Montag, 20. August 2018

Mascha Rabben in "Welt am Draht"





























































SPIEGEL ONLINE Forum

15.02.2010


ray05:
Nur sieben Filme hat Mascha Rabben bis 1974 gemacht, u. a. den irrsinnig stilisierten Western Deadlock von Roland Klick und Werner Schroeters Salomé nach O. Wilde. In der recht berühmten Sequenz "Siskins' Party" in Welt am Draht sieht man Schroeter und Magdalena Montezuma als elektronische Impulse teilnahmslos an der Poolbar und Ivan Desny wird von "oben" einfach abgeschaltet und verschwindet spur- und gedächtnislos, als Löwitsch nur mal kurz von Christine Kaufmann abgelenkt wird. Welt am Draht ist freilich ein Kammerspiel, weil Fassbinder eben aus allem ein Kammerspiel machte und in einer Szene fragt Löwitsch: Wie werde ich abgeschaltet? und Mascha Rabben antwortet: Du wirst erschossen, morgen vormittag. Ich liebe Dich. - Warum sage ich das? Keine Ahnung, fiel mir gerade ein.







Vielleicht, weil Du Deine "Welt am Draht"-Erinnerung auch gerade bei YT neugeladen und wie ich gedacht hast: oh, Mascha Rabben. Oh, verdammt nochmal, Mascha Rabben. 





















(erstveröffentlicht / first published 16.09.2013)

















Sonntag, 19. August 2018

Welt am Draht






Sagen Sie, planen Sie nicht vielleicht einen Spaziergang über den Münchener Ostfriedhof? Könnten Sie ein Blume auf das Grab von Barbara Valentin legen? Ich wäre Ihnen schrecklich verbunden, ganz schrecklich. Eine für den Löwitsch noch? Danke, ja, unbedingt. So machen Sie es.


































(erstveröffentlicht / first published 10.09.2013)

















Donnerstag, 12. Juli 2018

Žižek / Kafka - Phantasmatic Support






 
 
 
SPIEGEL ONLINE Forum 

"Das literarische Orchester - spielen Sie mit!" 

November 2011
 
 
 
 
 
Jörn Bünning:
 
"Illusion" klingt im Deutschen stets nach Betrug und Täuschung, die sogleich mit einer gehörigen Portion "Realität" bestraft gehört. Wenn gutmeinende Freunde auf meine "Illusionen" zu sprechen kommen, dann doch stets mit dem Rat, sich davon unverzüglich zu befreien und mutig den ungeschminkten Tatsachen ins Auge zu blicken. Wen wundert's, dass Hauptmann trotz seines Plädoyers für den Angeklagten "Illusion" letztlich auf verminderte Schuldfähigkeit setzt: als versöhnender Ehestifter zerstrittener Eheleute. Doch hat die Illusion den Vorwurf der Kuppelei von "Wahrheit" mit "Lüge" verdient? Ist der Kern der Illusion tatsächlich die Verdauungshilfe zur Wahrheit?

Ein gern verwendeter, doch ebenso auf Abwege führender Begriff ist die "Projektion" (in der Psychonanalyse). Indem er in den anderen hineinschaut, entdeckt der Mensch sich selbst. Doch geht es hier vor allem um Hässlichkeiten, die wir nicht bereit sind, an uns wahrzunehmen, selten um nette Dinge, die uns das Leben verschönern.

Für mein Verständnis gibt es aber noch einen anderen Begriff, der die Tücken der beiden anderen umschifft: die Imagination. Gemeinhin als ein Vermögen verstanden, sich (auch ohne äußere Sinneseindrücke) Bilder aus dem Inneren abzurufen, beinhaltet diese Fähigkeit noch viel mehr, nämlich das Hineinsehenkönnen von Inhalten in die Wahrnehmung, Dinge zu ergänzen, die sich objektiv nicht feststellen lassen, durch die sich aber ihre Bedeutung für den Betrachter erst erschließt. Dabei geht es um etwas, das uns in den "Raumabgründen des Weltalls" jede Menge Wärme spendet, wenn wir auch bisweilen unter der imaginierten Hitze zu leiden haben, sobald die Dinge uns hässlich erscheinen.
 
