SPIEGEL ONLINE Forum "Literatur -
Was lohnt es noch, zu lesen?"
10.08.2009
river runner:
Was sagt der Künstler selbst?
Christian Erdmann:
Was soll ich sagen, außer, daß jeder
auch sein eigener Schleusenwärter ist. Ich kann doch nicht entscheiden, wie
jemand liest, was er liest, und warum, ob zur bloßen Zerstreuung, oder um
abtauchen zu können in eine andere Welt als die, die ihn umgibt, und daraus
Kraft und Inspiration zu schöpfen, oder um in Literatur etwas zu finden, das
einem Schubkraft aus Sein in Unwahrhaftigkeit geben kann, oder um einfach
Sprache zu genießen, oder um sich eine vertraute Geschichte neu erzählen zu
lassen, oder um sich eine ungeahnte Geschichte mit vertrauten Worten erzählen
zu lassen, oder um sich den Boden unter den Füßen wegreißen zu lassen, oder um
sich Boden unter die Füße zu schieben, um sich bestätigen zu lassen, um sich
Räume öffnen zu lassen, um einfach nur etwas über Zeiten zu erfahren oder über
Charaktere, um sich erotisieren zu lassen durch das, was möglich ist, um
mitzufühlen oder um amüsiert, mit interesselosem Wohlgefallen die Menschliche
Komödie zu genießen, um Mantras daraus zu ziehen fürs Leben oder sich zu sagen,
all das, all diese verschiedenen Beschreibungen der Condition humaine zusammengenommen,
gehören zur Definition von "Realität", ob man sich auch via Literatur
anfüllt mit dem Chaos, das man nach Nietzsche noch in sich haben muß, um einen
tanzenden Stern gebären zu können, oder ob man gelassen Kunst schlürft, ob man
dazu kommt zu fühlen, daß jemand, der 1871 schrieb, mehr Zeitgenosse sein kann
als die Zeitgenossen, oder ob man über Rilke einen Essay schreiben muß, oder
will, ob man sich was konstruieren lassen will oder lieber was dekonstruieren,
ob man widerlegen will, daß man nach Sade-Lektüre zum Sadisten wird, oder es
beweisen, ob ob ob und noch mehr ob – ich sagte schon, ich bin nur eine
Billionstel Kalorie im Urknallsperma, alles, was ich will, ist, daß hier jeder
weiter in die Manege schmeißt, was er für lesenswert hält, und daß keiner dem
anderem vorschreibt, was er überhaupt für Literatur zu halten habe und wie er
darüber spricht.
KLMO:
Damit hast Du fast alles
gesagt - jeder nach seiner Fasson.
Christian Erdmann:
Gracq, "Witterungen II", bist
Du durch, übrigens? Hatte Dir ja vom Sog erzählt, in den "Das Ufer der
Syrten" einen zieht: ein derartiges
Aufgehen in Wirklichkeit, daß es fast unwirklich ist; wie eine präzis
beobachtende Trance. Habe vor ein paar Tagen gefunden, daß Gracq schon als
Junge von geologischen Karten fasziniert war, die wie ein magischer Schlüssel
auf ihn wirkten. Mit diesem magischen Schlüssel scheint er zu "sehen",
Schichten von Wirklichkeit, die er in Bilder überführt, die zugleich extrem
dicht und extrem klar sind: als hätte die Sprache selbst einen luziden Traum.
Metaphern, die zugleich so präzise und so seltsam sind, daß man ahnt, was Gracq
meinte, als er sagte, er sehe die Welt wie Novalis, es gibt keinen Bruch, nur
"magische Entfaltung, die auf einer tiefinneren Umkehrung der
Aufmerksamkeit beruht".
