Impressionen zur
Wim Wenders-Werkschau in der ARD-Mediathek. Exzerpte aus -> "111 Lieblingsfilme", Kommentarsektion
Über "Paris,
Texas": -> hier
Über "Der
amerikanische Freund": -> hier
18.07.2020
ray05:
Eine
Wenders-Retrospektive ist zugänglich gerade in der Mediathek des Ersten. Stehe
gerade bei "Paris, Texas", der Streifen ist womöglich besser noch als
wir ihn je hielten. Handkes "Linkshändige Frau" sah ich gestern
überhaupt zum ersten Mal, die Zeit wird sicherlich kommen, in der so ein
Kunstwerk mal adäquat gewürdigt werden kann mit Worten. "Die Angst des
Tormanns" gefällt mir immernoch gut in jedweder Hinsicht, "Der
Amerikanische Freund" ist in meinen Augen heute ein unsterbliches
Meisterwerk, wie konnte ich das je missachten. Geh jetzt direkt auf den
Himmel/Berlin-Komplex zu, Gott sei meiner lieben Seele gnädig. :)
Antirationalistischer
Block / Christian Erdmann:
"Paris,
Texas" und "Der Himmel über Berlin" hattest Du ja schon
zielsicher in Deinen 111. "Die linkshändige Frau" sah ich auch noch
nie, das wird sich nun ändern. "Alice in den Städten" noch zu
Schulzeiten mehrmals in Programmkinos gesehen. "Im Lauf der Zeit"
zuletzt in einer heißen Sommernacht im TV, 2015. Kinoprojektoren reparieren im
Zonenrandgebiet, eigentlich Traumjob prä-Strumpfnahtgeraderücker im Pariser
Lido. Rüdiger Vogler. Hanns Zischler, der mal ein Buch über Kafka geschrieben
hat.
Orte und
Entortetsein. Am falschen Ort sein und den richtigen Ort suchen. Unterwegssein,
zerbrochene Träume, wiedergefundene Träume. Träume. Am anderen Ende der Welt
bin ich mal zu einer Handleserin gegangen, sie hieß Ruth. Sie sagte mir,
"You travel a lot, and you will travel a lot, but you don't travel
blindly, you go with a purpose." Travel / finding a purpose. Und dabei:
Obsession mit Rock'n'Roll und seiner Bedeutung. Musik als plot development.
Als Begleitstimme des Schicksals, vgl. "From Her To Eternity",
Damiel, Marion. Such a dear man, Wenders. Daß "La sirène du
Mississipi" auch der liebste Truffaut-Film von Wenders ist, hielten wir
hier ja schon fest, und bringt ihn an den Rand der Unfehlbarkeit. :)
"Bis ans Ende
der Welt". Einer dieser Filme, den alle hassen oder mißlungen finden, und
ich finde ihn phantastisch. Gerade ausgekramt, was ich 2010 schrieb auf SPON:
"Ich fand
schon die Kinofassung klasse, schon, weil Wenders sich so furchtlos mit fast
jedem Bild dem Unglaublichen nähert. Es war in den 90ern opportun, Wenders und
Herzog hierzulande zu bashen, vielleicht gelingt es ja in den Zeiten von
Zweiohrküken und Einsacktüten, auch Wenders über das Renommee, das er ebenso
wie Herzog im Ausland genießt, auch hier wiederzuentdecken, über Herzog-Filme
fällt einer neuen Generation schon längst die Kinnlade runter. Die
Protagonistin aus 'Bis ans Ende der Welt' heißt Claire Tourneur – Hommage an
den genialen Jacques Tourneur, Regisseur u.a. eben des 'Cat People'-Originals.
Gespielt wird sie von Solveig Dommartin, die ja auch in 'Der Himmel über
Berlin' erschien, und die leider Anfang 2007 verstorben ist."
Zum ersten Mal
eines Nachts in Dänemark gesehen, mir unvergeßlich die Euphorie, als am Ende
die Musik von U2 einsetzt und die Credits durchrauschen. Wollte immer schon die
100-Stunden-Langfassung sehen, und jetzt bringst Du mich da hin. Love you, man.