 
 
 
 
Die Krähen behaupten / Christian Erdmann:
 
Sehr schön. Die Allmacht der Imagination gliedert auch den Raum der Erfahrung permanent. Das ist mehr als "Hineinsehenkönnen", das geschieht immer. Interessant ist doch, warum Menschen so allergisch auf die Information reagieren, daß sie immer mit einem "phantasmatic support" unterwegs sind, wie der verrückte Žižek das mal nannte. 
 
 
 
 
 
Jörn Bünning: 
 
Die Krähen werden den Himmel schon nicht zerstören
 
Nun, diese Krähenschrift ist mir doch seltsam vertraut, auch Slavoj Žižek ist mir kein ganz Unbekannter, selbst wenn ich seine Texte 2-3mal und mit großer Aufmerksamkeit und Vorsicht lese, vor allem, wenn er sich auch noch auf Lacan bezieht.

Aber es stimmt schon: Ohne den "phantasmatic support" funktioniert keine Erotik. Imagination ist der Schlüssel zur Wahrnehmung, der Weg zu den Empfindungen und damit zur inneren Wahrheit. Wie auch bei guter Musik, z.B. "A Secret Wish".
;)
 
 
 
 
 
Die Krähen behaupten / Christian Erdmann:

"Die Welt, die uns etwas angeht, ist falsch, d.h. ist kein Tatbestand, sondern eine Ausdichtung und Rundung über einer mageren Summe von Beobachtungen." - Nietzsche. Daß es kein Erfahrungsmaterial ohne "Ausdichtung und Rundung" gibt, meinte vermutlich auch Kant, als er das "Ding an sich" in die Tonne warf.
Guter Musikgeschmack, Herr Bünning. :)
 
 
 
 
 
Jörn Bünning: 
 
"Kein Erfahrungsmaterial ohne Ausdichtung und Rundung" ist gut gesagt - es gibt ja noch nicht einmal ein Begreifen ohne Interpretation, die eigentlich nur aus Imagination besteht. Darüber hatte sich Kant mit dem Philosophen David Hume seinerzeit gestritten: Der schottische Rationalist betonte das Primat der Wahrnehmung für alle geistigen Vorgänge im Menschen. Demgegenüber beschrieb Kant das (apriorische) Vorhandensein geistiger Erkenntnisstrukturen, die nicht aus der Wahrnehmung ableitbar sind, diese aber moderieren.

Dazu nur zwei kleine Beispiele:
Auch Hume musste letztlich einräumen, dass Kausalitäten sich nicht direkt beobachten lassen. Sie werden vielmehr bei einer Ereignisabfolge intuitiv "imaginiert", sofern die Ereignisse in ausreichend enger räumlicher und zeitlicher Abfolge auftreten.

Ein anderes Beispiel ist die Imagination von Bewegungen:
Zwei benachbarte Lämpchen blinken abwechselnd - das Licht "springt" dann scheinbar zwischen beiden hin und her. Dieser Eindruck ist so zwingend, dass er sich auch gegen besseres Wissen durchsetzt.

Doch hat auch Hume, vom Standpunkt der Evolution betrachtet, nicht unrecht. Die Kant'schen "Presets" unserer menschlichen Wahrnehmung sind schließlich selbst das Ergebnis einer langen Schulung des Lebens auf diesem Planeten und es hat lange gedauert, bis die Bedeutung ansatzweise in die Wahrnehmung hineingefunden hat.

Ohne Imagination wäre jede Wahrnehmung ohne Verstehen, Schönheit würde es nicht geben, Musik eine komplexe Folge von Geräuschen, was wohl schade wäre, allein schon wegen Mark Lanegan. ;)
 
 
 
 
 
Die Krähen behaupten / Christian Erdmann:

Zwei Facetten:
Erstens, die erkenntnistheoretische, das Paradox, daß unser Wahrnehmungsapparat uns
Weltbeschaffenheit vermittelt, die wir aber nicht objektiv beschreiben können, weil wir eben den Wahrnehmungsapparat haben, den wir haben. Nur ein verschwindend kleiner Teil der Wirklichkeit passiert die Pforte unserer Sinne. Unsere Wahrnehmungsorgane funktionieren, indem sie vorhandene Information reduzieren. Gerade weil wir so avanciert sind, wissen wir, daß nur ein naiver Realismus noch meint, daß die Dinge so sind, wie wir sie wahrnehmen. Die Auffassung von Wahrnehmung als einer Registration des "Gegebenen" ist überholt. "If the doors of perception were cleansed every thing would appear to man as it is, infinite." Sie sind aber nicht cleansed, und "infinite" ist auch nur ein Wort: auch Sprache als Organisator der Wirklichkeit beeinflußt unsere Wahrnehmung.