"Erst sehr viel später wurde mir
wirklich bewußt, daß sie die Gabe besaß, mit einer Landschaft oder mit einem
Objekt sogleich untrennbar eins zu werden. Allein ihre Gegenwart schien den
Dingen die Befreiung zu schenken, die ein geheimer Wunsch erhofft, und sie zu
sinnvollen Attributen zugleich zu erniedrigen und zu erhöhen."
Was der Protagonist Aldo da von dem
Mädchen Vanessa sagt, trifft in gewissem Sinne auch auf Gracqs Sprache zu; man
hat den Eindruck, als kehre seine souveräne Syntax ständig aus sonst
unzugänglichen Bereichen zurück, als wäre er ein schwebendes Auge in einer
Textur der Dinge, für die unsere eigenen Augen verklebt sind.
Sehr sympathisch auch seine Weigerung,
an den Mechanismen des Literaturbetriebs teilzunehmen: "Für mich ist der
Schriftsteller jemand, der schreibt. Ich habe keine Lust, mich vor meine Bücher
ins Schaufenster zu stellen. Wenn das Arroganz ist, dann kann man da nichts
machen."
ray05:
Nun, vielleicht ist ja
Sprache für Gracq genau das, was die "Seele" für Platon war. Sie -
Sprache bzw. Seele - sieht sich am Schönen, Guten, Wahren satt, das der Demiurg
für sie aus der Urmasse herauswerkelt, wandert in den Autor zurück, der sich
während des Schreibprozesses an all das Geschaute seiner Seele erinnert. Mit
Schaudern. - Gefällt mir, das Bild ... :)
11.08.2009
Christian Erdmann:
Gestern nacht gelesen in "Das Ufer
der Syrten", ein Friedhof, der für Aldo zum "unseligen Geist der
Stadt" selbst wird:
"Zu ebener Erde erhielt sich diese
gefräßige Stadt auf dem schwindelnden Gipfel eines Gerüsts aus Verkrüppelten,
aus lebendig zurechtgehobelten Knochen. Sie war und blieb eine hauchdünne
Membran, hochempfindlich, aber gänzlich von einem unerhörten Gewebeschwund
befallen, sie verbrauchte ihren Lebenssaft bis zum letzten Tropfen, um Knochen,
Knochen und Knochen abzusondern und unter der Erde im senkrechten Absturz eines
Alptraums eine beständig wachsende Schicht aus Gebein zu formen, gleich
geologischen Epochen breitete sie ein einziges gigantisches Gerippe aus."
"Im senkrechten Absturz eines
Alptraums" – allein das.
19.03.2010
Achras:
Die Werke Julien Gracqs sind
im Verlag Droschl vor einigen Jahren erschienen. Was darin
"surrealistisch" anmuten soll, ist in Wirklichkeit nur
schwerverdauliches Verfehlen treffenden Ausdrucks für das, was er in Worte zu
fassen versucht... schade eigentlich!
Christian Erdmann:
Phantastisch! Abgesehen davon, daß Du
vor ein paar Jährchen Julien Gracq hier noch als "sehr lesenswert"
erwähnt hast: Du hast irgendeine Form von Being
Julien Gracq hinter Dir und weißt jetzt, was er angeblich "in
Wirklichkeit" in Worte zu fassen "versuchte", dabei aber
regelmäßig den "treffenden" Ausdruck verfehlt hat? Phantastisch,
einfach phantastisch! :)
Achras:
Natürlich gibt es Leser, für die die Lektüre Julien Gracqs eine völlig neue
Leseerfahrung darstellt, daraus folgt jedoch nicht zwangsläufig, daß die
Lektüre der "Witterungen" Gracqs wirklich für jeden Leser einen
Gewinn oder einen Genuß darstellt...
Gern bestätige ich, daß es eine Phase gegeben hat, in der seine Werke mir eine inspirierende Abweichung oder Ablenkung vom
"Literaturkanon" waren. Dennoch sind beträchtliche Teile dieses Lebenwerkes
weder sonderlich erhellend für den "Geist des Surrealismus" in der
Literatur noch erschiene es mir als angemessen, innerhalb des breiten Spektrums
der (möglichen) Literatur überhaupt
etwas als "zeitlos" oder "zwingend" zu rühmen...