:)
19.07.2020
ray05:
Mein
cineastischer Traum ist: Wenders, Herzog und Jarmusch verfilmen parallel Kafkas
Schlossroman. Die Werke werden dann weltweit einen Monat lang konkurrenzlos in
den Kinos gezeigt, täglich abwechselnd. Dann können die Leut' sich mal über was
Or'ntliches die Köpfe heißreden und produzieren nicht mehr ihren üblichen
Scheiß. :) - Alle drei sind ja absolute Großmeister im genauen Austarieren von
Weltwissen und Heilswissen, sie rechnen - so mein Eindruck - stets mit dem
namenlosen Reisenden, der plötzlich an der Tür klopft und dem du stumm eine
Mahlzeit bereitest. Das ist die Story. In meinem Kopfkataster stehen Jarmusch,
Wenders und Herzog nebeneinander, flankiert von Antonioni und Godard. Dieser
Komplex des zugleich skrupulösen und intuitiven Weltbildererfindens hat mich
geprägt, das kann ich heute sagen. Ein komplettes Wunderwerk sind die ersten 40
Minuten von "Falsche Bewegung". HC Blech, Nastassja Kinski
("Mignon") und Vogler ("Wilhelm Meister") im Bahnabteil,
und auf der Parallelstrecke verfolgen wir mit Vogler den Zug mit Schygulla am
Abteilfenster. Das ist mehr als genial gemacht, das ist überhaupt keine
"Mache", die Szenenfolge rührt intuitiv und locker ausgreifend an
voraristotelische Dinge. Es ist schwer, über Wenders zu reden, so wie es schwer
ist, über seinen eigenen großen Bruder zu reden.
Antirationalistischer
Block / Christian Erdmann:
Ein Malerfreund und
ich erörtern immer, wenn wir uns auf der Straße begegnen, Pläne zur
Weltverbesserung, über unseren Köpfen eingeblendeter Titel: Die wohlwollenden
Diktatoren. Der Plan, die drei Verfilmungen von "Das Schloß" einen
Monat lang alternativlos aufzuführen, ist jedoch unübertrefflich in seiner
despotischen Philanthropie. :)
Traumprojekt,
ernsthaft. Stach spricht bei K. / Das Schloß von "Da ist nur ein Mann, der
mit unbegreiflicher Beharrlichkeit versucht, in einem Dorf Fuß zu fassen."
Großmeister die drei tatsächlich auch im Vorstellen dieser unbegreiflichen
Beharrlichkeit. "Die Unenträtselbarkeit des Nicht-Untergehns"
(Kafka). People are strange when you're a stranger. Dem Schloß näherkommen,
Annäherung an ein Absolutes, das verborgen bleibt, Mächte, die mächtig sind,
ohne sich zu zeigen, Sein, Identität, Glück, Erlösung, alles muß Mächten
entrissen werden, irgendein Graf Westwest hat aristotelische Rationalisierungen
überlebt, irgendein Deus absconditus hat das Buch der Liebe geschrieben.
"Die Oma wohnt
gar nicht in Wuppertal." Gestern nacht also meine Dir verdankten Wenders-Festspiele
begonnen mit "Alice in den Städten", zum ersten Mal wiedergesehen
nach 156 Äonen. Wie unsentimental dieser Film. Das Italienische Eiscafé
beschwor meine Kindheit in Schwarzweiß, direkt daneben hätte das Metropol-Kino
in Remscheid stehen können, in dem ich Barbara Steele verfiel, mit 7 oder so.
Rüdiger Vogler, verbindungsloser Outsider, seine leicht schnöselige
Verschrobenheit, still belustigt und troubled. In irgendeiner
internationalen Produktion, in der er sich selbst synchronisiert mit seiner
unverwechselbaren Stimme und Diktion (hab vergessen was, spielt er irgendwo
einen König oder so?), sagt er "Potzblitz! Das ging schnell." Immer,
wenn ich "Potzblitz!" sage oder denke, ist es quasi Rüdiger Voglers
Stimme. Alice: "Traum. Solche Sachen gelten nicht. Nur Sachen, die es
wirklich gibt." Alice stellt auch die Frage, die ein Teil von mir
eigentlich jederzeit und überall stellt: "Warum ist hier eine andere
Zeit?" Heute nacht "Falsche Bewegung", hopefully.
