
– Génessier: Ich vergesse es
zuweilen.
Mit
schier unmenschlichem Kraftaufwand zischt Génessier all seine Worte hervor, steinern geworden vor innerer Anspannung.
Louise: Mit Recht vergißt du es. So wenig
ist nur noch zu sehen.
Louise
hebt ihre fünfreihige Perlenkette, die sie um den Hals trägt; eine Narbe wird
sichtbar. Génessier küßt ihr beschwichtigend die Hand, die er damit zugleich
von der noch sichtbaren Spur wegzieht.
Louise
fragt, was mit Edna geschehen soll. Génessier antwortet: bring ihr etwas zu
essen, ich werde es dich später wissen lassen. Bei seinen letzten Worten wendet
sich Génessier schon wieder ab - letztlich unfähig, wie es auf Englisch heißen
würde, to face someone. Übersetzt: jemandem ins Gesicht sehen. Génessier
gibt der Wendung to face someone eine
zweite Bedeutung: jemanden mit einem
Gesicht versehen. Er, der seiner Tochter ein Gesicht zu verschaffen sucht,
kann kein Gesicht ertragen.
Blick
durch das kleine Fenster einer Tür, hinter der Edna auf einer Pritsche liegt,
den Kopf bandagiert. Sie hört einen beunruhigenden, unidentifizierbaren Krach;
nur ihre Augen sind durch den Schlitz der Bandagen zu sehen. Sie birgt den Kopf
wie zuvor Christiane. Louise tritt ein. Wortlos wäscht sie sich die Hände. Den Krach
hat der metallische Wagen verursacht, auf dem Louise das Essen bringt. Das
Mädchen regt sich nicht. Louise tritt an den Wagen. Plötzlich richtet Edna sich
auf und schlägt Louise eine Flasche auf den Kopf. Sie flieht in die Garage,
will das Tor von innen öffnen, hört aber draußen Génessiers Wagen. Sie läuft
zurück ins Haus, alle Treppen empor, Génessier folgt ihr. Edna ist in einem
Zimmer verschwunden. Génessier hört einen Schrei. Edna hat sich aus dem Fenster
gestürzt. Ihre toten Augen blicken blicklos aus dem Bandagenschlitz.
In
tiefer Nacht sind Génessier und Louise zum Friedhof gefahren. Während Louise
entsetzt Wache hält, öffnet Génessier die Gruft, dann das Grab, das langsam zum
Massengrab wird: Edna Gruber wird von Génessier in die Grube geworfen.
Auf
der Polizeiwache erinnert sich Ednas Freundin an das Perlencollier, das die
mysteriöse Frau, die ihnen gefolgt war, wie einen Schal um den Hals trug.
Inspektor Parot und sein junger Kollege halten fest: eine Reihe von Mädchen,
auf mysteriöse Weise verschwunden. Alle Studentinnen. Blaue Augen, dasselbe
Alter, derselbe Typ. Der Kollege hat auch ein Mädchen mit blauen Augen am Tisch
sitzen. Unbedeutender Ladendiebstahl. Französische Ermittler können jungen
Schönheiten milde begegnen. Parot sagt: laß sie gehen, aber schreib dir ihre
Adresse auf.
Génessier,
Louise und Christiane beim Abendessen.
Génessier: Ich war meines Erfolges gewiß. Und
du hast an mir gezweifelt. Jetzt hast du dein wunderschönes Gesicht.
Wir
sehen es, Christianes wunderschönes Gesicht. Schön, fragil und traurig. Als
könne sie nicht lächeln. Diese Szenen, in
denen Christiane ein Gesicht hat, sind, bei aller Faszination, die von
diesem Antlitz ausgeht, die surrealsten
des ganzen Films.
Génessier: Dein wahres Gesicht.
Die
großen Augen schillern zwischen Unbehagen und tödlicher Melancholie. Christiane
nickt, zögernd, wie gegen ihren Willen. Die großen Augen schillern zwischen dem
vergeblichen Versuch, zu vertrauen, und unterdrücktem Horror.
Génessier: Du kannst wieder beginnen zu leben.
– Christiane: Aber wie können wir den
anderen erklären, daß ich noch lebe? – Génessier:
Zuerst wirst du eine lange Reise machen. Ich werde dir Papiere besorgen. Du
kannst dir einen neuen Namen aussuchen. Das wird aufregend. Ein neues Gesicht;
eine neue Identität.
