SPIEGEL ONLINE Forum "Literatur - Was lohnt es
noch, zu lesen?"
Juli 2009
Juli 2009
Aljoscha
der Idiot.
Zitat von hans-werner
degen:
Der
Logik folgen heißt, dass ein Rädchen des Denkens folgerichtig ins andere
greift... und das kann man bei Nietzsche nicht sagen...
So wie es "logisch" ist, daß aus der Rede
vom "Übermenschen" bei Nietzsche, die Sie vermutlich ähnlich krude
verstehen wie Nietzsches Rede von der "Lust" oder Nietzsches Rede vom
"Willen zur Macht", folgt, daß es auch "Untermenschen" gibt,
nicht wahr?
Zeigen Sie mir eine Stelle, in der Nietzsche von
"Untermenschen" redet. Tip: es gibt genau eine. Und wenn Sie es
schaffen, auch diese Passage "logisch" und "logosgemäß" so
zu verstehen, wie Nietzsche zur Nazizeit verstanden wurde, machen wir eine
Schießbude auf. Drei Treffer gewinnen das Goldene Kalb.
"Herrschen? Meinen Typus Andern aufnöthigen?
Gräßlich! Ist mein Glück nicht gerade das Anschauen vieler Anderer?" (N.)
hans-werner degen.
Wenn es Übermenschen gibt, muß es Untermenschen geben...
sonst wäre das Über... sinnlos und leer. Verwende ich einen solchen Begriff,
muß jedem klar sein, dass es da noch etwas anderes geben muß... und der
Gegensatz von Über... ist Unter...
Aljoscha
der Idiot.
Fakt ist, daß das Wort bei Nietzsche nur einmal, und zwar in einem völlig
anderen Zusammenhang, auftaucht. Sie können Nietzsche jederzeit redlich
kritisieren, aber doch bitte nicht derart oberflächlich. Im einem der Links,
die Sie gestern anbrachten, hieß es wieder mal (yawn): "Für Nietzsche wäre
er wohl die Verkörperung des Übermenschen gewesen." Nein, wäre er nicht,
da können Sie Gift drauf nehmen.
Im übrigen beweisen Sie gerade, wie wir nicht nur Gott, sondern auch die
Logik nicht loswerden, solange wir an die Grammatik glauben. Leider ist auch da
nicht alles so eindeutig. Denn natürlich ist ein Über ohne ein Unter konzipiert
worden, als reines Heraus aus dem Bestehenden. Es gibt in der menschlichen
Sprache "das Übernatürliche", wo wäre "das
Unternatürliche"?
Noch was zu gestern: Hermeneutik ist nicht Identifikation, auch da verfahren
Sie nicht redlich, nicht "logosgemäß". Nietzsche-Interpretation macht
einen nicht zum "Nietzsche-Jünger".
Zitat von hans-werner degen:
Zu
jedem Wort, das einen Bezug auf Variabilität enthält, gibts einen Gegensatz. Und
zu dem arischen Übermenschen gabs schnell den semitischen Untermenschen. Und ich
halte ... Nietzsche nicht für so blöd, dass er diesen Gegensatz nicht gekannt
hätte.
Was heißt denn um Gottes Willen "nicht so blöd,
diesen Gegensatz nicht gekannt zu haben"? Welchen? Den von den Nazis
konstruierten, zugespitzten, fatalen und letalen? Wie soll er denn den gekannt
haben? Bei Nietzsche selbst gibt es zig Äußerungen zu "arisch" und
"semitisch", in vielerlei Färbung, mit einem erkennbaren Wandel der
Konnotationen, als Gegensätze, als Nichtgegensätze. Weder hat Nietzsche bei
"arisch" an eine "deutsche Herrenrasse" gedacht, noch war
er antisemitisch; er war erklärter Anti-Antisemit, sein Bruch mit Wagner ging
nicht zuletzt auf dessen extremen Antisemitismus zurück. Wollen Sie behaupten,
Nietzsche hätte seinen Antisemitismus nur mit Synonymen bemäntelt? Der späte
Nietzsche hat "Rassenmischung" als "Quell großer Kultur"
befürwortet. Die einschlägigen Passagen bei Nietzsche lassen mindestens
erkennen, wie fern Nietzsche dem stand, was Wagner oder Hitler aus Gobineau
folgerten. Und Sie haben jede einzelne Passage Nietzsches, in der er von
"Rasse" spricht, überhaupt erst einmal daraufhin zu untersuchen, ob
er da überhaupt den Begriff im Sinne der gebräuchlichen "Rassentheorie"
verwendet, das ist nämlich beileibe nicht immer der Fall.