21.07.2020
ray05:
Die
ersten knapp drei Stunden von "Bis ans Ende der Welt" gerieten heute
nacht zum beinharten Exerzitium, weil dieses Springen von Kontinent zu
Kontinent mir vorderhand unzureichend motiviert schien, weil halt allzu lange
im Dunkeln blieb, worauf der Sohn des Erfinders hinauswollte. Im Moment des
Erscheinens von Jeanne Moreau und Max von Sydow im australischen Busch änderte
sich dies schlagartig. Fühlte mich erinnert an die Rezeption von "Faust
II", in dem auch der Nachvollzug der vielen Etappen langwierig schwer
wurde, bis dann endlich Philemon & Baucis auftraten an ihrem Deich und sich
der Komplex zu fügen begann. Werde mir die ersten zwei Drittel nochmals ansehen
müssen. :)
Übrigens
nahm Wenders mit der Darstellung von Claires Suchtverhalten bzgl. ihres kleinen
Traumreproduktionsrechners die Smartphonesucht von heute um zwanzig Jahre
vorweg. Eine 18jährige, der man das Smartphone wegnimmt, wird kaum anders
reagieren als Claire im Wendersfilm. Ja, am Anfang war das Wort, aber der
Schriftsteller schreibt seine Geschichte rekapitulierend vom Ende her. Gerne
hätte ich noch ein Stündchen dabei zugesehen wie er Claire von der
Traumtechnobildersucht befreit durch Re-Alphabetisierung, aber der Schluss ist
natürlich großartig: das Buch erscheint und alle sind glücklich, in Raumstation
und auf Erden. :)
Antirationalistischer
Block / Christian Erdmann:
"Falsche
Bewegung" funktioniert tatsächlich genau wie ein Roman aus dem 19.
Jahrhundert, in dem es lange Abschweifungen gibt, theoretische Erörterungen und
Dialoge, von denen eine bestimmte Art von Lesern behauptet, daß sie den Plot
nicht voranbringen. Dabei gehören sie natürlich konstitutiv zum Plot.
Völlig unmöglicher Film eigentlich, diese Charaktere aus Wilhelm Meister-Zeit,
die in Bonn das Sternhotel verlassen und den Mauspfad hochspazieren. Und dabei
nur noch ein paar hundert Meter entfernt sind übrigens von "Aljoschas
Ankunft in B*** vollzog sich kurz vor Mitternacht."
Peter-André Alt
bemerkt irgendwo zu "Das Schloß", daß es eine Reihe von
"handwerklichen Unebenheiten, Abstimmungsfehlern und Versehen" gibt.
Das kann man natürlich so formulieren für ein, technisch gesehen, Fragment
gebliebenes Werk, das trotzdem ein unangreifbares Meisterwerk ist. Vielleicht
gehören diese scheinbaren Aussetzer schöpferischer Macht aber einfach zum
Abbild einer Wirklichkeit, die nicht den Gesetzen von Logik und Linearität
gehorcht, in der das Sinnhafte ständig abbricht usw. So sie stehenbleiben als
ungewollt Gewolltes, sind sie doch wieder etwas anderes als
"Aussetzer". In "Falsche Bewegung" verspricht sich Hanna
Schygulla an einer Stelle, als sie zu Vogler sagt: "Deine läch... deine
sachliche Miene ist nämlich sehr lächerlich." Diese Momente scheinen awkward,
Wenders läßt sie stehen, weil in ihnen das Leben selbst sich offenbart. Auch
darin ist er sehr furchtlos. Zumindest in seinen frühen Filmen gibt es diese
Momente des Nichtschauspielerhaften der Schauspieler.
Ich dachte, ich
hätte den Film vor langer Zeit schon gesehen, aber nein, ich kannte ihn gar
nicht. Oh, ja, diese Zugfahrt, Vogler, HC Blech, Nastassja Kinski, im
Parallelzug Hanna Schygulla. Blechs Nasenbluten, sein leicht unheimliches
Lächeln, das ist schon recht nah am Slapstick des Unverständlichen bei Kafka.
Nastassja Kinski, die Jongleuse, die nicht jonglieren kann. Wunderbar die
Szene, in der sie Vogler / "Wilhelm" beim Lesen des "Taugenichts"
zusieht, als würde er ihr vorlesen.
"Die Rückkehr
der reitenden Leichen" im Glückstadter Kino. "Ich möchte etwas
schreiben, das ganz und gar notwendig ist." Die Einsamkeit in Deutschland
immer maskiert "mit all diesen verräterisch entseelten Gesichtern".
Hanna Schygulla zwischen "Dir ist so vieles fremd. Das gefällt mir an
dir." und ihrem Schauder davor, daß Wilhelm sich von nichts berühren läßt.
Existentieller Romantizismus ohne Romantik.
Sah dann gestern
abend, weil schon Wenders-süchtig, "Tokyo-Ga", auch zum ersten Mal.
