Montag, 7. November 2022

Ultra-Dylan / Grandpa's Apfelkuchen ins Gesicht














SPIEGEL ONLINE Forum

05.01.2007 
 
 

Kritischer Leser:
 
Dylan ist vermutlich ein Sonderfall. Auch biographisch. Als der Typ sich noch nicht als erweckter Christ verstand (...)






Christian Erdmann:
 
Geschätztester, ich muß es wiederholen: auf "Time Out Of Mind", 1997, "Love And Theft", 2001, und "Modern Times", itzt, findest Du nicht die Spur von reborn-Christ-Genuschel, sondern einen älteren Mann in Hochform, den alten Mann und das Mehrgehtnicht. "Time Out Of Mind" war Dylans Rückkehr als Ultra-Dylan, nach Jahren, in denen er seinen Weg und seine Stimme verloren hatte, dann zurück mit der Stimme von, öhm, Gott selbst, und mit Songs, die ewig weitergehen könnten, jeder einzelne, und mit Musikern, die mit allen Wassern gewaschen sind, ultracool, knochentrocken, die spielen anstrengungslos alles an die Wand.

Auf "Oh Mercy" deutete sich das an, ging aber wieder verloren zwischendurch – das Echo der Gitarren, die leicht unheimliche Atmosphäre, die dabei entsteht, das Südstaaten-Element, das ganze New Orleans & Mississippi & Louisiana swampland voodoo-Zeug. Auf "Time Out Of Mind" war es wieder da. "Love And Theft" war musikalisch vielfältiger, alle möglichen Stilrichtungen mit viel Spaß aus dem Ärmel geschüttelt, jede Note, jeder Schlag sitzt. "Lonesome Day Blues". Hölle. Das älteste Schema der Welt, und diese Musiker spielen es, als wäre es entweder soeben erfunden, oder als würden sie es in der Tat schon 100 Jahre spielen. Und Dylans Stimme obendrauf, auf all diesen Songs, knattert Zeile für Zeile, als müßte er schnell noch seine eigene "Ilias" und seine eigene "Odyssee" abliefern. Ich wäre mit dem Nobelpreis für Literatur an Dylan einverstanden. Jedenfalls kann niemand sonst halsbrecherische Zeilen wie diese

She's looking into my eyes, she's holding my hand
She's looking into my eyes, she's holding my hand
She says, "You can't repeat the past." I say, "You can't? What do you mean, you can't? Of course you can." 

in einem ziemlich rasanten Song unterbringen ("Summer Days"). 
 
 
 
 
 
 
 
Und in einem Song wie "High Water" findet sich zwischen all den apokalyptischen Untergangsbildern immer ein seltsamer absurder Humor, der mich an Buster-Keaton-Filme denken läßt. The book of life in jeder Zeile, und dann manchmal Zeilen, die sind wie, nun, wenn Kinder ins Buch des Lebens was Lustiges kritzeln und die Tintenkleckse machen.






Wie er im Song "Things Have Changed" bei der Zeile "The next sixty seconds could be like an eternity" diese kleine Lücke nach eterni- läßt und das -ty so müde nachschiebt, als hätte er die Ewigkeit gerade hinter sich.
 



 


"We recorded 'Man In The Long Black Coat' and a peculiar change crept over the appearance of things. I had a feeling about it and so did he. The chord progression, the dominant chords and key changes give it the hypnotic effect right away - signal what the lyrics are about to do. The dread intro gives you the impression of a chronic rush. The production sounds deserted, like the intervals of the city have disappeared. It's cut out from the abyss of blackness - visions of a maddened brain, a feeling of unreality - the heavy price of gold upon someone's head. Nothing standing, even corruption is corrupt. Something menacing and terrible. The song came nearer and nearer - crowding itself into the smallest possible place. We didn't even rehearse the song, we began working it out with visual cues. The lyrics try to tell you about someone whose body doesn't belong to him. Someone who loved life but cannot live, and it rankles his soul that others should be able to live. Any other instrument on the track would have destroyed the magnetism. After we had completed a few takes of the song, Danny looked over to me as if to say, This is it. It was."















31.03.2011
 

Angemessen überirdisch war er dann bei der "Love & Theft"-Tour, 2002, als Charlie Sexton einer der beiden Gitarristen war, die Band einfach in Killerstimmung und Dylan genau so, wie man es in kühnsten Träumen erhofft. Theophanie, wie sie sein soll. Und am Ende ging er kurz vor uns, dem Publikum, in die Knie. Angeblich hatte er so eine Geste auf der Tour vorher noch nie gemacht. In mir ist so eine Stimme, die sagt, keep it like that. :)







Das ALLER-erste, was ich mal von ihm sah, war der Hut. In einem schwedischen Kino. Als Scorseses Kamera in "The Last Waltz" runterschwebt für Dylan, "Forever Young / Baby Let Me Follow You Down". Mit seinem Blick zu Robbie Robertson nach den ersten Zeilen hatte er mich. Ewiglich.













Gespräch zwischen Mister ray05 und mir im SPIEGEL ONLINE Forum. "Together Through Life" von Bob Dylan war soeben erschienen. Mai 2009.








