Dienstag, 3. März 2015

005 - Der heilige Raum







"Es ist das älteste Muster in unserem Erbe ... Ausschneiden, zentrieren, reinigen."
(Serres 1987, 147)



Im zweiten Band seiner Philosophie der symbolischen Formen, der 1924 dem mythischen Denken gewidmet ist, beschreibt Ernst Cassirer die Teilung zwischen dem Heiligen und dem Profanen als primäre Akzentuierung der menschlichen Wahrnehmungswelt. Dieser Ur-Teilung werde im mythischen Bewußtsein das Ganze der Welt unterworfen: alles Sein, alles Geschehen wird auf diesen Gegensatz projiziert, er ist Grund- und Urakzent des mythischen Bewußtseins. 

"Mythos" ist für Cassirer eine ursprüngliche Weise der Weltgestaltung, ein Prozeß der Ablösung vom unmittelbar "Wirklichen", vom schlechthin Gegebenen. Auch der Mythos beginnt damit, in das unterschiedslose "indifferente" Sein bestimmte Differenzen einzuführen und verschiedene Bedeutungskreise auszubilden. Da es etwas lediglich Signifikatives auf dem Standpunkt des mythischen Bewußtseins jedoch nicht gibt, tritt der Mythos als Erzeugnis immer wieder in die Form der Gegebenheit zurück. Wo Bedeutung entsteht, und sie entsteht durch innere Erregung des Lebensgefühls, gestaltet sie auf der Ebene des mythischen Bewußtseins Realität. Der Prozeß - Zumessen jeweils verschiedenartiger Bedeutung - setzt sich jederzeit um in Verdinglichung: was mit Bedeutung aufgeladen wird, ist aufgeladen. 

Dem mythischen Bewußtsein ist Cassirer zufolge jeder Eindruck absolut, jeder von ihm ergriffene Inhalt wird unmittelbar erfahren im Jetzt und Hier. Es gibt nur unmittelbar Daseiendes und unmittelbar Wirkendes. Indes durchdringt diese Inhalte ein einigender Zug zur Transzendenz: ein sich offenbarendes Geheimnis, eine sich verhüllende Enthüllung verdichtet sich dem mythischen Bewußtsein zur Macht des Heiligen. Ursprünglich sei das mythische Gefühl für das Heilige nicht auf eine bestimmte Seinssphäre beschränkt, vielmehr ist es die ganze Fülle, die unmittelbare Konkretion und die unmittelbare Totalität des Daseins und Geschehens, woran der Sinn für das Heilige sich ausprägt. Solange "empirische" und "transzendente" Sphäre noch nicht voneinander geschieden sind, kann jeder Daseinsinhalt den Charakter des Heiligen annehmen.

Cassirer vermerkt, man habe in der Mana-Vorstellung die religiöse Urkategorie, den Kernbegriff des mythischen Denkens schlechthin auffinden wollen und diesen mit der polaren Vorstellung des Tabu zur "Minimum-Definition der Religion" (Cassirer 1997, 97) erhoben: das Mana - eine magische Zauberkraft, mannigfacher Umwandlungen und Mitteilungen fähig, stoffartiges Sein, das von Ort zu Ort, von Subjekt zu Subjekt wandern kann - habe ein Korrelat in nahezu jeder Kultur. Cassirer bemängelt indes, daß mit der Mana-Vorstellung ein Inhalt mythischen Denkens zu dessen Form erklärt wird, zudem ein von hoher Fluidität gekennzeichneter. Als fester Kern der Mana-Vorstellung bleibe lediglich "der Eindruck des Außerordentlichen, des Ungewöhnlichen, des 'Ungemeinen' überhaupt" (Cassirer 1997, 98); die Gewißheit, daß hier andere Maße und andere Kräfte herrschen als im gewöhnlichen Verlauf der Dinge, andere Möglichkeiten, aber auch andere Drohungen.

Über das Heilige könne zunächst nur gesagt werden, daß es das "in irgendeiner Weise 'Geweihte' und Herausgehobene" (Cassirer 1997, 100) ist. In eigentümlicher Bedeutungsambivalenz könne das Heilige dann sowohl das absolut Nahe wie das absolut Ferne sein, das unberührbar Reine wie das unberührbar Unreine, vertraut-schützende wie schlechthin unzugängliche Sphäre, Hyperbeachtung verlangend oder Totalverbot aufrichtend.

Ein System der Erfahrung entsteht, wenn die veränderlichen Wahrnehmungen sich in ein Koordinatensystem einzutragen beginnen, dessen Grundkonstanten nach Cassirer Raum, Zeit und Zahl sind. Diese Bezugsgrößen führen, da sie sich als universelle, kategoriale Ordnungsformen erweisen, aus dem isoliert-unmittelbar Gegebenen zur Ganzheit einer Objektwelt. Es sind Medien der Vergeistigung, gewonnen aus Anschaulichkeit. Auf den ersten Stufen mythischen Bewußtseins erscheinen "Macht" und "Heiligkeit" selbst noch "als eine Art Ding: als ein sinnlich-physisches Etwas" (Cassirer 1997, 103), das an einer gewissen Sache oder an einer gewissen Person haftet. Erst später gehe die Bestimmung des Heiligen auf "Ideelles" über. Solch Übertragung bedurfte der Objektivierung von Raum, Zeit und Zahl, erst durch sie wird der Gegensatz des Heiligen und des Profanen von einem jeweils partikularen zu einem universellen.