Das Gespräch mit Ozus langjährigem Kameramann endet genau so bewegend, wie man
sich das Gespräch mit Ozus langjährigem Kameramann vorstellt, dieses
respektvolle Weinen, damn. Schön auch der Kurzauftritt von Werner Herzog, der
von der Schwierigkeit spricht, in dieser "beleidigten Landschaft"
noch Bilder zu finden, Bilder, die rein und klar sind. A true Wernerism. Ach,
und wie Atsuta, der Kameramann, erzählt, wie sie die Locations immer auf langen
Fußmärschen gesucht haben, woraus sie dann irgendwann den Witz gemacht hätten:
"Motivsuche dauert so lange, bis man umkippt." So mittelwitzig, der
Witz, aber in seiner Mittelwitzigkeit wieder sehr witzig. – Dann 1,5 Stunden
"Bis ans Ende der Welt", parallel zu Deinem Exerzitium. :) Aber ich
muß nochmal von vorn anfangen, ich kann nicht fassen, wie unfaßbar gorgeous
die 4-K-Restaurierung aussieht, was jedes Bild da hergibt, ich war nach anderthalb
Stunden völlig fertig. :)
Ja, Wenders hat
eine ganze Menge vorweggenommen, non? Satelliten-Navigation fürs Auto mit Frauenstimme.
:) Rüdiger Vogler wieder (wie in "Alice") mit Kopfschmerzen im
Flugzeug die Stewardess um Aspirin bittend, Werkschau-Binge hilft doch sehr,
die Querverbindungen im Werk zu erkennen. :)
Die Macht des
Unterwegsseins, die Macht der Bilder, die Macht von Geschichten, die Macht der
Obsession.
SEEING THINGS.
Die Macht der
Musik. Wenders hat damals die Künstler darum gebeten, ihre Musik 10 Jahre in
die Zukunft zu projizieren. Patti Smith hat das hingekriegt. :)
Hab gelesen, daß Wenders nach einer Aufführung der Langfassung von "Until
The End Of The World" im Museum of Modern Art in New York 2015 standing
ovations & cheers entgegennehmen durfte. Das wärmt mir das Herz.
23.07.2020
ray05:
Der
schönste Wernerismus ist ja "Also ich zieh mir erstmal die Schuhe aus,
denn so eine Frage kann man nur ohne Schuhe beantworten". Gesagt, getan;
"Chambre 666". Herzog ist auch der einzige der vielen befragten
Filmemacher, der autoritativ die Flimmerkiste ausmacht neben sich. :) - Von den
non-fiction works ist "Tokyo-Ga" sicherlich derjenige, der am ehesten
ein Essayfilm ist in der Tradition von Chris Marker, und nicht umsonst kommen
Marker (und auch Herzog) vor in diesem Film. Klasse sind ja auch die
wundersamen Sequenzen aus der Manufaktur für Speisen-Attrappen. Vielleicht der
"dialektischste" Film von Wenders. Leider hat er nicht erkannt, dass
die speziell japanische Adaption des Golfspiels der uralten Tradition der
vielfältigen Konzentrations- und Meditationsübungen dienstbar gemacht wurde,
also kulturell einverleibt, es geht tatsächlich nicht ums Einlochen. -
Non-fiction days: ich bin gleich weitergegangen zu den "klassischen"
Dokumentarfilmen. "Buena Vista Social Club" hat vermutlich mehr getan
für die kubanische Tourismusindustrie als alles andere. Der Streifen gefällt
mir immernoch sehr gut, aber mit den heutigen Augen kann ich auch die damalige
Leftwing-Kritik ansatzweise nachvollziehen, die ja einen
"kolonialistischen Blick" am Werke sah. Wie auch immer, jedenfalls
kommt Wenders in diesem Film dem verwandten "touristischen Blick",
den er ja mal als "tödlich" bezeichnete, gefährlich nahe. - Dann
"Pina": Nummer 112. Hier ist Wenders der beste Wenders, womöglich ist
"Pina" der Scheidepunkt von mittlerem und Spätwerk. Der Auftakt mit
"Sacre" ließ mir schon Wasserfontänen aus den Augen schießen, und
auch im weiteren Verlauf trat kaum Beruhigung ein.
25.07.2020
Antirationalistischer
Block / Christian Erdmann:
Wasserfontänen aus
den Augen bei "Sacre" in "Pina" und auch weiterhin kaum
Beruhigung, sagst Du. Es ist einfach so, daß Wenders, wie David Lynch, wenn
auch ganz anders, dich, deine Psyche, dein Herz, dein Unbewußtes auf eine Weise
ansprechen kann, die Sturzbäche auslöst. Seine Waghalsigkeit kann mißglücken,
maybe sometimes he tries too hard, I don't know. Nach "In weiter Ferne, so
nah!" verlor ich Wenders aus den Augen, ich sah noch "The Million
Dollar Hotel" und "Palermo Shooting", aber ich drang nicht mehr
durch zu der Magie, vielleicht war da auch keine. Weiß noch, daß Du und Monika
schon zu SPON-Zeiten "Pina" sehr geliebt habt. Und daß Ihr Pina sehr
geliebt habt. Habe ja eher klassisches Ballett und die Neumeier-Werke in meiner
DNA, Nijinsky-Obsession und vor allem meine ewige Faszination mit
"Sacre", -> so gespannt schon auf "Pina".