 
Christian Erdmann [Aljoscha der Idiot]:
 
Mit "Modern Times" wurde ich auch nicht wirklich warm, aber warum dem Mann nach den beiden atemberaubenden Vorgängern – sowas wie "Time Out Of Mind" und "Love & Theft" muß gemeint gewesen sein, als es mal hieß, da wäre was aus dem Kopf von Zeus entsprungen – nicht auch einen kommerziellen Mega-Abräumer gönnen. "Together Through Life" macht stellenweise einfach Gänsehaut, noch banaler kann ich es nicht sagen. Der einzige Nachteil, den "It's All Good" hat: daß es nicht noch eine Stunde so weitergeht, als Fahrt durch eine amerikanische Nacht, die, like life, den Rückweg vom Lost Highway sucht, währenddessen aber im panoramischen Überblick nicht auf die wunderbaren, Dylan-typischen bösartigen Streiche verzichten kann. Man sitzt mit idiotischem Grinsen auf dem Rücksitz, thinking: das ist so phantastisch, daß es fast lachhaft ist. Der Rolling Stone schrieb: "Dylan has never sounded as ravaged, pissed off and lusty."







ray05:  
 
Der Opener ist ganz offensichtlich Howlin' Wolfs "Who's Been Talking", manches erinnert an Tom Waits nachmittags um 5, viel an Dylan selber, logisch, der Rest macht eine ganz schmale Spur zu deutlich, dass es sich im rocking chair wunderbar plaudern lässt - aber geschenkt das alles. 

Den Rückweg vom Lost Highway hat der Meister schon mit "Time Out Of Mind" generalstabsmässig vorbereitet, wobei zu jenem Zeitpunkt noch nicht hundertprozentig klar war, ob er letztlich nicht doch als störrisch-renitenter dirty old man der Zirkusmanegen enden könnte. Diese Ungewissheit hielt die Spannung aufrecht...








Christian Erdmann:
 
Oui oui. Ich meinte allerdings den Rückweg vom Lost Highway aus der "Together Through Life"-Perspektive selbst. :)








ray05:  
 
Aber nun: Mit dieser neuen Platte hören wir Dylan den ganzen verdammten Verkehr seines Eingebundenseins einfach nochmal regeln, nun allerdings endgültig nicht mehr als Betroffener einer Welt der Heimsuchung und des zu Bannenden oder Einzuverleibenden oder Auszudrückenden, der Zeichen und Schatten an der Wand eben, sondern mit dem Here-I-Am-Sitting-So-What-Keep-a-Laugh-On-Your-Face-Gestus des glücklichen Heimkehrers, des Familienzusammenführers, der sich mit einem vernehmlichen HEY-YO in den Schaukelstuhl fallen lässt.








Christian Erdmann:
 
Nicht mehr betroffen, nicht mehr heimgesucht? Du meinst, die Löcher, die sich da ins Herz bohren, sind Autopilot-Abläufe und Dylan geht es ingesamt mehr um den sonic effect? Not sure about that. Man fragt sich immer noch, wieviele Zeilen aus, etwa, "Forgetful Heart" immer noch an Sara gerichtet sein könnten: We loved with all the love that life can give, When you were there, you were the answer to my prayers.

Unherausfindbar, denn: was Dylan seit "Time Out Of Mind" (wieder) gnadenlos gut beherrscht: er findet für einen Song einen Refrain wie

I feel a change comin' on
And the fourth part of the day's already gone

Und um diesen Refrain baut er Strophen, die er im Prinzip endlos weiterbauen könnte, in denen er abwechselnd phantastische, vitriolische Wortspiele betreibt, Surrealismus mit präzisen Zustandsbeschreibungen durcheinanderwirbelt, UND einen Blick ins Innerste gewährt. Nur weiß man, und das ist Dylans Genie, nie genau, was was ist.

In den Liner Notes zum "Biograph"-Box Set sagt er ja zu "You're A Big Girl Now":

"Well I read that this was supposed to be about my wife. I wish somebody would ask me first before they go ahead and print stuff like that. I mean it couldn't be about anybody else but my wife, right? ... I don't write confessional songs. Emotion's got nothing to do with it. It only seems so, like it seems that Laurence Olivier is Hamlet."

Großartig, oder? Natürlich schreibt Dylan kaum anderes als confessional songs, nur eben keine, die obvious sind. Was Dylan sich von Kerouac abgeguckt hat: das eigene Leben zum Mythos zu machen. Dylan hat nur eine ganz andere Methode dafür. In der japanischen Ästhetik gilt das waka-Gedicht als semantische Artikulierung, die aus einer nicht-zeitlichen Ausdehnung der assoziativen Verkettung von Worten oder einem Netzwerk von Bildern und Ideen besteht. Genauso funktioniert z.B. "Tangled Up In Blue", genauso funktionieren seine Songs wieder seit "Time Out Of Mind". Den schöpferischen Grund dieser vielstimmigen Fülle von Bedeutungen, Bildern, Ideen nennen die Japaner kokoro – die schöpferische Subjektivität. Äußerste Subjektivität. Im waka findet Selbstausdruck durch Naturbeschreibung statt. Dylan beschreibt sich, mit äußerster Subjektivität, in diesem Sturzbach von Bildern, auch wenn sie scheinbar gar nichts mit ihm zu tun haben, weil er seit "Time Out Of Mind" sein kokoro wiedergefunden hat. :)
 








ray05:  
 
Verbindendes Element und Zentrum der Autorität ist ausschliesslich Dylans Stimme, Grandpa's raspelnde Einwürfe mit der gewohnten alten Flinte auf dem Schoß, Kinder und Enkel zu Füssen, gibt's noch Apfelkuchen - ja, so what, isso. Denke trotzdem, da kommt noch was auf uns zu, später, die Flinte schiesst noch mal ... aber jetzt: das lag eine Spur zuviel einfach alles auf der Hand ...