Pieseln Sie Nietzsche ans Bein, aber tun Sie es
richtig. Kaufen Sie sich das Buch, das Sie gestern verlinkt haben. Taureck wird
es freuen, und Sie haben ein Beispiel dafür, wie eine differenzierte Kritik an
Nietzsche aussehen kann. Taureck ist übrigens auch nicht immer auf dem
richtigen Dampfer, meinem Verständnis nach, aber wer ist das schon. Die Zeit,
in der man Nietzsche mit in kindischer Hartnäckigkeit wiederholten Empörungen diskreditieren
kann, ist jedenfalls lange vorbei, dafür hat akribische wissenschaftliche
Arbeit doch nun wirklich in breiter Front gesorgt. Wenn Sie bei "Alle Lust
will Ewigkeit" nicht weiterkommen als bis zu masturbierenden Pennälern,
mag das nur embarrassing sein. Wenn
Sie aber partout und hartnäckig den "Willen zur Macht" auch so
verstehen wollten, wie es zur Nazizeit geschah, wäre das indes ein Problem.
Aber nur das Ihre.
oliver
twist aka maga.
Zitat von Aljoscha
der Idiot:
Was heißt
denn um Gottes Willen "nicht so blöd, diesen Gegensatz nicht gekannt zu haben"?
Welchen? Den von den Nazis konstruierten, zugespitzten, fatalen und letalen?
Wie soll er denn den gekannt haben? Bei Nietzsche selbst gibt es zig Äußerungen
zu "arisch" und "semitisch", in vielerlei Färbung, mit
einem erkennbaren Wandel der Konnotationen, als Gegensätze, als
Nichtgegensätze. Weder hat Nietzsche bei "arisch" an eine
"deutsche Herrenrasse" gedacht, noch war er antisemitisch; er war
erklärter Anti-Antisemit, sein Bruch mit Wagner ging nicht zuletzt auf dessen
extremen Antisemitismus zurück. ...
Mit dem "Alle Lust will Ewigkeit" habe
ich keine Probleme. Man kann den Satz in zweierlei Hinsicht deuten. Und
Nietzsche hat mit dem Denken Gobineaus, Wagners und Chamberlains nichts gemein.
Man sollte aber nicht vergessen, dass der ursprünglich dem Rassendenken
fremdstehende Mussolini - noch Mitte der 30er Jahre machte er sich lustig über
den Hitlerschen Rassenwahn - stark vom Denken Nietzsches beeinflusst worden
ist. Der Übermensch, der ja nur Übermensch sein kann, wenn andere keine
Übermenschen sind, hat zwar nicht den Amoralismus in der Politik begründet -
der ist so alt wie der Mensch selbst -, er hat ihn aber zu etwas
Erstrebenswerten gemacht und ihm seine philosophische Rechtfertigung gegeben.
Es gibt tausend Gründe dafür, wenn man nach seinem Lieblingsphilosophen -
meiner ist Aristoteles - gefragt wird, nicht Nietzsche zu nennen.
BerSie.
Das ist wahr! Meiner ist Bertrand Russell. Leider
verstand der nichts von Logik und wurde vermutlich schon von Thomas von Aquin
widerlegt - vielleicht ist das der Grund für meine Sinnkrise!?
Was hat "Rope" mit Nietzsche zu tun? Das Motiv
der beiden Mörder war wohl so etwas wie spätpubertärer Größenwahn. War übrigens
ein Experiment - der Film. Hitch wollte den "echtzeitmäßig" in einem
Take aufnehmen. Ging allerdings damals noch nicht, da die Länge der Filmrollen
nur eine knappe halbe Stunde erlaubte...
Aber das hat nichts mit Nietzsche zu tun! ;)
Aljoscha
der Idiot.