Chambre 666, bester
Wernerismus, ja. :) Im Grunde hätte er die Frage auch beantworten können mit:
ich habe gerade "Fitzcarraldo" gemacht, wovor sollte ich Angst haben.
– Cannes, Mai 1982, Fassbinder auch zu sehen, das kann doch nur ganz wenige
Tage vor seinem Tod sein. - Godard: Film heißt, das Unglaubliche zu zeigen.
Ja, Ähnliches dachte ich auch, bzgl. der speziell japanischen Adaption des
Golfspiels, dachte, es geht um die Schönheit der Bewegung bzw um die Bewußtheit
in der Bewegung als Schönheit, Zen, something like that. In "Bis ans Ende
der Welt" erscheinen die beiden Ozu-Schauspieler Chishû Ryû und Kuniko
Miyake als Mr und Mrs Mori, um William Hurt zu heilen. Ich war fasziniert bei
Kuniko Miyake von der unfaßbaren Grazie und Anmut ihrer Haltung und Bewegung,
sie ist 75 und die wenigen Sekunden in Wenders' Film, das ist der letzte
Auftritt dieser Frau, die ihre Filmgeschichte als Mädchen von 12 Jahren begann.
Und ich dachte, vielleicht ist Wenders da sogar noch eigentlicher Dokumentarist
als in seinem Dokumentarfilm, da wir diese grazile Bewegung einer japanischen
Schauspielerin jenseits der 70 sehen, die etwas nie verliert, was schon eine
Geisha 100 Jahre vor ihr nie verlor.
"Was passiert
mit dem Werk von Goethe! Überlegen Sie mal! Goethe! Weg für immer!" Dieser
Moment, Claire und Trevor/Sam im Propellerflugzeug, und man hört/fühlt diesen sound,
der Erde und Himmel erschüttert. Die Stille danach. "Sie haben es getan.
Sie haben den Satelliten abgeschossen." Dieser Moment, Claire steigt aus
dem Zug, Sung Li Station, nachts um 3 Uhr 20, der einsamste Ort der Welt.
Dieser Moment, als der Computer die ersten Traumbilder aus dem Gehirn
überträgt. "Bis ans Ende der Welt" ist eine Abfolge eindringlicher
Momente. Eine Abfolge von Bildern, die Bildersucht erklärt, zugleich Warnung
vor der Verführungskraft des Bildes. Diese australische Landschaft, da würde
ich auch Aborigine werden. "Wir müssen uns in unseren Träumen ein Bild von
der Zukunft machen." (Eugene). Ich hoffe, daß die 20-Stunden-Version auch
noch zugänglich gemacht wird. :) "Nur Wunder machen Sinn." (Eugene).
Claires Bericht aus China, den sie per Videofax sendet, die Sachen hat Solveig
Dommartin tatsächlich auf eigene Faust aufgenommen, nur in Begleitung eines
einzigen Kamerahelfers, weil das Budget auf dem Nullpunkt war. Man weiß so
wenig über sie? Was für eine Heldin.
ray05:
Dommartin
scheint irgendwie durch die Schubladen gefallen zu sein. Schwerer kosmischer
Irrtum. Leider haben wir keinen Peeperkorn mehr, der alles in die richtigen Verhältnisse
zueinander bringt. :)
"Bis
ans Ende der Welt" werde ich mir ganz am Ende dieser Werkschau nochmal
geben, tagsüber und ausgeschlafen, Business kann warten. :)
Es
sind erst zehn Tage vergangen seit ich "Paris, Texas" wiedersah, aber
mir kömmt diese kurze Zeitspanne vor wie ein ganzes Jahr. Wenders müsste mal
einen Film machen über einen Mann, der Werkschau betreibt. Milesdaviswerkschau,
Albertaylerwerkschau, Thomaspynchonwerkschau, Werkewerkschau. Es wäre ein Film
über die Zeit, wie sie sich dehnt und wie sie zusammenschnurrt, ganz so wie der
Zauberberg ein Roman ist über all das. :) - Als Werkschauender wirst du zum
Landvermesser K.; du kannst dir fast schon selber bei der Verstrickung zusehen
in die Verhältnisse, die du schaust. So manches vom Wim Wenders der 90er Jahre
entzieht sich mir, ganz so, wie sich die Schlossbeamten dem Landvermesser
entziehen. So wie K. unaufhörlich rätselt über die Bedeutung Klamms oder der
ihm zugesellten Gehilfen oder über den Boten Barnabas, so rätsele ich über
Streifen wie "Am Ende der Gewalt" und "Million Dollar
Hotel". Im ersteren scheint Wenders tatsächlich den Lynchkosmos bereisen
zu wollen - aber sollen doch die Aliens, die dereinst hermeneutische
Archäologie und Anthropologie auf der Erde betreiben werden darüber befinden,
ob ihm das gelungen ist. :) - "Hotel" hat Milla Jovovich zu bieten.