Christian Erdmann:
 
Weiß nicht, ob einer, der "My Wife's Home Town" aufnimmt, mit HEY-YO im Schaukelstuhl schaukelt. :) Für mich hat diese Platte (again) mit Unterwegssein zu tun, was treibt und aufrecht hält, ist nach wie vor "This Dream Of You", und wer die beißende Ironie des "It's All Good" nicht sieht, kriegt halt Grandpa's Apfelkuchen ins Gesicht: Talk about me Babe / if you must / throw on the dirt / pile on the dust / I'd do the same thing / if I could / you know what they say / it's all good. Chuckle chuckle at 2:45. Warum kann er nicht? Business down the road.

Dylans Mythos als Mystery Man ist verewigt, jetzt arbeitet er an etwas anderem: an der Rettung besagter amerikanischer Nacht, an der Rettung jenes Kosmos, durch den all diese Songs hallen, seine eigenen, die, die er in seinen Radiosendungen gespielt hat, er rettet diese Welt mit all diesen Charakteren, die ihm wahrer erscheinen als die zeitgenössischen mit ihrem Jahrmarkt der Zwergen-Eitelkeiten, und damit hat er ja nicht mal unrecht. Da gibt es den Jack White-Favoriten, das Sweetheart, ebenso noch wie die Frau, die über stuff more potent than a gypsy curse verfügt, und da gibt es vor allem den Dylan-Charakter selbst, der all das über Zeit und Raum hinweg zusammenhält. "Beyond Here Lies Nothin'" könnte von Robert Mitchum in "Out Of The Past" stammen, nur eben, daß The Past / Lost Highway immer wieder einholt: schon der nicht-zeitlichen Ausdehnung von Dylans Kunst wegen. :)

Jemand sagte, die Platte ist voll von Lyrics, die Dylan im Schlaf schreiben könnte. Aber sie ist auch wieder voll von

Well, now what's the use in dreaming
You got better things to do
Dreams never did work for me, anyway
Even when they did come true

Einhalt gebietenden Wendungen, die den Autopilot widerlegen. Die Musik? Jemand sagte: soul fire + sexy apocalyptic carnival. Ich schließe mich an.








ray05:  
 
Eigentlich ist es banal: Der Rezipient schließt von der Größe des Loches in seinem Herzen auf das Kaliber der Waffe des Künstlers. Ich halte Dylan für ein außerordentliches Geschütz, die Auswirkungen von "Time Out Of Mind" kannst Du in meiner Herzgegend auch nach mehr als zehn Jahren noch buchstäblich abtasten. Vielleicht bin ich gerade deshalb wenig geneigt, dieser aktuellen Platte die Brust vorbehaltlos hinzuhalten - nur weil sie eben aktuell ist, vielleicht, oder weil sie von Dylan ist, vielleicht, sie könnte von Miles Davis im Grabe eingespielt worden sein, das änderte nichts -, sondern konstatiere mit der Erfahrung des Mannes, dem eine derartige Unbedingtheit der Kunstrezeption HEUTE kaum gut zu Gesicht stünde, erstmal die Perfektionierung von Methode. 
 
Für mein Empfinden kann Dylan heute all jene Vorzüge, die Du mit Recht GENIAL nennst, die er sich von Gertrude Stein, Burroughs, Kerouac oder sonstwem ANEIGNETE und für seine Zwecke dienstbar machte, methodisch, ohne selbst mehr als notwendig INVOLVIERT zu sein, herstellen. Ich möchte sogar soweit gehen, die GENIALITÄT Dylans genau an dieser Fähigkeit zur endgültigen Etablierung einer DYLANMASCHINE festzumachen. Das klingt nun böse, und bringt mich freilich in heftigsten Konflikt mit heiligen Weltinnenräumen, die ich selbst im Widerspruch natürlich respektiere - trotzdem mag ich im Moment in Dylans Fall "schöpferische Subjektivität. ÄUSSERSTE Subjektivität" - wie Du sagst - lediglich als METHODISCHEN Kern auffassen, den zu sehen, freizulegen und anzuwenden Dylan durchaus sitzend im Schaukelstuhl mit Apfelkuchen gelingen dürfte. Wir sind uns sicher einig, dass Dylan zurzeit eine Art Historisierung, Wiedererzählung all jener Mythen, Lieben, Figuren und Schlagschatten versucht; genau das meinte ich mit meinem Bild des Heimkehrers, die Kinder und Enkel zu Füßen. HEY-YO. Aber ich denke, Dylan wird uns bald nochmal richtig dicke Löcher verpassen .... :) 

Vermutlich würden uns mit der Zeit noch eine ganze Reihe weiterer Referenzsongs anderer Amerikaner einfallen, die Dylan im Sinne einer bewahrend-zeitbremsenden Kanonisierung benutzt, verkontextualisiert, eingliedert, in die Risse des Raumzeitkontinuums fugt; und mit der Zeit fallen uns auch die unterirdischen Gänge auf, die jeden Song des neuen Albums mit irgendeinem anderen des Dylanuniversums "vitriolisch" verbinden.