Als
Louise das Wort an Christiane richtet, wendet sich Christiane rehscheu zu ihr,
erschütternd in ihrer zerbrechlichen Schönheit.
Louise: Sie sind schöner denn je. Etwas
Engelgleiches ist um Sie.
Christianes
Antwort gibt dem namenlosen Horror einen Namen. Sie sagt: Wenn ich in einen
Spiegel blicke, scheint es mir, als würde ich jemanden sehen... der aussieht
wie ich, und der zurückkehrt aus weiter, weiter Ferne.
Wenn
Christiane in einen Spiegel blickt, blickt sie in das Reich der Toten. Aus dieser
weiten Ferne kommt ein Mädchen zurück, um stumm Christianes Antlitz zu
beanspruchen.
Christiane: Und Jacques? – Génessier:
Jacques? Gewiß, das ist
natürlich ein Problem... ich werde es ihm erklären. Lächle doch.
Christiane
sieht ihren Vater an mit Wehmut in den Augen und Bitterkeit auf den Lippen. Ihre Seele kennt kein Lächeln mehr. Sie versucht es dennoch, sich überwindend, die Augen
schreien tausend Fragen.
Génessier: Nicht zu sehr.
Sofort
verfliegt Christianes Lächeln und wandelt sich in Schrecken. Tausend Fragen
wandeln sich zu einer: Warum?
Génessier
macht nur eine Geste mit den Händen. Das Telefon hat geklingelt. Génessier
wird zu einem Notfall gerufen. Er küßt Christiane auf die Stirn. Er scheint
etwas an ihrem Gesicht zu entdecken. Er hebt sie an den Schultern aus ihrem
Stuhl, um sie genauer betrachten zu können, streicht ihr das Haar aus der
Stirn.
Wir
müssen nichts sehen, um aus dem kurzen Moment des Glücks, den wir bei allem
Greuel, bei allem Metzeln und Morden, bei aller Monstrosität Génessiers mit
Christiane zu teilen wünschten, in neuerlichen Schrecken gestürzt zu werden. Wir
wissen, daß die Hoffnung vergeblich war. Wir hatten vergessen, daß Christiane
es von Anfang an wußte.
Génessier: Du benutzt kein Make-up, hoffe
ich? – Christiane: Nein, warum? – Génessier: Nichts. Du bist schön, das
ist alles.
Aber
er scheint schwer besorgt. Auch Louise hat es gemerkt. Im Dunkel des Gartens
fragt sie ihn nach der Wahrheit. Sie weiß, daß er lügt. Sie habe gelernt, in
seinem Gesicht zu lesen. (Es sagt viel über ihre Beziehung zu Génessier, daß
sie in einem völlig unbewegten Gesicht zu lesen weiß).
Mit
tonloser Stimme gibt er zu: Es ist mißglückt.
Wir
nehmen Abschied von Christianes porzellanschönem Antlitz. 20. Februar: Eine
Woche nach der Heilung erscheinen kleine verfärbte Flächen. Eine niederschmetternd
nüchterne Reihe von Großaufnahmen dokumentiert den Verlauf der von Génessier in
voice-over beschriebenen Zerstörung
von Christianes Gesicht. Nach ein paar Tagen: beim Abtasten werden subkutane
Knötchen fühlbar. 12. Tag: Absterben des übertragenen Gewebes evident. 20. Tag:
Geschwürbildungen; Entzündungen; Anzeichen der Abstoßung des Transplantats. Das
tote transplantierte Gewebe muß entfernt werden.
Louise
betritt Christianes Zimmer, die weiße Maske in der Hand. Christiane liegt stumm
verzweifelt auf dem Boden, erneut ihr Gesicht verbergend.
Génessier
steht vor einem auf dem Operationstisch festgeschnallten Hund und betrachtet
ein an dessen Flanke transplantiertes Fellstück. Bei jedem Hund, so sagt er zu
sich selbst, gelinge es. Doch er komme einfach nicht über das Bestialische
hinaus.
Christiane
schleicht in der Nacht zum Telefon. Jacques' Reaktion läßt erkennen, daß dies
zum wiederholten Mal geschieht: er bittet die Person am anderen Ende, endlich
zu sprechen. "Jacques..." haucht Christiane mit einer Jenseitsstimme,
die ihm das Mark gefrieren läßt. "Jacques..." Er blickt ungläubig den
Hörer an. Er den Anruf einer Toten erhalten.
Aber
vielleicht hört er noch die Stimme von Louise am anderen Ende:
"Christiane!" - Louise nimmt ihr den Hörer aus der Hand und legt auf.