@maga
Es gibt tausend Gründe dafür, überhaupt keinen
"Lieblingsphilosophen" zu haben, weil sie alle wertvoll sind. Sicher
kenne ich "Rope", guter Film, aber wie BerSie sich auch schon
wunderte – ist von Nietzsches "Übermensch"-Idee so weit entfernt wie
"Rope" von Hitchcocks bestem Film. Nein, weiter. :)
Zitat von BerSie:
Das
ist wahr! Meiner ist Bertrand Russell.
Sehr gut! Der hat seine amerikanische Professur
verloren, weil seine Schriften, wie ein Vertreter der Anklage vor Gericht
erklärte, als "wollüstig, libidinös, lüstern, unkeusch, erotoman,
aphrodisisch, respektlos, unwahr und bar jeglicher Moral" zu betrachten
seien. Also wen das nicht reizt. :)
Zitat von hans-werner
degen:
Ich
habe Nietzsche nicht haftbar gemacht, nur gezeigt, dass diese Interpretation
möglich und daher zulässig ist.
Ihre Interpretation des "Übermenschen"
jedenfalls ist aus Nietzsche heraus nicht
zulässig. Daß Nietzsche nicht von "Untermenschen" spricht, daß er
kein Antisemit war, daß Sie in # 17401 beim Zitieren meines Beitrags das Nietzsche-Zitat,
das Ihnen nicht in den Kram paßt, und es ist nur eines von vielen möglichen,
vielsagenderweise weggelassen haben, nämlich: "Herrschen? Meinen Typus
Andern aufnöthigen? Gräßlich! Ist mein Glück nicht gerade das Anschauen vieler
Anderer?", all das ist gar nicht so relevant. Entscheidend ist Ihre falsche
Sicht auf Nietzsches Begriff "Übermensch" selbst.
In # 17403 habe ich Ihnen einen Hinweis dazu gegeben:
"Denn natürlich ist ein Über ohne ein Unter
konzipiert worden, als reines Heraus aus dem Bestehenden. Es gibt in der
menschlichen Sprache 'das Übernatürliche', wo wäre 'das Unternatürliche'?"
Das "reine Heraus aus dem Bestehenden",
darum geht es. Dazu bedarf es keines "Untermenschen", dazu bedarf es
nur des bisherigen Menschen. Der Über-Mensch ist nicht Herr über andere, er ist
Herr über sich selbst. Jeder Versuch, aus Nietzsches Begriff des Übermenschen
irgendeine Idee von Gewaltausübung über andere abzuleiten, ist barer Unsinn.
Wenn Sie sich da auf eine Stufe mit den Nazis stellen wollen, tun Sie das, aber
machen Sie Ihre Motive klar.
Freut mich, daß Sie Taureck so schätzen. Ich werde
Ihnen mal aus Taurecks "Nietzsche-ABC" referieren, was da zum "Übermenschen"
zu lesen ist.
"Um alles über Nietzsche zu sagen, könnte man
bemerken, daß er mehr Bilder benutzt und schafft als irgendein anderer Denker.
... Bild ist auch der 'Übermensch', ein Wort, das Nietzsche zum Beispiel in
Goethes Faust finden konnte, wo Faust von dem Erdgeist mit diesem Titel
ironisch angeredet wird. ... 'Übermensch', ins Griechische übersetzt, könnte
'Hyper-Anthropos' oder auch 'Meta-Anthropos' heißen. Bei Lukian ist hyperánthropos
tatsächlich belegt. ... 'Hyper-Anthropos' käme etwa ... einer höheren
biologischen Evolutionsstufe jenseits der neuronalen Komplexität des Menschen
(gleich). 'Meta-Anthropos' dagegen meint einen Menschentypus, der in der Lage
ist, alles Menschliche zum Gegenstand zu machen."
Taureck schreibt weiter, es gehe Nietzsche nicht um
den Hyper-Anthropos, "... sondern um die reflektierende Gestalt des
'Meta-Anthropos'. Der Übermensch ist für Nietzsche primär ein Mensch, der über den Menschen Bescheid weiß und
kraft dieses Wissens die Grenzen des bisherigen Menschen überschritten
hat."