Dankenswerterweise wurde auf "Tangled Up In Blue" hingewiesen, die Platte "Blood On the Tracks" ist jener Angelpunkt des Dylanwerkes, der einerseits die Motivation der Kehre "Slow Train Coming" vorausdeutet, zum anderen den Schlüssel zur Enträtselung der von Dylan selbst gespielten Aussenseiterfigur in "Pat Garrett & Billy the Kid" - die er schlichtweg selbst ist - liefert.

Und dann: Die Zeit des Dylankosmos läuft seit "Blood/Tracks" rückwärts und sukzessive verlangsamt, mit "Time Out Of Mind" als komplett statischem Fluchtpunkt. Seitdem ist es nicht mehr dasselbe dylaneske Unterwegssein als kathartischem Auferlegtsein incl. einzig möglichem Weg nach draussen - der Mystery Man, der keine Alibis verkauft -, es sind nicht mehr dieselben rätselhaften Wendungen mit quietschenden Reifen, es ist all das und vermutlich noch viel mehr, allerdings wohlarrangiert als Déjavu in einem Sittengemälde namens "Dylans Americana."

Klar, die Musik ist sexy und sonstwas, eben bilderbuchhaft amerikanisch; apokalyptisch? Nö. Karneval? Zydeco-Neworleans ist dabei, sure.








Christian Erdmann:
 
Point taken. "Time Out Of Mind", Pièce de résistance der Dylan-Neuzeit, der Referenzpunkt, der die Essenz definiert, für mich zufällig am Ende eines (schreibe das Wort errötend) Schicksalskreises, funktionierte bei mir damals so, als wäre ich der Charakter in "Tangled Up In Blue" und er die rothaarige Frau:

Then she opened up a book of poems / And handed it to me / Written by an Italian poet / From the thirteenth century / And every one of them words rang true / And glowed like burnin' coal / Pourin' off of every page.

Hinzu kam, daß kurz zuvor mein Vater gestorben war. Kurz, nachdem "Modern Times" bei mir anlangte, starb meine Mutter. Zuletzt kamen Dylan-Platten in schmerzlichen Phasen, wo die schwingende Sichel auch Tod eines alten Selbst forderte. Die neue Platte hat in dieser Hinsicht frei. "I'm motherless, fatherless" ("Shake Shake Mama").
 
 



 

Und die Platte dazwischen, auf der er sang "I wish my mother was still alive" (in "Lonesome Day Blues") - ? Das ist es ja eben: "Blood On The Tracks" ist kanonisiert als die ultimative "separation"-Platte. Aber sie ist vielleicht viel mehr "methodisch" (in Deinem Sinne) als gedacht. 2001 sagte Dylan nämlich genau über "Love & Theft":

"I've never recorded an album with more autobiographical songs. This is the way I really feel about things. It's not me dragging around a bottle of absinthe and coming up with Baudelairian poems. It's me using everything I know to be true."

Und weiter hieß es:

Asked about the Lonesome Day Blues line, he declines to discuss her death last year, except to say, "Even to talk about my mother just breaks me up."

Insofern wäre ich nach wie vor vorsichtig mit der Beantwortung der Frage, where Dylan does what. Point taken auch zu "Dylans Americana", ist schon richtig und alles sehr schön formuliert von Dir, aber er steckt einfach von Anfang an zu tief in all dem drin und will da auch nicht raus. Es geht nicht um Folk, Blues, irgendein Genre. Was Dylan an den "oldtimers", wie er in den "Chronicles" schreibt, immer bewundert hat, ist ihre "chilling precision". Und die zu erreichen, ist keine kleine Sache, frag Flaubert. Und nach der strebt auch Dylan nach wie vor, seit "Time Out Of Mind" vielleicht wie nie zuvor; "using everything", um auszudrücken, "how he feels about things". Richtig mag aber sein, daß die dichterische Präzision schon längst nicht mehr nur rein gegenwärtigen Erfahrungen gilt.








ray05:  
 
So, tonight's the night: No Direction Home - Bob Dylan von Martin Scorsese [2005]. Doppel-DVD. 204 Minuten Spielzeit. Nie gesehen bislang, mal schauen, wie weit ich heute damit komme ...

"Martin Scorsese schaffte tatsächlich ein kleines Meisterwerk. Auswahl, Schnitt, Rhythmus und Distanzgefühl waren seine wichtigsten Werkzeuge. Und so wurde der Film eben nicht nur eine Hommage an Bob Dylan, sondern auch ein phantastisches Stück bildhafter Kulturgeschichte. Und wenn nach diesem Film noch jemand der Meinung ist, Dylan könne nicht singen, sei kein Poet und kein originaler Musiker, dann muss es sich um einen Kunstbanausen handeln," meint Herr Fuchs auf amazon. :)








Christian Erdmann:
 
Sehr guter Film. Wirklich großartig, was der Rezensent da "bildhafte Kulturgeschichte" nennt, sprich, die Art, wie Scorsese Zeitdokumente einspielt. Das erste, was mir gerade einfällt, weil es mir als erstes die Haare aufstellte: Odetta, so nach einer Viertelstunde etwa, kurz nachdem Dylan erzählt, was für eine Haltung ihm Folk vermittelte gegenüber Institutionen und Ideologien.
 