Zweitens, "phantasmatic support", der produktive Anteil der Einbildungskraft an der Wahrnehmung, der Anteil der Imagination und der Projektion an der Schönheit; an allem. Am Beispiel der Büste der Nofretete hat mal jemand dargestellt, wie der Vorstellung von Schönheit ein umfassender Prozeß des Ausschließens zugrundelag, wie ihr Antlitz aus dem Chaos (der Natur) herausgemeißelt ist. Ein Prozeß, der folgerichtig fortsetzt, daß Beobachtung ohnehin Auswahl ist, und in dem die Reduktion wiederum mit dem eigenen kreativen Überschuß versetzt wird.

Žižek hatte ja ein kurioses Beispiel für "phantasmatic support" - italienische Männer, die es angeblich lieben, wenn ihnen die Frau beim Sex Obszönitäten ins Ohr flüstert, bevorzugt über das, was sie mit einem anderen Mann getan hat. Apart from that, ist dies einfach von Anfang an die Art und Weise, wie wir unsere Lebenswelt gestalten. In der Wahrnehmung verleihen wir. Sehen heißt Hineinsehen. Wir agieren eh von Anfang an so, als gebe es keine uninterpretierbaren Tatsachen, wir reichern jedes Erleben mit unserer Phantasie an, schießen durch imaginäre Ordnungen, ersetzen Mythen durch Mythen.

Lese gerade die Kafka-Biographie von Peter-André Alt. Erster Satz: "Franz Kafkas Wirklichkeit war ein weitläufiger Raum der Einbildungskraft." Gemeint ist tatsächlich, daß Kafka bewußt den Raum der Erfahrung wie eine Traumlandschaft gliedert, daß er etwa seine Furcht vor dem Vater durchaus obsessiv kultiviert, weil sie zu dem Selbstbild gehört, das Bedingung seiner schriftstellerischen Existenz ist, daß ihm sein Schreiben selbst die Erfahrungswelt in einen Raum verwandelt, in dem Phantasie und Realität nicht mehr getrennt werden können. Im "großen Schachspiel" des Lebens, erklärt Kafka, sei er "der Bauer des Bauern, also eine Figur, die es nicht gibt". Bei aller realen Furcht und Einsamkeit, die er erfahren haben mag, spürt er früh, daß er die Erfahrungslandschaft seines Alltags in Zonen verwandeln muß, wo er die Kunst der Beobachtung unbefangen praktizieren kann, und sie gegen die ihn umgebende Gemeinschaft verteidigen muß. Bin noch nicht weit mit dem Buch, aber so etwa der Tenor der ersten Kapitel, der letztlich auch eine Weise des "phantasmatic support" beschreibt.
 
 
 
 
 
Jörn Bünning: 

Vorsicht!
Ich hoffe, Du weißt, worauf der sich einlässt, der seine Dämonen füttert und seine Wirklichkeit gegen eine soziale Umgebung verteidigt. Kafka war psychisch isoliert und so fruchtbar dieser Boden für seine künstlerische Gestaltung war, so furchtbar litt er zugleich unter den Dämonen seines phantasmatic support, stets in Gefahr die Kontrolle über den letzten Bauern vollends zu verlieren.

Einen Großteil ihrer Zeit ver(sch)wendet die menschliche Spezies dazu, sich einer gemeinsamen - "der richtigen" - Realität zu versichern, ihren phantasmatic support nach Kräften zu domestizieren, eine gewaltige kulturelle Leistung, die aber selbst größeren und sog. "aufgeklärten" Gesellschaften nur zeitweise und unter größten Mühen gelingt. Die großen Massenhysterien der Zeit singen uns periodisch Strophen über die Vergeblichkeit all dieser Bemühungen.