Der Übermensch ist ein Selbst-Schöpfer, der keinen
Dogmen mehr hinterherlaufen muß, fähig, das Leben ohne vorgegebenen Sinn zu
bejahen.
hans-werner
degen.
Und warum hat er das nicht geschrieben, wenn er es
gemeint hat? Und grundsätzlich: gerade Taureck nennt Nietzsche den protofaschistischsten Denker in der Ahnenliste des Faschismus.
ray05.
My Nietzsche
Wilamowitz' bekannte Kennzeichnung Nietzsches als
"Prophet einer irreligiösen Religion und einer unphilosophischen
Philosophie" ist so paradox wie zutreffend. Nietzsches Selbstauskunft:
"Ich bin ein Immoralist"; ich ergänze à la Wilamowitz: Er ist ein
moralischer Immoralist.
Nun, was bedeutet es denn, wenn Nietzsche
konstatiert: "Gott ist tot. Wir haben ihn umgebracht." Er bezeichnet
damit den Kulminationspunkt menschlicher Dekadenz, das low level life, das nur noch nach Instanzen und
"Gerechtigkeit" blökt, die Lebensarmut und -schwäche, die sich im
Wunsch nach den Imperativen umfassender "Moral" oder
"Tugend", von selbstgebasteltem "Recht" und
"Gesetz" offenbart und ohne deren Verabreichung in immer höheren
Dosen keine Lebensäußerung mehr möglich scheint. Nietzsche ist nicht nur der
"Antichrist", er ist auch der Platon-Umkehrer.
Tja, die Erkenntnis, das "logosgemäß"
gültig zu Formulierende, beisst sich mit schöner Regelmäßigkeit selbst in den
Schwanz, sagt Nietzsche, die von ihr behauptete "Wahrheit" ist nichts
weiter als eine Komödie. Der Primat logosgeleiteter "Wissenschaft"
geht nicht zufällig Hand in Hand mit der schleichenden Entmündigung Gottes.
Erst schickt man ihn in die Kurzarbeit, dahin, wo er nur noch "gut"
oder "gütig" zu sein braucht, dann verbannt man ihn in die Sphäre des
Imaginären, schließlich entsorgt man ihn vollends, und kann sich - befreit - so
ganz der menschlichen Erkenntniskomödie hingeben: Selbstgerecht moralisierend
und halbsenil vor sublimer Geistesschwäche.
Fort mit der "Sklavenmoral", lasst uns
dem Leben zurückgeben, was des Lebens ist, höchste Zeit für die Umkehr, sagt
Nietzsche, für die "Umwertung aller Werte"! Gott werden wir nicht
mehr zum Leben erwecken können; ihn als ausgestopften Popanz vor uns her zu
tragen, kommt nicht in Frage, das überlassen wir den Kirchen. Nein, WIR als
Menschen ohne Gott werden unsere Lebenshülle zurücktragen müssen, freilich noch
hinter Plato zurück, weil dessen Sokrates schließlich als Erster mit dem Unfug
anfing, den Logos über den Ausdruck zu stellen, die Kunst zu diskreditieren,
indem er die Leinwände mit Tugend- und Erkenntnissuppe vollspritzte.
Es ist moralischer, sich hin- und dranzugeben, als
sich zu bewahren, sagt Nietzsche mit Clawdia Chauchat; ja, berstend vollgepackt
soll es sein, das Leben, mit lustvoller Intensität und intensiver Lust
wechselwirkend zwischen den zwei Lebenssäulen (Werten) des Ekstatischen,
Gefährlichen, bejahend Hingebenden und des Abmessenden, Gestaltenden, die
"fröhliche Wissenschaft" Betreibenden. Was sei nun das Ergebnis
dieser Wechselwirkung, deren höchster Ausdruck, die höchste Moral, die höchste
Erkenntnis, die "Wahrheit"? Eben: Die Kunst. Künstlerisches Leben,
lebendige Kunst.
Ist zu lau. Eher: Ästhetisches Leben. Leben als
Gesamtkunstwerk.
KLMO.
Eine sehr schöne kompakte Zusammenfassung.