Der erste Film, den ich je auf Video aufnahm, war übrigens Dylans "Renaldo & Clara". :)








ray05:  
 
Mann-o-mann, Tuschkin; das ist genau DIE Stelle, bei der ich gestern abend nicht mehr weiterschauen konnte, den Film stoppen musste. Es sind Allen Ginsbergs bewegte Pausen, die so erschüttern, diese Zeitlöcher; sein Überwältigtsein von der erlebten Wahrheit, dass mit Dylan DIE - nicht irgendeine - "Botschaft an die nächste Generation weitergegeben wurde". 

Zehn Minuten zuvor meinte Dylan: "Ich musste die Songs so schreiben; in einer Sprache, die ich niemals zuvor gehört hatte." Dann sagte einer: "Die Songs hatten eindeutig mit unserem Leben heute zu tun, aber gleichzeitig schienen sie 200 Jahre alt zu sein."

Kämpfen musste ich dann schon, als Mavis Staples von der schwarzen Gospelgruppe Staple Singers sagte: "Wie konnte es sein, dass ein 20jähriger Weisser sang: Durch wieviele Straßen muss ein Mann gehen, bis er Mann genannt werden kann ... Das ist es doch, was mein VATER erlebte; ER war es doch, den man nie als Mann bezeichnete. Dylans Lieder waren inspirierend wie beim Gospel, was er schrieb, war wahr ..."











Anhang:
 

IsArenas:  
 
Hallo Aljoscha! Und er macht einen poltischen Anspruch in seinen Texten geltend, den er irgendwann vor bald 30 Jahren schon in Frage stellte (...) 
 
 
 

Christian Erdmann:
 
Hallo, die Reduktion auf "politischen Anspruch", "Protestsänger", "Revolution" etc stellte er selbst doch schon viel früher in Frage. 

- Wie viele von den Leuten, die sich wie Sie im gleichen musikalischen Bereich abplagen, sind Protestsänger? Leute, die den Song dazu benutzen, um gegen die Gesellschaft zu protestieren, in der wir leben. Sind es viele?
- Yeah, Sie können sagen, 136. 
- Sie meinen exakt 136?
- Naja, gut, es mögen 132 sein.
- Können Sie mir einige davon nennen?
- Protest? Oh... Sie wollen nur Sänger?
- Yeah, geben sie mir ihre Namen. Wer sind Sie?
- Na ja, hm... ich werde mal anfangen...
- Wie ist es mit Barry McGuire? Ist er einer?
- Nein, nein...
- Was ist er?
- Er, er ist so ne Art von Mittelwestler und ... (unverständlich) ... bestätigt jedem, daß McGuire ein Protestsänger war, daß er wirklich ein Protestsänger zu sein hatte...
- Was bedeutet Ihrer Meinung nach das Wort "Protest"?
- Für mich? Es bedeutet... singen, wenn ich nicht singen will.
- Was?
- Es bedeutet, gegen deinen Willen singen zu müssen.
- Sie singen gegen Ihren Willen zu singen?
- Nein, nein.
- Singen Sie Protestsongs?
- Nein.

- Bevorzugen Sie Songs mit einer unterschwelligen oder einer direkten Botschaft?
- Mit was?
- Eine unterschwellige oder direkte Botschaft?
- Oh, ich mag solche Songs wirklich überhaupt nicht. Botschaft? Wie meinen Sie das? Welcher Song hat eine Botschaft?
- Naja, "Eve Of Destruction" und solche Songs.
- Die ziehe ich welchen vor?
- Ich weiß nicht, Ihre Songs scheinen eine unterschwellige Botschaft zu haben.
- Unterschwellige Botschaft!?
- Na ja, sie klingen danach!
- Wo haben Sie das gehört?
- In einem Filmmagazin.
- O mein Gott! (Lacht) O mein Gott! Na ja. Wir wollen's lassen. Wir wollen diese Dinge hier nicht diskutieren.

- Haben Sie den Begriff "Folk-Rock" erfunden?
- Sicher. Ich saß an einem Tag so rum und sagte: "Folk-Rock."

- Nehmen Sie an den neuen Sachen teil? Sexuelle Freiheit und auch...
- Ich nehme an keiner Sache teil! (Lacht) Überhaupt nicht! Ich wette, Sie können nicht eine Sache nennen, an der ich teilhabe! Hauen Sie ab, ich warne Sie! (Lacht)

(1965)

Bzw. auch sein Satz zu "Auf welcher Seite stehst du" - : "Ich meine, auf welcher Seite kann man denn stehen?"


















Mittwoch, 2. November 2022

David Bowie - Ereigniskarte IV














"Lodger": Avantgarde, die so tut, als wäre sie Pop, voller seltsamer Texturen, phantastisch inkohärent und relentlessly odd. Einige Songs ("African Night Flight", "Move On", "Red Sails") handeln vom Unterwegssein, aber so, als würde man ölfarbverschmierte Postkarten erhalten von einem, der schneller als die Post ist. Wir sind alle nur durchgängerisch hier. Andere Songs handeln vom Nichtweggehenwollen (-> "Look Back In Anger", oder "Yassassin": "You want to fight / But I don't want to leave"). Für "Red Money" verwendet Bowie den backing track des ersten Songs seiner Kollaboration mit Iggy Pop ("Sister Midnight"), mitten im Text diese Szene:

I was really feeling good
Reet Petite and how d'ya do
Then I got the small red box
And I didn't know what to do
'cause my fingers could not grope
And I could not give it away
And I knew I must not drop it
Stop it, take it away

In einem Interview sagt Bowie, er habe entdeckt, daß er in seinen Gemälden immer wieder rote Kästen male, und erkannt, daß sie irgend etwas Bedeutendes symbolisieren müssen: "This song, I think, is about responsibility. Red boxes keep cropping up in my paintings and they represent responsibility."