Louise: Christiane, sind Sie wahnsinnig
geworden? Wen haben Sie angerufen? – Christiane:
Niemanden.
Jeder
ist niemand für eine, die selbst niemand mehr ist.
Christiane: Ich weiß, die Toten sollten
schweigen. Dann will ich aber auch wirklich tot sein. Ich ertrage es nicht
mehr... Angst vor meinem eigenen Gesicht zu haben... Angst davor, es zu
berühren...
Die
Lippen der Maske bewegen sich nicht, wenn Christiane spricht. Das ist
unheimlich. Dann rollen Tränen über die Maske. Das ist herzzerreißend. Louise
nimmt Christiane verzweifelt in den Arm und versucht erneut, sie an Génessiers
Erfolg glauben zu machen.
Christiane: Sie lügen! Er experimentiert mit
mir, als wäre ich einer seiner Hunde. Ein menschliches Versuchsobjekt. Welch
Gottgeschenk für ihn.
Christiane
will sterben. Sie wispert Louise den heißen Wunsch ins Ohr, eine von den
Injektionen zu erhalten, mit denen Génessier sich seiner Hunde entledigt, wenn
etwas schiefgegangen ist. Dann sinkt sie ohnmächtig zu Boden.
Jacques
erklärt dem Inspektor: es war Christianes Stimme, er sei sicher. Als der
zunächst ungläubige Inspektor zufällig auf den Hinweis zu sprechen kommt, der
das auffällige Perlencollier betrifft, läutet bei Jacques eine Glocke.
Die
Trägerin der Perlenkette steckt sich derweil in ihrem 2CV entschlossen eine
Zigarette zwischen die Lippen, in der Nähe der Sorbonne Studentinnen
beobachtend.
Französische
Ermittler sind nicht mehr so gönnerhaft weiblicher Schönheit gegenüber, wenn
sie beim Ladendiebstahl erwischte Mädchen für ihre Zwecke einsetzen können. Dem
Mädchen, Paulette Mérodon, wird erklärt, was sie tun muß, um
Gerichtsverhandlung und Gefängnis zu umgehen: ihre Haare blondieren und sich
mit vorgetäuschten Kopfschmerzen in Génessiers Klinik begeben. Jacques ist
eingeweiht.
Am
nächsten Morgen visitieren Génessier und Jacques das Krankenbett der jungen
Paulette. Génessier stutzt nicht so sehr wegen des entzückenden Nachthemds, das sie trägt.
Er ordnet eine Untersuchung der Augen und ein Elektroenzephalogramm an.
"Un
eléctro... encéphalogramme..." wiederholt Paulette, als sie allein ist.
Génessier hat bereits beschlossen, daß Paulette nicht mehr allzu viel Zeit
bleiben soll, um neue Worte zu lernen.
Im
nächsten Zimmer wartet ein kleiner Junge in seinem Bett auf Génessier und
Jacques. Génessier erscheint warmherzig, als er den Jungen zu beruhigen sucht.
Génessier will von dem Jungen wissen, wie viele Finger er hochhalte. Es sind
vier, die der Doktor nicht allzu weit entfernt in die Höhe hält. Der Junge
blickt angestrengt: "Drei." - "Und jetzt, wie viele?" (Es
sind 3).
"Drei.
Nein... zwei!"
Sehr
langsam wechselt Doktor Génessier darauf seine Brille. Der Junge wagt ein scheues
Lächeln zu seiner Maman.
Die
Maman fragt den Doktor nach seiner Meinung. Mit Grabesstimme erklärt Génessier,
er habe sehr viel Hoffnung. Ob er dem Jungen helfen könne? Auf die Worte, die
er immer hört, sagt er die Worte, die er immer sagt: Gewiß. Vertrauen Sie mir.
Auf
dem Korridor fragt Jacques ihn nach seiner Prognose. Génessier fragt zurück:
was ist Ihre? Dabei blickt er Jacques nur kurz an, und ohne eine Antwort
abzuwarten, sagt er, sich zum Gehen wendend: Wir stimmen überein.
Die
schöne Paulette folgt mit Elektroden am Kopf den Anweisungen der Schwester:
Augen schließen... Augen öffnen... Génessier betritt den Untersuchungsraum, wirft
einen Blick auf die Aufzeichnungen der Nadel und einen merklich
interessierteren Blick auf Paulettes Gesicht.