Über die Sklavenmoral bzw. die daraus resultierende
Immoral Nietzsches braucht man nicht viel zu referieren. Nietzsche: "Es
gibt gar keine moralischen Phänomene, sondern nur eine moralische Auslegung von
Phänomenen..." (Die Natur kennt keine Moral, nur der Mensch, der sie
definiert und auslegt.)
Nietzsche stellt, und dies berechtigt, alles in Frage, er
ist ein Zerstörer, er bricht die alten morbiden Gemäuer bis zu ihren
Fundamenten nieder. Und hier beginnt die Stunde des Übermenschen, der versucht,
auf diesen alten Fundamenten ein neues Gebäude zu errichten.
Vom Grundtenor her habe ich Nietzsche sehr gut
verstanden, besonders auch was das Christentum anbelangt. Was machte ein Peter
Abaelard, der in einem Kloster verstarb, anderes, indem er in seiner Schrift
"Sic et Non" (Ja und Nein) 158 Widersprüche der Kirchenväter
zusammenfasste und diesen 1800 Zitate von Streitfragen hinzufügte. Die
Verurteilung durch das Konzil zu Sens erwog ihn, den Ländern der Christenheit
den Rücken zu kehren und zu den Heiden zu gehen, um dort in Ruhe und Frieden
unter den Feinden Christi christlich zu leben! Nietzsche setzt doch nur bei
Abaelard nach 800 Jahren wieder an, nur radikaler, konsequenter.
Die Gottesfrage und das Christentum muss bei Nietzsche
differenziert werden, deren Unterscheidung Christen oft nicht gelingt.
"Wir haben Ihn getötet" heißt nichts anderes, dass menschliche Bilder
zerstört werden, da sie letztendlich in die Irre und in einen Götzendienst führen.
(Siehe erstes Gebot – klassisches Beispiel, wenn auch hier Nietzsche von den
"Umkehrungen aller Werte im Christentum" spricht.)
In einem Punkt bin ich mir nicht sicher: ob man bei
Nietzsche von einem reinen Atheisten sprechen kann, womöglich will er auch hier
nur alte Fundamente zerstören. Auch hier ist Nietzsche nachvollziehbar. Seine
Intentionen gehen eher hin zu einem Deismus, der allerdings mit dem Christentum
nichts mehr zu tun hat.
Man lese nur seine Verse:
Noch einmal, eh' ich weiterziehe
Und meine Blicke vorwärts sende,
Heb' ich vereinsamt meine Hände
Zu Dir empor, zu dem ich fliehe,
Dem ich in tiefster Herzenstiefe
Altäre feierlich geweiht,
Daß allezeit
Mich Deine Stimme wieder riefe.
Darauf erglüht tief eingeschrieben
Das Wort: Dem unbekannten Gotte.
Sein bin ich, ob ich in der Frevler Rotte
Auch bis zur Stunde bin geblieben:
Sein bin ich – und ich fühl' die Schlingen,
Die mich im Kampf darniederziehn
Und, mag ich fliehn,
Mich doch zu seinem Dienste zwingen.
Ich will dich kennen, Unbekannter,
Du tief in meine Seele Greifender,
Mein Leben wie ein Sturm Durchschweifender,
Du Unfaßbarer, mir Verwandter!
Ich will Dich kennen, selbst Dir dienen.
Aljoscha der Idiot.
@ ray / KLMO: "Ich sage nur ein Wort: Vielen Dank!" (Hrubesch).