Mehr als zwei Dekaden später läßt David Lynch in "Mulholland Drive" Betty Elms in ihrer Tasche eine mysteriöse blue box finden. Es wird behauptet - I don't know -, dies sei ein Lacan-Zitat: 

"Suppose you're dreaming about yourself disguised as your desired self / other and you open a box with a key to find only darkness, your dream will collapse, and you'll wake up to find your real self. That's the situation as it occurs in dreams. But when you're not dreaming, and you open that same box, your psychosis has just killed you."

Bei eigentlich allen Bowie-Songs versteht man auch beim tausendsten Hören nicht ganz, was sie so großartig macht, man weiß nur, außer Bowie hätte niemand sonst einen Schimmer, wie man sie so großartig macht. "Lodger" wirkt zugänglich, man freut sich über die Einladung, und am Ende läuft man darin herum wie in einem Lynch-Film. "Fantastic Voyage" ist ein eher trügerischer erster Song. 

"We're learning to live with somebody's depression / And I don't want to live with somebody's depression". "Fantastic Voyage" reagiert pissed off darauf, daß man in Zeiten atomarer Aufrüstung von Narren regiert wird und unser Hiersein von der Willkür ihrer Launen abhängt. Leben unter nuklearer Bedrohung an einem lächerlich seidenen Faden, das Gefühl der Machtlosigkeit und die Angst davor, daß die menschliche Existenz, this fantastic voyage, ein sinnlos abruptes Ende findet, eben: daß die Auslöschung allen Lebens ("They wipe out an entire race") von somebody's depression abhängen könnte. Auswirkungen apokalyptischen Ausmaßes durch pathologische Unvernunft von Macht- und Befehlshabern. (Iggy Pop drei Jahre später in "Watching The News": "The President today announced that he's pushing all the buttons in a giggling fit.")

"Fantastic Voyage" handelt von Unterwegssein und Nichtweggehenwollen zugleich und ist geradezu humanistisches Manifest, in dem das schöpferische Individuum den Wert des Lebens selbst verteidigt gegen politisch instrumentalisierbare Werte (dignity, loyalty), die im globalen Machtkampf destruktive Kraft entwickeln. Depression kann jeden ereilen, hier aber steht das Wort depression im Kontext einer glasklaren Erkenntnis: es geht im Weltschlamassel nicht um einen clash zwischen Kulturen oder Zivilisationen. Es geht um einen clash zwischen denen, die das Leben lieben, und denen, die das Leben nicht lieben.
 
 
 
 
 
 
 
 

 
 
"And the wrong words make you listen in this criminal world" und "I'll never say anything nice again, how can I" sind für jeden Erdbewohner mit nicht völlig zersetztem Zerebrum zwei der -zig besten Bowie-Zeilen. Ob sich in "Fantastic Voyage" der Einfluß der Freunde aus der Berliner linken Szene bemerkbar macht oder Bowie sein rotes Kästchen responsibility in der Hand hält, "Lodger", dieses immer irgendwie im Schatten (von "Low" und "Heroes") gebliebene Bowie-Album, für Adrian Belew mittlerweile "the greatest thing Bowie has given to the world", beginnt mit einem unerwarteten Schub ins Irdische. Einerseits. Andererseits gleitet "Fantastic Voyage" ungreifbar überirdisch dahin. Bowies Realität ist noch lange nicht die Realität von, sagen wir, Coldplay. Das Arrangement nur dieses einen Songs und die Art, wie Bowie ihn singt, machen hinlänglich deutlich, daß Bowie jeden Kontakt mit Coldplay ablehnen muß. (-> "It's not a very good song, is it?")

Albumcover und Albumtitel scheinen eine Verbindung zu Polanskis "Der Mieter" herzustellen, remember it's true: nach ihrer allerersten Begegnung in den Büroräumen von Essex Music, 1967, gingen Bowie und Tony Visconti in ein Kino, um sich Polanskis "Das Messer im Wasser" anzusehen. 

Zu allem anderen besitzt "Fantastic Voyage" auch noch den Charme eines Arrangements für Mandolinen, die man dann quasi gar nicht hört. Bowie schickte seinen Fahrer kreuz und quer durch Montreux, um Mandolinen aufzutreiben, drei Mandolinen werden schließlich von Tony Visconti, Simon House und Adrian Belew gespielt, jede auf drei Spuren, macht zusammen eigentlich neun Mandolinen, die dann im Mix nur noch als schimmernder drone im Hintergrund erscheinen, über Kopfhörer gerade noch als Mandolinen wahrnehmbar. Das muß man alles auch erstmal so machen.


