Die Welt hat sich verändert, seit Gracq phantasierte...
Christian Erdmann:
Ändert nichts an der Anmaßung dieser
Aussage:
Was darin "surrealistisch" anmuten soll,
ist in Wirklichkeit nur schwerverdauliches Verfehlen treffenden Ausdrucks für
das, was er in Worte zu fassen versucht...
Nochmal: wo hast Du den Codex "Was
Gracq tatsächlich in Worte zu fassen versuchte" gefunden? Wie wäre es,
davon auszugehen, daß Gracq genau so schrieb, wie er schreiben wollte, und
genau beschrieb, was er beschreiben wollte? Es gibt übrigens Menschen, die behaupten,
Kafka wäre mehr Realist als die sogenannten "Realisten". Das könnte
man selbst dann nur sinnvoll bestreiten, wenn man versteht und akzeptiert, wie
es dazu kommt. Gracq ein
"verfehlendes" Phantasieren zuzuschreiben, ist eher Indiz fürs
Gegenteil. Es bräuchte keine Literatur mehr, wenn es einen Kanon des gefälligst
zu Beschreibenden gäbe, den ein Autor
zu erfüllen hat, um nicht eines "Verfehlens" geziehen zu werden. Gar
besser als der Autor wissen zu wollen, was treffender
Ausdruck sei – im übrigen bei einem Stil, der andernorts gerade dafür gerühmt
wird, daß er durch äußerste Prägnanz gekennzeichnet ist –, wirkt auf mich dann
aber doch schon kurios.
"Natürlich" gibt es Leser,
für die die Lektüre Julien Gracqs eine völlig neue Leseerfahrung darstellt;
ein neu entdeckter Autor ist eine
neue Leseerfahrung. Es sei denn,
man verstellt sich mit der – ohnehin nur angemaßten – Haltung des
hartgesottenen Alleskenners den Blick. – Die Welt hat sich verändert, seit
Gracq phantasierte? Die Welt hat sich verändert, auch weil Gracq schrieb. Daß
Weltwahrnehmung in dieser Form möglich ist, ist die viel aufregendere
Entdeckung gegenüber der Erkenntnis, daß man von "Surrealismus"
sprechen kann oder auch nicht.
Und was soll das überhaupt, "die
Welt hat sich verändert, seit" - ? Sind Lampenschirme jetzt Polizeibeamte?
Ist Beethoven schlecht, weil es Nick Cave gibt? Das ist doch ein gar zu sehr
unter Mißmutdrogen stehender Satz, den Du da schreibst. Es gibt zeitlose, die Menschen
in der Tat zwingende Phänomene, die
seit Jahrhunderten in immer neuen Anordnungen, Facetten, Sichtweisen Thema von
Literatur waren und immer sein werden, die ganze Literaturgeschichte ist da ergänzendes Entbergen. Daß
Literatur immer auch formal, unterm Stil- und Strukturaspekt rahmensprengend in
den Bereich des Möglichen vordringt,
wird sich ebenfalls hoffentlich nicht ändern, aber es gab einmal ein kluges
Wort vom Stehen auf Schultern von Giganten.
20.03.2010
Achras:
Zitat
von Julien Gracq:
"Bis in mein fünfzehntes Lebensjahr, und
vermutlich weit darüber hinaus, war eines meiner Lieblingsbücher - neben den
periodischen Zusendungen des Chasseur francais, worin ich die Streckenbeschreibungen
für Radtouristen verschlang - ein veralteter Michelin-Führer, der auf dem
Dachboden neben einer Sammlung des Vermot-Almanachs stand und so manchen
Nachmittag eines unfreiwilligen Fastens ausgefüllt hat, an dem ich mich über
keinen Jules Verne, keinen Fenimore Cooper hermachen konnte."