:)
Der dominierend ästhetische Zug von Nietzsches Denken enthält ja den
anti-ideologischen Duktus auch rücksichtslos in der Form: Wille zum System =
Mangel an Rechtschaffenheit. Der Dorn in der Seite der Nietzsche-Ablehner ist ja
nicht nur, daß er allen Schmock wegtritt mit dem Ruf, die alten Lebenskrücken
seien ohnehin marod. Es ist auch die Schwierigkeit, dem interdisziplinären
Seiltanz Nietzsches überhaupt zu folgen: die Form seiner
Experimentalphilosophie selbst ist künstlerisch. Von ihm "logische"
Stringenz zu erwarten bedeutet doch schon, nicht nachzuvollziehen, wie er neben
Moralkritik und Religionskritik auch Rationalitätskritik betreibt, Kritik an
der rationalen Vernunftanmaßung. Kunst / Kultur / Kultivieren / Selbstkultivierung
als lebensdienliche Alternative zur "Wahrheit": DIE Wahrheit als
absoluten Maßstab der Erkenntnisse gibt es nicht. Der Intellekt ist Erzeuger
von Illusion. Wahrheit ist eine Lüge, die interessehalber von einer
Allgemeinheit aufrechterhalten wird. Für Nietzsche ist "Wahrheit" ein
bewegliches Heer von Metaphern, bestenfalls kann er "die" Wahrheit
als die Illusion fassen, von der man vorsätzlich vergessen hat, daß sie eine
ist. Wirklichkeit wird sprachlich konstituiert, in der Konstitution findet jene
Produktivität statt, die Nietzsche ästhetisch nennt.
Leben, gelingendes Leben, ist ein Erfolg der Kunst. Von diesem Gedanken hat
Nietzsche niemals gelassen. Produktivität am Grunde aller Wirklichkeit:
Nietzsche siedelt das Künstlerische auf denkbar elementarer Stufe an, wenn er
schon mentale Prozesse als künstlerische Leistung faßt. Die Wirklichkeit selbst
wird so zum Gesamtkunstwerk, als Konglomerat erzeugter Bedeutungen. Es gibt
keine Wirklichkeit außer der, die wir uns mittels kognitiv-produktivem
Enthusiasmus erschaffen. Aber das ist nur der Ausgangspunkt: der Übermensch ist
ja eben der, der den durchschauten Konstruktionen eigene entgegensetzt.
Der zugleich gelassene und ausgelassene Immoralismus, der sich bei
Nietzsche im Lauf seines Schreibens als Ideal ausprägt, ist immer vor dem
Grundgedanken Nietzsches zu sehen: das größte Kunstwerk ist eine Welt, die sich
aushalten läßt. Und der in dieser Hinsicht "Starke", weil
Schöpferische, Selbstbestimmte, Freie, ist nicht ohne moral sense, im Gegenteil: im "Werde, was du bist" ist
von Anfang an ein praktischer Vektor, ein fließender Übergang von Ästhetik zu
Ethik. Was Nietzsche ablehnt, ist das aggressiv organisierte Ressentiment, das
ein schlechtes Gewissen andreht, die Moral als Vampirismus.
Und, ja, unschätzbar der Gedanke, einen fundamentalästhetischen Grundtrieb
aufzulösen in zwei sich gegenseitig herausfordernde Komplementärtriebe, deren
Wechselspiel an allem teilhat. Immer
ist Sichhin- und drangeben und
Sichbewahren zugleich - nur selten zu gleichen Teilen. :)
Edda Sörensen.
An ray / Aljoscha:
Der Aufenthalt auf Sardinien ist Euch anscheinend
wirklich bestens bekommen, um nun mit solch wunderbar zu lesenden, wahrhaftigen
Gedanken zu Nietzsches Intentionen das Forum zu bereichern. Deshalb trage ich
es Euch nicht nach, dass Ihr mit dem Hubschrauber nach Rom und dort Firstclass
weiter auf die McCoy-Islands geflogen seid, das Geld der Vatikanbank abgehoben
und eine Yacht gechartert habt, mit der Ihr nun mit Euren Ladys eine Kreuzfahrt
rund um die Jungferninseln macht. Eine wunderbare Zeit voll brillianter
Gedankengänge wünscht Euch
Edda
Sehr schön. Kommt mir alles vor wie Schneeballschlacht bei einer Schlittenfahrt nach Linderhof. Nujoh, bin ja selber schuld für meinen Scheiß. :)
AntwortenLöschen"Schneeballschlacht bei einer Schlittenfahrt nach Linderhof" - :) Ach, dann war es ein herrlicher Ausflug. :) Im übrigen hast Du mit Deinem Beitrag damals den Schlitten in der Spur gehalten. - Mußte nach Wiederauffinden des Sardonischen Tagebuchs unbedingt "Viva Maria!" wiedersehen, fand den Film bezaubernder denn je. Anarchie, Ballistik, Girlpower. :) So lovely 2 C U, Gruß an Edda, falls noch Kontakt xxx
LöschenVerflixte Sentimentalität, Tuschkin. Aber hab's bis heute nicht geschafft, das geniale Barocktheater in Krumlov zu besuchen. Kein Mädchen will mit mir da hin, und alleine bin ich zu phlegmatisch, zu verzagt. Sogar Weimar, das göttliche Weimar, rückt mir aus dem Sinn, obwohl ich mir im letzten Herbst den Briefwechsel unserer beiden Olympier nochmal komplett reingezogen habe. Mit Gewinn. Wir sprechen heute die Sprache Schillers und Friedrich Schlegels, weniger die Goethes. Konnte mich dennoch tagelang nicht beruhigen wg/ Wahlverwandtschaften und Wilhelm Meisters Lehrjahren. Unglaubliches Zeugs trotz Kolportage. :)
LöschenAktuelle Literatur: empfehle Rachel Cusk (*1967).