In
seinem Zimmer trifft er Jacques. Keine Anzeichen, daß dieser Paulette Mérodon
etwas fehlt, raunt er. Auch das Elektroenzephalogramm ergibt nichts. Er weist die
Schwester an, Paulette Mérodon noch am selben Abend zu entlassen. So werde ein
Bett frei. Für eventuelle Notfälle.
Paulette
tätigt, bevor sie die Klinik verläßt, an der Rezeption einen Anruf bei ihrer
Mutter und fragt die Nachtschwester, wie man nach Paris zurückkomme. Die
Bushaltestelle sei eine Viertelstunde entfernt, antwortet die Schwester. Doch
gerade als Paulette einen langen Gang durch dunkle Nacht beginnt, ertönt das
verdrehte Walzermotiv. Und kurz darauf steigt Paulette zu Louise in den 2CV.
Jacques
informiert Inspektor Parot darüber, daß Paulette die Klinik verlassen hat.
Parot will überprüfen, ob Paulette sicher zu Hause angelangt ist.
Paulette
ist auf Génessiers Operationstisch angelangt, und da sie bewußtlos ist, spürt sie
nicht, wie der Doktor eine schwarze Linie auf ihr Gesicht zeichnet. Und wir
wissen nicht, was ihm die Gewißheit gibt, daß dieser Versuch gelingen wird. Wir
wissen aber mittlerweile, daß Génessier diese Gewißheit hat.
Louise
unterbricht die Vorbereitungen. Zwei Männer würden ihn in der Klinik erwarten.
Das Mädchen mit dem markierten Gesicht bleibt angeschnallt zurück. Die Kamera
schwenkt: in der Ecke sitzt Christiane mit ihrer Maske, denen nachblickend, die
nicht das Wort an sie gerichtet haben.
Inspektor
Parot ist mit seinem jungen Kollegen erschienen, um zu prüfen, ob Paulette
Mérodon an diesem Abend die Klinik verlassen habe.
Génessier: Woher wissen Sie, daß sie heute entlassen werden sollte? – Parot: Sie hat ihre Mutter angerufen, um
zu sagen, daß sie zurückkommt. Aber sie kam nicht zurück.
Génessier
gibt die Frage, ob Paulette die Klinik verlassen hat, an die Nachtschwester
weiter.
Génessier: Sie interessieren sich also für
diese junge Dame? – Parot: Ja. Sie
ist in einen Fall verwickelt, und wir wollten heute mit ihr reden. – Génessier: Ich fürchte, da kommen Sie
ein wenig zu spät.
Die
Schwester findet das Entlassungspapier und erinnert sich an Paulette. Parot und
sein Kollege entschuldigen sich für die Störung. Jacques verläßt mit ihnen
zusammen das Gebäude. Auch er entschuldigt sich bei den Ermittlern. Die beiden
sind voller Verständnis. Parot sagt, sie seien es gewohnt, falschen Spuren
nachzugehen. Und überhaupt verstehe Parot, was in Jacques vorgehen muß. Immer noch ein verständnisvolles Wort wird gesucht,
und die Szene dehnt sich derart in die Länge, daß wir für Paulette schon das
Schlimmste befürchten.
Endlich
zurück zu Paulette. Sie atmet schwer, schluckt, erwacht. Festgeschnallt.
Verfällt in Panik, bricht in Tränen aus. Christiane sieht ihr zu und schüttelt
langsam den Kopf. Sie erhebt sich und geht langsam auf Paulette zu. Jetzt erst
erblickt Paulette Christiane mit ihrer Maske. Christiane nimmt ein Skalpell,
was Paulette aufschreien läßt; aber Christiane schneidet die Gurte durch, die
Paulette fesseln.
Da
erscheint Louise. Schweigend erhebt Christiane das Skalpell. Louise sagt: Legen
Sie das hin. Von hinter der Maske ertönt ein gedämpftes "Non." Im nächsten Augenblick steckt
das Skalpell zwischen den Perlenreihen des Colliers, das Louise trägt. Dort, wo
die Narbe war. The old wound fever.
"Pourquoi?" haucht Louise, das
Skalpell im Hals, Tränen treten ihr in die Augen, die ungläubig und fast
mitleidig blicken, dann sackt sie an der Wand zusammen - der dunkle Engel des
Todes vom hellen Engel des Todes getötet.
Paulette
ergreift die Flucht. Christiane wendet sich stumm ab. Auch zwischen ihnen ist
kein Wort gefallen. Christiane existiert außerhalb von allem.