Und die Sprache, die sich anbietet als ein Geländer vor den inneren Abgründen und als betretbare Brücke zum Gegenüber, wird selbst zu einer trügerischen Spur in den Nebel und ehe wir uns versehen, stehen wir mitten im grausamen Grau, ängstlich aneinander geklammert, doch ohne einen Halt.

Folge Deinem Instinkt wie ein Käfer auf dem Tellerrand, der unendliche Welten bezwingt, indem er die Angst vergisst, wo er sie lebt.
 
 
 
 
 
Die Krähen behaupten / Christian Erdmann:

Vorsicht! Ich hoffe, Du weißt, worauf der sich einlässt, der seine Dämonen füttert (...)

Absolut.

Wie bedrückend die Gewißheit gewesen sein muß, daß nichts im Leben ihm selbstverständlich war. Worauf Alt, meinem ersten Verständnis nach, hinauswill: natürlich scheint der Vater die personifizierte Selbstgefälligkeit im Lehnstuhl gewesen zu sein, ein Alltagsdespot, der unmißverständliche Handlungsmaximen, geronnene Lebensweisheiten und banale Gemeinplätze verkündete, aber Alt sieht trotzdem die Frage, ob der Vater tatsächlich dem hier entworfenen Bild objektiv entsprach, oder ob Kafka das Modell einer archetypischen Autorität als unumkehrbares Grundmuster von Fremdheit und Bedrohlichkeit auch beizubehalten bzw. noch zu verstärken suchte, für jenen abweichenden Selbstentwurf, der sich im Schreiben verwirklichte.

Man weiß wohl von Ottla, Kafkas Lieblingsschwester, daß sie dem Vater gegenüber einen offeneren Trotz zeigte; anderer Umgang mit dieser Figur also theoretisch möglich war. Seine Schwestern liebten Kafka, Brod scheint ein wunderbarer Freund gewesen zu sein (der, so interpretiert Alt, auch Kafkas letzten Wunsch richtig verstanden hat), Kafka konnte ein glänzender Unterhalter sein usf. Insgesamt also Ausloten der Möglichkeit, daß Kafka die Zone der Isolation, die Du beschreibst, sehr bewußt bewohnte und behauptete; all seine Kräfte in sie zusammenzog, Kräfte, die er immer als sehr bemessen ansah. Daß er, trivial gesagt, nicht nur ein "angenehmeres" Leben der Kunst opferte, sondern daß er den phantasmatic support bewußt zur Verdunkelung seiner Umgebung benutzte; um in den Schatten bleiben zu können, die ihm Hellsicht gewährten.

Was Kafka beim Schreiben anstrebte, würden Neumodiker wohl als "flow" bezeichnen; das glückende Schreiben als ununterbrochener Strom (die 8 Stunden von "Das Urteil"). Du kennst die Tagebucheinträge, die, wenn das nicht gelang und er abbrach, z.T. nur aus zwei Worten bestehen: "Nichts, nichts." Wenn man ahnt, worin Kafka Glück empfand, ahnt man auch, welche Verzweiflung in diesen zwei Worten liegt. Vielleicht eine stärkere als jene, die von den Dämonen ausging? Wage ich nicht zu beurteilen.
 
 
 
 
 
ray05:

[...] "Nichts, nichts." Wenn man ahnt, worin Kafka Glück empfand, ahnt man auch, welche Verzweiflung in diesen zwei Worten liegt. Vielleicht eine stärkere als jene, die von den Dämonen ausging? Wage ich nicht zu beurteilen.

Nun, wenn ich mir den Künstler vorstelle als jemand, der sich alles, was ihm widerfährt, zunutze macht - egal, ob das Widerfahrene "eingebildet" ist oder nicht -, dann vermute ich, dass er jene Teile, die ihm den größten Nutzen für seine Arbeit versprechen, dementsprechend kultiviert, auch wenn's wehtut und die Verzweiflung mit am Tisch sitzt wie so ein Farmer aus dem Mittelwesten mit zugekniffenen Augen, Strohhut und angelegter Schrotflinte. :) Denke dennoch, dass dieses "Nichts, nichts" der größtmögliche Verzweiflungssatz ist, denn was kann schlimmer sein als das Eingeständnis vor sich selbst, nichts [mehr] zum Sprechen bringen zu können, sich nichts [mehr] zunutze machen zu können. 
 