Allerorten wurde damals von Milla Jovovich gesprochen. Ein Gegengesicht, eine
Botin. Der "Soundtrack" ist stark, jedenfalls immer dann, wenn die
"MDH-Band" zu hören ist. Unfassbar: Brian Eno und Bill Frisell in
derselben Band. - Wenders wäre allerdings nicht der große Künstler, der er ist,
wenn er nicht auch manchmal groß gescheitert wäre, aber selbst seine
Idiosynkrasien - dieses "too much" - sind es wert, dass dereinst in
den Bibliotheken Regale freigeräumt werden für Zeug, das sich nur damit beschäftigt.
- Über der Wenders/Lynch-Verschränkung müsstest Du ein ganz eigenes Kataster im
Tempel eröffnen. Danke für Ry Cooder, Kamerad. :)
29.07.2020
ray05:
In
"Lisbon Story" (1994) sehen wir Rüdiger Vogler nochmals als
"Philipp Winter", diesmal ist er ein Tonmeister und -ingenieur, auch
einer dieser seltsamen Feldforscher des Klangs der Welt für den Film. Wie viele
Berufe hat "Philipp Winter" eigentlich in den Wendersfilmen ausgeübt,
und in wie vielen fahrbaren Untersätzen ist er unterwegs gewesen, sogar die Wuppertaler
Schwebebahn hat er mal benutzt; in wie vielen Flugzeugen ist er gesessen - in
diesem wundervollen low-swinging movie kommt die altehrwürdige Lissaboner
Trambahn hinzu. :) - In meinen Augen gehören die Passagen, in denen Winter mit
Stabsurroundmikrophon und Rekorder durch Lissabon zieht, um den Sound der Stadt
einzufangen zum besten, was Wenders gelungen ist. Und hier der Klang des
Scherenschleifers, des Schuhputzers, der Klang der Fähre beim Ablegen vom Kai -
"und hier der Klang der Tauben im Tonstudio und jetzt ein Mann mit
gebrochenem Bein... und jetzt der Klang der Abwesenheit". Genial ist die
Szene, in der Winter mit einem Schulkind auf einer Mauer sitzt, Winter bewegt
sein Mikrofon hoch oben in der Luft hin und her, das Kind hat die Kopfhörer auf
und errät die Klangquellen, die es dabei hört. - In "Lisbon" nutzen
Kinder wie selbstverständlich das Stadthaus, in dem Winter seine
Filmtonsynchronisationsarbeit verrichtet, für Explorationen mit eigener
Videokamera, und dann ist da ein New-Folk-Quintett - eine Art portugiesisches
"Pentangle" -, das unter gleichem Dach bewegende Songs aufnimmt für
einen Filmsoundtrack. Manoel de Oliveira spricht Winter sein Credo ins
Mikrofon. Der ganze Prospekt ist entfaltet in ein affirmatives Weltsituationsbild,
wie es auf diese Art & Weise nur Wim Wenders gelingen kann. Aber der Grat
ist extrem schmal, auf dem Wenders sich bewegt, vermutlich wurde er immer
schmaler zeitläuftig und Wenders hat seiner eigenen Weltimagination nicht mehr
recht getraut. Dass der Schluss gleichsam in eine medien- oder bilderkritische
Coda münden musste, kann ich eingedenk der damals zirkulierenden Diskurse über
Postmodernismus nachvollziehen. Heute wirkt das aber wie aufgepropft, vor allem
der nachgängige Slapstick hätte unbedingt überflüssig sein müssen. Aber gut.