Sie
geht zu denen, mit denen sie etwas gemeinsam hat. Sie läßt die Hunde aus den
Käfigen frei. Bellend jagen die Tiere davon. In die Richtung, in der es auch
für sie noch etwas zu tun gibt. Während Christiane auch die weißen Tauben aus
ihrem Käfig befreit, wird Génessier von seinen eigenen Hunden zerfleischt, sein Gesicht entstellt.
Eine
Taube ist auf Christianes Schulter geflogen. Sie trägt sie auf ihrer Hand ins
Freie. Mit märchenhafter Grazie, wie auf dem Gemälde. Christiane wandert hinaus
in die Nacht, in der nur sie ist, sie und die weißen Tauben, die um sie herum
schweben. Eine Szene von purer Magie, der Film erreicht mythische Qualität mit
diesem Bild wie aus einem dunklen Märchen.
"The
French news magazine L'Express noted
the audience 'dropped like flies' during the heterografting scene." (wikipedia) Die Aufführung von Les yeux sans visage beim Edinburgh Film
Festival 1960 führte zu sieben Ohnmachtsanfällen. Die Filmkritikerin Isabel
Quigly schrieb in The Spectator, Eyes Without A Face sei "the
sickest film", der ihr je untergekommen sei. Das Horrorgenre war ein
verrufenes Genre, und Les yeux sans
visage war ein verrufener Film, der ein traumatisiertes Publikum hinterließ.
Allein, was Pierre Brasseur, Alida Valli und - vor
allem, weil nahezu den ganzen Film hindurch ohne Mimik, nur durch die Augen und die Sprache ihres Körpers -
Edith Scob in diesen Film veranstalten, erreichen andere
Schauspieler im Leben nicht, selbst wenn sie King Lear oder Medea spielen.
Edith
Scobs feinfühlige Fragilität und Alida Vallis dunkel glimmende Hingabe sind
die Pole, zwischen denen die Grausamkeit des von Schuld zerfressenen mad scientist als Akt perverser
Zärtlichkeit oszilliert. Génessier sucht Erlösung von seiner Schuld. Nur
deshalb, nicht für sich, erduldet Christiane, die schon weit jenseits aller
Tränen ist, seine Versuche, sie in ein Leben zurückzureißen, in dem es noch
Tränen gibt, ein Lächeln indes nicht mehr.
Génessier,
verantwortlich dafür, daß seine Tochter aus der Form des Menschlichen gerissen
ist, lädt im manischen Versuch, seine Schuld zu tilgen, immer neue Schuld auf
sich; für die Erlösung tötet er. Er scheitert immer fataler, je mehr er sich
weigert, sein Scheitern hinzunehmen. Dieser scientist
ist mad, weil er sich nicht mehr
dafür interessiert, wieviel Schuld in seiner Sühne steckt. Mit diabolischem
Ingrimm sucht er Verwüstung von Schönheit zu beheben, indem er andere Schönheit
verwüstet, und Leben zurückzugeben, indem er anderes Leben vernichtet.
Génessier selbst besteht aus unsichtbaren Masken: seine Schroffheit der Welt
gegenüber maskiert Indifferenz, seine Indifferenz maskiert Obsession, seine
Obsession maskiert Zärtlichkeit, seine Zärtlichkeit maskiert Grausamkeit.
Christiane
erlebt mit dem Verlust ihrer Gesichtszüge den Verlust ihrer Identität. Als sie post-operativ
für kurze Zeit in engelhafter Schönheit leuchtet, ist es die Schönheit einer
Fremden für sie; mehr noch: sie muß das unfaßbare Gefühl durchstehen, mit der
Schönheit einer Toten zu leben. Dann ist sie dem Horror der erneuten
Desintegration ausgesetzt. Sie, die ihrer humanen Form beraubt ist, fühlt die
inneren Grenzen des "Menschlichen": von Anfang an ungläubig, hoffnungslos
und widerwillig, rebelliert sie schließlich dagegen, daß ihr Vater gegen das
Unabänderliche aufbegehrt, und befreit, bevor sie sich ein- für allemal entzieht,
die anderen Opfer der grausamen Experimente ihres Vaters. Sie selbst war schon
immer jenseits der Erlösung.