 
 
 
 
KLMO: 
 
Bei Kafka spielte natürlich seine angeschlagene Konstitution eine Rolle. Kafka suchte am Anfang auch das Abenteuer, das Leben im Extrem, den Weg nach oben. Stattdessen überall unüberbrückbare Hindernisse, verbunden mit einer schon früh angeschlagenen Gesundheit. Beispiel: Meldet sich als Kriegsfreiwilliger, Vater interveniert - um dann noch einmal wegen Dienstuntauglichkeit abgelehnt zu werden. (Man beachte seine TB). Schon hier liegt der Schlüssel für sein introvertiertes Leben. Als Metapher: Den Berg auf herkömmliche Art zu besteigen, bleibt ihm verwehrt.

Gezwungenermaßen verharrt Kafka in der Ebene, aber er besitzt die Fähigkeit, den Berg zu durchschauen.
 
 
 
 
 
Die Krähen behaupten / Christian Erdmann:
 
... verharrt Kafka in der Ebene, aber er besitzt die Fähigkeit, den Berg zu durchschauen.

Klasse, der Satz.


Denke dennoch, dass dieses "Nichts, nichts" der größtmögliche Verzweiflungssatz ist, [...]

Wahrscheinlich eben: ja. Diese Fabrik im Zizkov-Bezirk, für die Kafka 1911/1912 Teilhaberschaft übernimmt, heftiger Streit mit dem Vater, der ihm Vorwürfe macht wegen seines geringen Einsatzes für das Unternehmen; Kafkas Verzweiflung ist so groß, daß er "Eine Stunde dann auf dem Kanapee über Aus-dem-Fenster-springen" nachdenkt. Herbst 1912, als die literarische Arbeit gut voranschreitet, erneut Selbstmordgedanken, weil er die Fabrik regelmäßig besuchen muß. Seine Erklärung, warum er den Sprung aus dem Fenster nicht gewagt hat, färbt größtmögliche Verzweiflung mit der angesichts größtmöglicher Verzweiflung größtmöglichen Ironie: weil "das am Lebenbleiben mein Schreiben (...) weniger unterbricht als der Tod."











(erstveröffentlicht / first published 17.02.2013)















Donnerstag, 14. Juni 2018

Dienstag, 22. Mai 2018

Barry Lyndon
















SPIEGEL ONLINE Forum

20.03.2007 

Während hier alles brachliegt, breche ich eine Lanze für Stanley Kubricks "Barry Lyndon". Entgegen aller anderslautenden Gerüchte ist der Film nur lang, aber in keiner Sekunde langweilig. Im Zeitalter der screenshots ist es möglich, sich Gainsborough-Bilder an die Wand zu hängen, die nicht von Gainsborough sind, weil sie von Kubrick sind. Schauspieler, von denen man das nicht unbedingt erwartet – Ryan O'Neal, Marisa Berenson – gehen einem plötzlich mit der stillen Intensität an die Nieren, die Kubrick in ihre Gesichter gezaubert hat. Von Nebendarstellern wie Murray Melvin als Reverend Runt mal gar nicht zu reden, der seine geheime Liebe zu Lady Lyndon unter seiner zimperlichen Pietät verbirgt; wenn man Melvin am Spieltisch sieht, wie er der Blicke zwischen Barry und Lady Lyndon gewahr wird, und man Zeuge wird, mit welch minimalen Mitteln er ausdrückt, daß für ihn gerade eine Welt zusammenbricht, möchte man Helmut Berger zustimmen: "Es gibt keine Charlotte Rampling mehr".

Der Film ist ebenso ätzende Satire wie distanziert-zärtliche Annäherung. Man fällt in Szenen hinein, bis die Erzählstimme ironisierende Kontrapunkte setzt. Ein ständiges Wechselbad zwischen tiefer, süßer Romantik (Barry und Lady Lyndon auf dem Balkon) und knallharter Entlarvung von Opportunismus und Oberflächlichkeit.