Montag, 31. Oktober 2022

David Bowie - Ereigniskarte III

 

 

 



"Station To Station", "Low", "Heroes": Benjamins Engel der Geschichte, der auf das starrt, wovon er sich entfernt, während "ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft...", und er klingt wie Bowies "Speed Of Life". Bowie sagte einmal, er habe immer eine Art Heimweh nach der Zukunft verspürt. Das beinhaltet die Vorstellung, daß die Zukunft dich schon kennt. Daß Dinge aus der Zukunft in der Gegenwart Zeichen geben. SO DEEP IN YOUR ROOM YOU NEVER LEAVE YOUR ROOM SOMETHING DEEP INSIDE OF ME YEARNING DEEP INSIDE OF ME. "Low", "Heroes", "The Idiot", "Lust For Life", vier Sterne als Sternbild, ähnlich wichtig für mich wie der Große Wagen für phönizische Seefahrer.

Mehr zu "Station To Station", "Low" und "Heroes" -> hier. "Sound And Vision" handelt von totalem Rückzug, drifting into my solitude, waiting for the gift. Wenn man so will, und ich wollte immer, ist der bezaubernde 8-Sekunden-Cameo-Auftritt von Mary Hopkin ein Lebenszeichen der Muse, der Anima, der Sphinx. "Katharsis eher; Entfremdung und Depression, aber auch genau der Weg hinaus." - "Sound And Vision" ist, als könne man, umgeben von unauslotbarer Dunkelheit, der Kristallisation von Schönheit zusehen.
 
 
 
 
 
 
 
 

"Low", das Album, war seiner Zeit so voraus, daß es praktisch jeder Zeit voraus ist, und darin jederzeit zeitlos. Wie oft man "Low" auch hört, man hat immer das Gefühl, nie etwas Vergleichbares gehört zu haben. 

Seite 1: Expressionistische Fragmente, angst ridden, klaustrophobisch und in futuristischer Verzerrung, zugleich in fiebriger Euphorie irgendeiner Bestimmung auf den Fersen und darin unfaßbar tröstlich und uplifting.

"Aljoscha der Idiot", Kapitel 17: "Oleg war ein freundlicher Skeptiker, der sich für gewöhnlich wohlwollende Zurückhaltung im Urteil auferlegte und ganz aus Besonnenheit bestand, manchen Phänomenen aber völlig rückhaltlos den Status 'Wunder' zusprach, etwa der LP Low von David Bowie, der Oleg mit numinoser Scheu begegnete."

Tatsächlich hatte es mich beeindruckt, wie dieser scheinbar so wohltemperierte Mensch einmal über die ersten beiden Platten der Psychedelic Furs gesagt hatte: "Zwei Meisterwerke." Über "Low" hat sich Oleg nie geäußert. Ich habe, so much for Dichtung und Wahrheit, meine eigene Verehrung in diese Szene geschmuggelt.

Tony Visconti bringt für die Aufnahmen einen Eventide Harmonizer mit. Als Bowie und Eno ihn fragen, was der H910 so tut, antwortet Visconti: "It fucks with the fabric of time." Nicht zuletzt der Klang der Snare von Dennis Davis auf "Low" ("like an explosion contained in a tin can", pitchfork.com) verdankt sich diesem Wunderteil.

Cut: "Outside", 1995, der Song "Segue: Nathan Adler (1)", Bowie erzählt mit der Stimme von Nathan Adler, daß Leon Blank mit einer Machete "a zero in the fabric of time itself" schnitt. 

Fucking with the fabric of time, Einstiche / Einschnitte vornehmen in Gefüge und Textur der Zeit. "Station To Station", "Low", "Heroes" - die eigentliche "Trilogie" in Bowies Werk, eine Trilogie vom Beschwören des Unausweichlichen. Was nichts anderes bedeutet als: Bewußtseinszustände vermischen sich mit der realen Welt, aber nicht in der Psyche des Protagonisten, sondern in der Echtzeit. Das ist das Verblüffende. Daß man auf diese Weise ein ganz neues Leben beginnen kann, Jesus. Rekonstruktion des Selbst durch magischen Realismus. "A New Career In A New Town".

"The only heroic act one can fucking well pull out of the bag in a situation like that is to get on with life from the very simple pleasure of remaining alive, despite every attempt being made to kill you." (Bowie, Oktober 1977)

"Talking through the gloom" (in "What In The World"), von Isolation zu Isolation ("so deep in your room"), ist schon Anrede an das (die) Kommende, noch Verborgene: wenn man so will, und ich wollte immer, ist "You're just a little girl with grey eyes" die Muse, die Anima, die Sphinx, auch wenn man von der Bedeutung des gerade Gesagten noch keinen Funken versteht. Musikalisch ist "What In The World" ein irrwitziger, überschnappender Tumult, bei dem passenderweise Iggy Pop backing vocals beisteuert, als würde er bei 37000 km/h aus dem Fenster eines Raumschiffs rufen, und bei dem überhaupt nur der Bass von George Murray bei klarem Verstand ist.








"Be My Wife" ist eins meiner liebsten Bowie-Videos. Schmerz, Verlassenheit, Traurigkeit, die sich zu Tode weinen möchte, jenseits von Gut und Böse, eine verletzte, gebrochene Seele; zugleich so particularly glum und weird, daß es komisch ist, auch für den Interpreten selbst, voller fuck it-Szenen, als wäre es die Anstrengung nicht wert, wo-bin-ich-und-wie-komme-ich-hierher-Miene, man ahnt, wie mutig Bowie in "Be My Wife" Gefühle teilt, und doch bleibt die Mitteilung unlesbar, kryptisch.
Cool, berührend und scary zugleich.
Letzte Anstrengung, eine Ehe zu retten, unironische Bitte? Ein Liebeslied, das am Liebeslied zweifelt? Umwandlung genuiner Angst in Sehnsucht und Zukunftshoffnung? Die Band will Bowie große Gesten abverlangen, der im Video dann aber lieber ganz und gar verstummen möchte.