Sie
ist von Anfang an das Opfer ihres Vaters: vor dem Unfall offenbar ebensosehr
wie nach dem Unfall. Génessier exerziert seine Obsessionen an seiner Tochter
aus, ohne mit ihr zu kommunizieren. Franju "grabbed medical ethics by the
horns" (Clarens 1971, 224); gewiß insofern, als er den Arzt, den
klassischen Philanthropen, als Misanthropen zeigt, der für sein Ziel über
Leichen geht. Medizin findet sich nicht ab:
damit beginnt sowohl ihre Fähigkeit zur Heilung als auch ihr Sadismus. Der mad scientist ist die Extremform des
Sich-Nicht-Abfindens, die zu extremen Mitteln greift. Verstörend erinnert Augen ohne Gesicht daran, daß
medizinischer Fortschritt stets
einhergeht mit exploitation.
Aber
es geht nicht nur um medizinische
Ethik. Die Obsession Génessiers ist privat. Anders als bei Frankenstein ist Génessiers
Auflehnung gegen das "Schicksal" nicht durch universale Gegebenheiten
motiviert. Génessiers Hybris wird virulent in dem Augenblick, da er erkennt,
daß "Schicksal" ein Deckname für Schuld, für individuelle
Verantwortung sein kann.
Der
Film ist ein Gewebe aus Poesie und klinischer Kälte. Das
Horrorpotential der Szenen im Operationsraum liegt in der peinlichen
Genauigkeit, mit der die Kamera einen enervierend real wirkenden Vorgang zu
übertragen scheint. Auch hier Repulsion und Faszination zu gleichen Teilen;
während man sich vor Widerwillen im Sessel windet, wünscht man dem Operateur
wenigstens eine ruhige Hand.
Alida Valli
als Louise nimmt für Clarens "the bodeful presence of one of Cocteau's
(...) messengers of death" (Clarens 1971, 225) an. Ein unheilverkündender, weiblicher stalker in den Straßen von Paris.
Zwischen Cocteau (Christiane weht durch das Haus ihres Vaters in Szenen von
traumhafter Schönheit, die, wie auch die Schlußszene mit den weißen Tauben, an La Belle et la Bête erinnern) und Pulp wird Les
yeux sans visage angesiedelt. Augen ohne Gesicht ist getaucht in
Ambivalenz: eine Atmosphäre von grausamer Zärtlichkeit, eine Mischung aus
Intimität und Indifferenz, aus heißen Tränen und Erbarmungslosigkeit, aus Empathie und messerscharfer Kälte, aus
Sehnsucht nach Schönheit und Destruktion von Schönheit, aus Traum und Albtraum;
das Ineinander von Humanismus und Sadismus; Distanziertheit, die Abgründe
menschlicher Verzweiflung fühlbar macht; ein Zugleich von klinischer Hyperrealität
und märchenhafter Poesie; ein Realismus des Surrealen.
Ein Film,
dem Hogan "unexpected sentiment" und "a melancholy beauty"
(Hogan 1997, 66) zuschreibt und der anderen als "One of the most
horrifying films of the genre" (Frank 1974, 108) gilt, als atemlos
machende "alliance of poetry and terror" (Clarens 1971, 225). Les
yeux sans visage
ist ebenso einflußreich gewesen wie einzigartig geblieben.
Franjus
Film hat, als er die Entfernung eines
weiblichen Gesichts zeigt, bereits so viel Ergriffenheit und innere
Beteiligung am Schicksal Christianes erregt, daß der einerseits durch die kaum
erträgliche Deutlichkeit, mit der das Abtrennen der Haut gezeigt (und zu Gehör gebracht) wird, demoralisierte Zuschauer andererseits
auch nahezu ent-moralisiert hofft,
was auch chinesische Artisten sich vor den Auftritten wünschen: möge die Übung gelingen. Überdies transzendiert
die Szene auch den bloßen Schockeffekt: man hat im Zusammenhang mit Les yeux sans visage von the poetry of gore gesprochen.
Als
er den Film drehte, erinnerte sich Franju, lautete die Vorgabe: keine
Blasphemien, wegen des spanischen Marktes; keine Nacktheit, wegen des
italienischen Marktes; kein Blut, wegen des französischen Marktes; keine
Grausamkeit zu Tieren, wegen des englischen Marktes. "Und da sollte ich
einen Horrorfilm drehen!"
Es
ist ihm gelungen.
Literatur:
Carlos Clarens:
Horror Movies, London 1971 (first published as "An Illustrated History of
the Horror Film", New York 1967)
Alan G.
Frank: Horror Movies, London 1974
David J. Hogan:
Dark Romance. Sexuality in the Horror Film, Jefferson 1997 (Reprint der
Erstausgabe 1986)