Vielleicht ist Wenders ein Hölderlin, aber einer, der unter allen Umständen
keiner sein will. :)
31.07.2020
Antirationalistischer
Block / Christian Erdmann:
"Lisbon
Story" vorgezogen, um zu verstehen, was Du sagst. :) "Bewegte Bilder
können immer noch bewegen", sagt Winter/Vogler am Ende, und da beginnt
meine Pein: das zu fühlen und es auszusprechen, ist Sache des Zuschauers, nicht
des Films, der den Zuschauer soeben dazu gebracht hat, das zu empfinden. Auch
wenn es im Kontext - Winter ist ja auch Zuschauer, und er trotzt Friedrich mit
dieser Bemerkung - Sinn macht, der Film klingt, als würde er über sich selbst
sprechen, und ich fühle Pein dabei. :) Eine Nuance, nur ein µ, ist mir dieser
Film zu sehr berechneter Zauber. Noch nicht Wohlfühlfilm für die
Bionade-Bourgeoisie, aber doch zu sehr inszenierte Magie. Voglers versonnenes
Lächeln bei Madredeus, stellvertretend für unser versonnenes Lächeln bei
gepflegtem Arthouse-Kino. :) Vergib mir, ich bin völlig auf Deiner Seite, was
die brillanten Momente angeht. Aber als die Madredeus-Sängerin Winter den
Schlüssel zum Haus gibt und Winter sagt: "Ist das auch der Schlüssel zu
Ihrem Herzen?" – Gasch! Gasch! :) -, verlor mich dieser Film, der mich
nach einer Viertelstunde so packte, als Winter das Haus betrat. Ich würde Wenders
sogar verstehen, wenn er eines Tages sagte, ich habe diesen Film nur gemacht,
um in diesem Haus filmen zu können. Die Kacheln! Die alte Stativkamera vor
diesen Kacheln! UND! DIE KUNST DES GERÄUSCHEMACHERS! Compadre! Allein das! Ich
liebe das so sehr, ich wäre gar nicht ich ohne dieses Pütschern des
Geräuschemachers in der Wasserschüssel bei Szenen in "Der Seewolf".
Überhaupt war in diesen Weihnachtsvierteilern der Geräuschemacher mein geheimer
Held. "Manchmal, wenn Aljoscha aufs Meer hinaus sah, meinte er sich an sein
Schiff erinnern zu können, an das Ächzen und Knarren der Planken und
Spanten." Aber zuerst hörbar machte es der Geräuschemacher. :) Die
Geräusche des Geräuschemachers machten die große weite Welt, die voller
Abenteuer war, zu a cozy place. Ich sah auch schon früh einen Bericht im
TV über diese Kunst, und weiß daher schon seit meiner Kindheit, wie
Pferdegalopp mit Kokosnußschalen erzeugt wurde. :) So, yeah, das bleibt das
perfid-Schöne an Wenders-Filmen, Du hast es ja schon formuliert, selbst wenn er
scheitert, scheitert er grandios, und er bleibt turmhoch über den daily
Peinlichkeiten der Gegenwart. Völlig d'accord, was den Slapstick am Ende
angeht.
Sah auch
"Aufzeichnungen zu Kleidern und Städten", dindu much for me,
filmisch, aber Leda liebte Yamamoto sehr, und das war, was ich nachvollzog, zum
Beispiel, als Yamamoto von seiner Faszination für alte Fotografien spricht und
erklärt, auf alten Fotos tragen die Menschen keine Kleider, sie tragen
Wirklichkeit. Es gibt auch eine Stelle, wo er quasi sagt: Männer sind D-Dur,
Frauen sind A-Dur. :) Vom Anrührenden des Nichtperfekten sprechen und dann das
Nichtperfekte perfektionieren wollen. Man versteht, wie sehr es Yamamoto nicht
um MODE geht.
08.08.2020
Antirationalistischer
Block / Christian Erdmann:
Kurzer Exkurs: habe
mir "Supermarkt" von Klick angesehen. Muß ihn damals irgendwann im TV
gesehen haben, weil ich sofort diesen Song erkannte, "Celebration".