Der Guide Michelin war von
seinen ersten Ausgaben an keine
Lektüre für Fahrradwanderer...
Christian Erdmann:
... was in dieser Passage ja auch nicht
behauptet wird:
"... war eines meiner
Lieblingsbücher - neben den periodischen Zusendungen des Chasseur francais, worin ich die Streckenbeschreibungen für
Radtouristen verschlang - ein veralteter Michelin-Führer, der auf dem Dachboden
neben einer Sammlung des Vermot-Almanachs stand..."
Achras:
Und wenn Gracq in jungen Jahren diese Lektüre jeder anderen bisweilen
vorgezogen haben mag, wieso verblieben diese Bücher auf dem Dachboden?
Christian Erdmann:
Da steht nur, daß er da stand. Eines der
Lieblingsbücher meiner Freundin, so mit 12, war die von Lo Duca herausgegebene
zweibändige Enzyklopädie der Erotik, Kurt Desch Verlag 1963, Exemplare
nummeriert, die in der Bibliothek ihres Vaters stand.
Achras:
Aha. Was lernen wir daraus ...
Christian Erdmann:
Aha. Langsam verstehe ich.
Zitat von Julien Gracq:
Neben ihr aufgestützt, sah ich ihr
schlafversunkenes Haupt wie von Welle zu Welle auftauchen, immer weiter von mir
weggespült. Ich blickte um mich, fröstelnd allein in diesem aschenfarbenen Tag,
der mit dem Widerschein des Kanals durch kalte Scheiben ins Zimmer sickerte.
Was mich getragen hatte, war nun völlig versiegt, und selbst der Raum um mich
schien sich zu leeren und wegzuströmen durch die nachtdunkle Schlucht eines
Schlafes voll bedrückender Träume. In ihrer hochfahrenden Laxheit, überlegen
leichtgesinnt, ließ Vanessa die hohen Türen ihres Gemachs beständig weit offen.
Die zarte Asche des Dämmerlichts entsank der Glut dieser kurzen Tage, dumpfen
Herzens lag ich matt auf den Laken, und über meine nackte Haut strich der kühle
Hauch aus der Flucht der verfallenen Räume. In diese Höhle geduckt, waren wir
von einem schon erstorbenen Wirbelsturm vergessen worden, aber wider meinen
Willen lauschte ich in das sinnende Dunkel, als käme von fern her und wie vom
Grund der horchenden Stille belagerter Städte das Tosen eines Massakers.
Was lernen wir daraus? Eben. Nicht
einmal Vanessas Schuhgröße. Wir lernen höchstens, was Literatur ist bzw. was
sie auch sein kann: Beschwörung dessen, was sich der Sprache vermeintlich zu
entziehen scheint, der nahezu unauslotbaren Tiefe eines einzigen Augenblicks,
einer einzigen Situation, eines einzigen Anblicks, jener Tiefe, aus der uns die
Zeit, das ist ihr Auftrag, permanent fortreißt.
KLMO:
Aljoscha, was Du richtig
beschreibst kann man nicht lernen! Entweder man hat es oder man hat es nicht.
Den Rest kann man sich sparen.
21.03.2010
ray05:
Die zarte Asche des Dämmerlichts entsank der Glut
dieser kurzen Tage, [...]
"Onkel Aljoscha Onkel
Aljoscha, das hier kann überhaupt nicht stimmen, der Bericht lügt! In unserem
Pfadfinderhandbuch steht ausdrücklich, dass Tage nicht brennbar sind. Und Licht
wird auch in der Dämmerung niemals zu Asche."
Christian Erdmann:
"Auch Rosenkohl ist eigentlich
mehr eine Rose als Kohl."
"Hoffnungsloser Fall! Ihm fällt
nur noch Gemüse ein."
(Barks / Fuchs: Donald Duck - Pflanzenfimmel)