Bei der Duellszene zwischen Barry Lyndon und Lord Bullingdon nach 2½ Stunden war seinerzeit die Hälfte der Kritiker, die nach "Clockwork Orange" von Kubrick offenbar alles, nur nicht dies, erwartet haben, vermutlich bereits eingeschlafen; mir hingegen stockte der Atem. Über 10 Minuten hinweg. Im Grunde ist "Barry Lyndon" ein Actionfilm par excellence, nur daß der special effect, den Kubrick dabei einsetzt, darin besteht, die "Action" aus Gesichtern hervorscheinen zu lassen, Gesichter entweder von einer dem Zeitalter entsprechenden Maskenhaftigkeit, oder, wie bei Redmonds Barrys Mutter, dem höflichen Highwayman-Räuber und seinem Sohn, oder dem englischen Offizier, den Redmond zu Beginn des Films brüskiert und hernach in einem Duell zu töten vermeint, von einer gnadenlos überzeugenden Authentizität, in jeder Sekunde von Kubrick höflich, aber bestimmt, in die Mitte des 18. Jahrhunderts geleitet.

Händel, Schubert, The Chieftains – nicht nur setzt Kubrick mit dem Einsatz der Musik immer, IMMER, auf unübertreffliche Weise Stimmungen, die Musik gehört so sehr zu diesen Bildern, daß man hinterher Schuberts Klaviertrio (opus 100) nicht mehr hören kann, ohne an Marisa Berensons stummes Leiden zu denken. Dös is faktisch, wie Joseph Roth immer sagte, außer für jene, die bei Schuberts Klaviertrio an Catherine Deneuve in "The Hunger" denken, natürlich.
Unterschätztes Meisterwerk, ganz großes Kino.







Gwynplaine:
Auf jeden Fall! "Barry Lyndon" bewundere ich sehr. Die Duell-Szene ist in der Tat sehr intensiv. Auch der Hass in Bullingdons Augen, als er von seinem Stief-Vater demütigende Prügel bezieht.







Und ich habe noch nicht fertig: das Großartige, Wunderbare ist, daß Kubricks angeblich immer so "kühler" Blick und diese permanente Desillusionierung nicht verhindern, daß man genuine compassion mit diesen Figuren empfinden kann, noch nach 27 Stunden, als Redmond und Lady Lyndon am Bett ihres sterbenden Sohnes sitzen. Kubrick bringt einem, bei aller Kritik an ihnen, diese Figuren näher, als es viele andere "ach so intime" Filme der 70er heute – wenigstens bei mir – vermögen. "Das siebente Siegel" wird immer groß sein, aber "Szenen einer Ehe"? Glaubhaft, gut, wichtig... aber nichts für mich.
 































 
 
21.03.2007

BerSie:
Also bei "Barry Lyndon" möchte ich ergänzen, dass in den Innenräumen mit lichtstarken Objektiven nur bei Kerzenlicht gefilmt wurde! Damals eine Innovation!







Mit Equipment von der NASA! Marisa Berenson hat erzählt, daß bei manchen close-ups die Schauspieler sich keine Handbreit rühren durften, sonst wären sie aus dem Fokus verschwunden.
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 












 
 
10.03.2008

Ich könnte gar nicht aufzählen, wo überall ich, seit Marisa Berenson in "Barry Lyndon", überhaupt nicht mit mir handeln lasse, auf Einwände bezüglich tatsächlicher schauspielerischer Leistung nur verständnislos glotze, im günstigsten Fall die Virtuosität zartester Mundwinkelbewegungen rühme und insgeheim eine Karriere als Minnesänger ins Auge fasse. Kann mich noch gut erinnern, wie mal, als ich 15 war oder so, Wolf von Lojewski den Film "The Jungle Princess" mit Dorothy Lamour ansagte und dabei schwer didaktisch wurde. Als der Film vorbei war, beschloß ich: ich höre dich nicht, Wolf von Lojewski, nie mehr.
 
 





















10.07.2008

"Barry Lyndon"? Marisa Berenson in Kubricks Film ist so verstandraubend, ich krieg' immer so'n Hals wegen diesem Lyndon.
 






















30.05.2009

Sagte ich schon, daß "Barry Lyndon" Brian Enos Lieblingsfilm ist? Wahrscheinlich schon.
Das Leben ist ja auch deshalb oft so unverständlich, weil es Menschen gibt, die sich nicht sofort beim ersten Auftauchen von Lady Lyndon in Spa in sie verlieben. Spätestens als Barry seinen Tabakqualm in ihr Antlitz bläst, weiß man doch alles über den Hund.

















(erstveröffentlicht / first published 06.03.2012)