Was wollte ich sagen? Ja, bleibt gesund und munter, Du und die Deinen.
Seit ich im Sommer '17 dem Schnitter 2x elegant, aber offenbar kurz vor Schmurk auswich, fühlte ich eine erstaunliche und endlose *tendresse*. Eine unfaßbare Zärtlichkeit meinem eigenen Leben gegenüber, das auf jeder nur denkbaren Ebene härteren Schlägen denn je ausgesetzt ist, aber ich liebe das Leben und will, daß es ewig währt. Und genau da jedenfalls, in dieser tendresse, gibt es eigentlich keine rechte Unterscheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, und damit eigentlich auch keine Sentimentalität, die verflixt wäre. Lieber, was noch nicht wahr ist, wird wahr werden. :) Krumlov, oh, dieser magische Ort. Er ließe Dir keinen Raum zum Verzagen, believe me. Einen Ort wie Krumlov auszusparen wäre für einen, den die Wahlverwandtschaften schier atemlos machen, einfach rechtswidrig. - Letzten Sommer waren wir in der Wachau, Krems, - wo Adrian Hoven "Hexen bis aufs Blut gequält" drehte :) -, die Ruine Aggstein, Dürnstein. Sisi, aber auch Schiele: Stein an der Donau, you know. Die Zimmer im Tullner Bahnhof. Diesen Sommer werden wir, so Gott (oder der andere) will, nach Krakau fahren. Es gibt zweifellos 667 Gründe dafür, aber wenn ich einmal vor einem Haus stehen darf, in dem der große Roman Polanski noch klein war, betrachte mich als Pilger. Und nun schau, 2019 wird es einen Film geben, der Roman Polanski und seinen lebenslangen Freund Ryszard Horowitz zeigt, wie sie die schicksalhaften Stätten ihrer Kindheit erneut aufsuchen.
LöschenFotos
Weimar / Goethe / Schlegel - ? Hier, Schlegel-Bio, der randalierende Kotzebue. :)
[Weimar. Hier ließ Goethe am 29. Mai 1802 Schlegels Trauerspiel Alarcos aufführen]
"Die Weimarer Premiere war freilich nicht von Erfolg gekrönt und wurde von Kotzebue und seinen Anhängern dazu benutzt, Goethe und der von ihm protegierten Kunstrichtung eine Niederlage beizubringen. Die Gräfin Henriette von Egloffstein berichtet, daß sich das überfüllte Schauspielhaus zunächst ruhig verhielt, dann aber, bei einer Szene unfreiwilliger Komik, in ein tobendes Gelächter ausbrach, 'während Kotzebue wie ein Besessener unaufhörlich applaudierte'. Goethe, der im Parterre 'ernst und feierlich auf seinem hohen Armstuhle' thronte, soll bei dieser Gelegenheit aufgesprungen sein und 'mit donnernder Stimme und drohender Bewegung: Stille! Stille!', oder, nach einem anderen Bericht: 'Man lache nicht!' gerufen haben, womit sich der Tumult augenblicklich legte."
Rachel Cusk, ah, thanks! Finde sehr faszinierend gerade, wie Nick Cave auf seinem neuen Blog "The Red Hand Files" Fragen beantwortet, have you seen it?