Das Beste, was Marius West je gemacht hat. :) Hatte damals verstanden "I
want my celebration day before I die", und der Satz war irgendwie in mein
Notenbüchl gelangt. Er singt aber "Babe" und nicht "day",
methinks. Jedenfalls, über diesem Hamburg steht tatsächlich wie über Dantes
Höllentor: die ihr hier eintretet, laßt alle Hoffnung fahren. :) Das Schönste
war der PEZ-Automat nach 3 Minuten. Roh, schmutzig, und, nunja, nicht mehr ganz
leicht anzusehen (Alfred Edel als Chefredakteur? Excuse me?) :) Im Vergleich
nur noch deutlicher die so überragende Kunst von Wenders, einen Ort nicht nur
Kulisse sein zu lassen. – Früher kämpfte man für das Recht auf Bildung, heute
geht man auf die Straße für das Recht auf Verblödung, da kommt die alte Dame
wie gerufen, die irgendwo mault: "Man hat doch ein Recht als Staatsbürger,
zu wissen, was hier los ist!" :)
In den letzten
Tagen auf den DVDs mehrmals den Trailer zu "Der Himmel über Berlin"
gesehen, die Szene, in der Curt Bois sagt: "Ich kann den Potsdamer Platz
nicht finden", und man denkt unwillkürlich, ach Curt. Du würdest ihn auch
heute nicht finden. :)
10.08.2020
ray05:
Curt
Bois ist nur ein Jahr jünger als Vladimir Nabokov und nur drei Jahre jünger als
Bertolt Brecht und nur 11 Jahre jünger als Fritz Lang, alle auch im Berlin der
Weimarer Republik unterwegs, dieser hypermodernsten denkbaren Stadt neben New
York damals. :) - Wikipedia gibt in aller Breite einen schönen faktischen
Überblick über Bois. Obwohl ich mich stets als umfassenden Kenner der Weimarer
Republik selbstbezeichne, sind mir doch Bois' Erinnerungen und Lebenszeugnisse,
die ja seit den 1960er Jahren durchaus vorliegen und verschiedentlich
weitergeführt wurden, bislang entgangen. Epoche, hier tut sich wieder ein Feld
auf. :) - Bruno Ganz und Otto Sander - so lese ich - haben einen Dokumentarfilm
über Curt Bois und Bernhard Minetti gemacht, der hängt freilich schon rein
zeitlich mit "Himmel über Berlin" zusammen, womöglich muss man den
Wendersfilm und den Dokumentarfilm zusammenschauen. - Wollte "Himmel über
Berlin" ursprünglich "übergehen" in der Werkschau, gleichsam so,
wie ich heuer meine alljährliche Rilkesaison ausfallen lasse. Sah ihn dann
doch, aber gewissermaßen schwermütig-kontraindikatorisch; der Film vermochte es
nicht, mir die Zeichnung Paul Klees vom Menschen in Engelsgestalt (allerdings
in sensationell zerzauster und ruinöser Verfassung, Tagebücher, 1905) aus dem
Kopf zu schlagen; versehen mit Klees Notat: "Dieser Mensch im Gegensatz zu
göttlichen Wesen mit nur einem Flügel geboren, macht unentwegt Flugversuche.
Dabei bricht er Arm und Bein, hält aber trotzdem unter dem Banner seiner Idee
aus." Aber vielleicht ging es Wenders gerade um das. :)
13.08.2020
Antirationalistischer
Block / Christian Erdmann:
Ein Dokumentarfilm
von Bruno Ganz und Otto Sander über Bois / Minetti? Wenn Du drauf stößt, bitte
4-Minuten-Alarm bei mir losgehen lassen.
Die Weimarer
Republik, mhm, ich bin beileibe kein umfassender Kenner, aber umfassend
fasziniert. Las kürzlich "Lulu in Berlin und Hollywood" von Louise
Brooks. In meiner Vorstellung sieht Berlin 1928 genau so aus, wie sie es
schildert. :)
"Im Eden
Hotel, wo ich in Berlin wohnte, bevölkerten die Luxusflittchen die Café-Bar.
Draußen vor der Tür gingen die Mädchen der preiswerteren Kategorie auf den
Strich. An der Ecke standen die Mädchen in Stiefeln und annoncierten ihre
flagellantischen Dienste. Agenten der Schauspieler verkuppelten die Damen in
den Luxusappartements des Bayrischen Viertels. Tipgeber vom Pferderennen in Hoppegarten
arrangierten Orgien für ganze Sportlergruppen. Der Nachtclub Eldorado
präsentierte eine ganze Reihe verlockender Homosexueller in Frauenkleidern. Im
Maly standen Lesbierinnen – feminine und in Schlips und Kragen – zur
Auswahl."
Wunderbar und fesselnd
ihre Beschreibungen der Dreharbeiten mit Pabst. Vermutlich Dir bekannt, falls
nicht, 4-Minuten-Alarm.
Klees Notat rüttelt
mir grad die Knochen durch.
Schrieb ja, Wenders
bringe unablässig Mythen zusammen und erschaffe so neue Mythen, beileibe nicht
nur von Menschen die Rede da, aber Otto Sander auf der Bühne neben Nick Cave in
"Der Himmel über Berlin" – das ist schon ein prägnantes Bild dafür.