Tatsächlich ist das Video auch Tribut an einen Stummfilmstar, den Bowie bewundert, Buster Keaton. Während der Dreharbeiten zu "The Man Who Fell To Earth" studiert Bowie Buster Keaton-Biographien, plant angeblich sogar einen Film über Keaton. Die Ernsthaftigkeit der Lyrics von "Be My Wife" kontrastiert Bowie im Video mit einer Art Keaton-auf-LSD-Verkörperung.










Im April 1976, als Bowie und Iggy Pop sich auf der Reise von Zürich nach Moskau befinden, bleibt ihr Zug für einige Stunden in einem Warschauer Bahnhof stehen. Bowie macht einen Spaziergang durch den Zoliborz-Distrikt und erwirbt ein paar Platten des Folk & Tanz-Ensembles Śląsk. Der Gesang auf einem Stück namens "Helokanie" muß Bowie sehr beeindruckt haben, ein entferntes Echo davon findet sich auf "Warszawa". 

Die erfundene Sprache, die Bowie auf "Warszawa" und "Subterraneans" singt, klingt wie die Sprache einer untergegangenen Zeit. Die vier Stücke auf Seite 2 von "Low" sind Seelenlandschaft als lichtlose Stadt, Streifzüge durch kalte andere Seiten, und doch erhebt sich Bowies Stimme voller Hoffnung. Vorerst vollkommen private Sprache, die den dunklen Bann bricht. Ultimativ autistische Geste, die plötzlich universelle Kraft annimmt, das Universum öffnet. Ein Ruf in hermetischer Sprache, der einen tanzenden Stern an den Himmel setzt.

"The only hold over from the proposed soundtrack [für "The Man Who Fell To Earth"] that I actually used was the reverse bass part in Subterraneans. Everything else was written for Low."
 









SPIEGEL ONLINE Forum "Lieblingsfilme - was ist großes Kino?"

29.05.2006


Gwynplaine: 
 
Nicolas Roeg hat übrigens auch diesen abgefahrenen Science Fiction Film "The Man Who Fell To Earth" mit David Bowie in der Hauptrolle gedreht. Hat den mal jemand gesehen?






Christian Erdmann:
 
12mal (grobe Schätzung).
Ich kann mich sogar rühmen, mal "Schöner Gigolo, armer Gigolo" gesehen zu haben, jenen Film, über dessen Qualität Bowie mal sagte: "Meine 32 Elvis-Presley-Filme in einem", und der rasch von allen Beteiligten offensiv vergessen wurde.
Ich liebe den Roeg-Film, und mir ist auch egal, ob Bowie sich da in einer seiner allerbesten musikalischen Phasen ("Station To Station" / "Low"), psychisch indes schwer angeschlagen, vornehmlich selbst spielt. Zumindest ist das einer der Filme, die mit einem anderen Schauspieler eigentlich ohnehin undenkbar gewesen wären.










Alles, was ich tun konnte, sagt Nicolas Roeg über Bowie in "The Man Who Fell To Earth", war: stop myself from trying to influence him.

Ich würde gar nicht mehr darauf schwören, daß "Schöner Gigolo, armer Gigolo" so schlecht war, jedenfalls ging ich ins Streits-Kino allein und mit Tarnkappe, nicht wegen Marlene Dietrich, sondern strictly wegen Bowie. So wie "Boys Keep Swinging" auch eine der wenigen Singles war, die ich besitzen mußte. Auf "Lodger" nannte Bowie das Leben Fantastic Voyage und sollte mir eine tiefere Wahrheit begegnen, lasse ich es wissen. Auf "Look Back In Anger" läßt ein Engel wissen, daß es Zeit ist zu gehen.

"You know who I am," he said 
The speaker was an angel
He coughed and shook his crumpled wings 
Closed his eyes and moved his lips 
"It's time we should be going."
(Waiting so long, I've been waiting so, waiting so)
"Look back in anger, driven by the night, till you come."
(Waiting so long, I've been waiting so, waiting so) 
"Look back in anger, see it in my eyes, till you come."
No one seemed to hear him
So he leafed through a magazine
And, yawning, rubbed the sleep away
Very sane he seemed to me
 
Im Video malt Bowie sich selbst als Engel, später fangen Gesicht, Gemälde und Spiegelbild sozusagen an, ihr Selbst zu tauschen. Ein Song über den Tod als Tod des alten Selbst - oder darüber, daß der Engel eben noch warten muß. Carlos Alomar beschließt, sein Solo zu einem wtf-Rhythmusgitarrensolo zu machen, Dennis Davis am Schlagzeug im horror vacui füllt jeden erreichbaren Raum mit irgendwas, "Lodger" ist ein Album voller im Bowie-Kanon unterschätzter Experimente und "Look Back In Anger", ein eher nicht so prominenter Song, für mich das Juwel. Bowies akrobatische Vocals über sheer force am Rande der Unbeherrschbarkeit, WAITING SO LONG, I'VE BEEN WAITING SO, WAITING SO einer der schönsten Chorusse in der an Chorusschönheit nicht armen Songgeschichte Bowies.