Der Raum ist die erste kategoriale Ordnungsform. Cassirer bemerkt, daß der mythische Raum auf formaler Ebene so arbeitet wie der konstruktiv-mathematische Raum der reinen Erkenntnis: der Euklidische Raum ist ein homogener Raum, ausgezeichnet durch eine Stetigkeit und Gleichförmigkeit, die dem gegebenen sinnlichen Wahrnehmungsraum nicht eignet. Durch den Grundakzent heilig - profan setzt der mythische Raum ein Schema, dessen Konstanz den Bedingungen des geometrischen Denkraums gleichkommt. Zugleich ist der mythische Raum, wie der Raum der sinnlichen Anschauung, akzentuierter Raum. Doch diese Akzentuierung ist eine unmittelbare, distanzlose, gleichförmige: jeder Ort und jede Richtung des mythischen Anschauungsraumes ist betont, und die Betonung emaniert unausgesetzt aus der Ur-Teilung heilig - profan. In der mythischen Weltsicht kommt es zu ständiger Verräumlichung von Qualität und zu ständiger Qualitätsbezeichnung des Raumes. Jede "Stelle" ist mit "Inhalt" aufgeladen; es gibt kein zufälliges Verhältnis zwischen dem, was ein Ding "ist", und der Stelle, an der es sich befindet; die "Stelle" ist vielmehr Teil seines Seins.

Der mythische Raum ist Strukturraum. Alle qualitativen Differenzen finden räumliche Entsprechung; alle Unterschiede, die das mythische Denken setzt, werden in räumliche Unterschiede überführt und auf diese Weise unmittelbar vergegenwärtigt. Orte und Richtungen treten im Raum auseinander, weil sich an sie ein jeweils unterschiedlicher, auf einem ursprünglichen Gefühlsgrund ruhender Bedeutungsakzent knüpft. Das Innere wird äußerlich: Wertakzente zeitigen räumliche Sonderung. Und das Äußere bleibt "innerlich", da es stets von bedeutsamen Inhalten erfüllt ist. Die so entstandene Raumordnung zeichnet die Ordnung des Lebens ebenso nach wie vor: das Raumbewußtsein mythischen Denkens regelt als ein durch Inhalte strukturiertes Schema wiederum ein Ordnungsschema in das Leben hinein.

Das Grundgefühl des Heiligen findet erste Objektivierung nach Cassirer also darin, "daß aus dem Ganzen des Raumes ein bestimmtes Gebiet herausgelöst, von anderen Gebieten unterschieden und gewissermaßen religiös umfriedet und umhegt wird" (Cassirer 1997, 123). Die räumliche Teilung beginnt mit dem "Abschneiden" des heiligen Raumes. Der Begriff des templum geht, wie Cassirer erinnert, auf die griechische Wurzel tem, "schneiden" zurück (im Sinne von abschneiden, absondern). Der Tempel ist der abgeschnittene, abgegrenzte, geweihte, heilige Bezirk. (Während templum den Akzent auf das Ausschneiden eines bestimmten Bezirks legt, betonen Worte wie χóρτος oder χορóς, die aus der mit ‘ó ρος verwandten ĝher-Wurzel hervorgehen, die Umfriedung und Umgrenzung dieses Bezirks).

Aus der räumlichen Teilung entfaltete sich in der römischen Antike das gesamte System der Theologie; der Akt der Grenzziehung, "der Grundakt der 'Limitation', durch den erst im rechtlich-religiösen Sinne ein festes Eigentum geschaffen wird, knüpft überall an die sakrale Raumordnung an" (Cassirer 1997, 124). Aus psychisch-räumlicher Orientierung erwächst wiederum gedankliche: die Limitationen prägen das rechtliche, soziale und staatliche Leben. Jede räumliche Begrenzung wird zugleich Markierung in der geistigen und sittlichen Kultur. Der Akt der Grenzziehung war ein religiöser Akt. Cassirer erwähnt Terminus als den altrömischen Gott des Grenzsteins; bei den Terminalia brachten die Anlieger dem Grenzstein Opfer dar und feierten die Grenzgemeinschaft. Grenzsteine waren und sind ungemein emotionsbefrachtete Monumente.

Das Phänomen des templum, des abgegrenzten, heiligen Seinsbezirkes, erzeugt das Phänomen der Schwelle. Für den Eintritt in das umgrenzte Seinsgebiet gelten bestimmte sakrale Vorschriften, sorgfältig zu beachtende Übergangsriten. Als heilig gilt zunächst die Schwelle zum Tempel, dann die Schwelle als solche: "Ein eigenes mythisch-religiöses Raumgefühl knüpft sich an die Tatsache der räumlichen 'Schwelle'. Geheimnisvolle Bräuche sind es, in denen sich (...) die Verehrung der Schwelle und die Scheu vor ihrer Heiligkeit ausspricht" (Cassirer 1997, 127). 

Ehrfurcht, so Cassirer, umgibt die räumliche Grenze von Anfang an. Mit dem Zusammenhang von heiligem Raum und heiliger Scheu aber ist nichts anderes formuliert als der Zusammenhang von Grenze und Horror. 

Wo aus dem Chaos der Eindrücke ein Kosmos, ein Weltbild sich formt, ist also nach Cassirer die Empfindung des Heiligen der primäre Impuls; durch die Zuschreibung der Bedeutung des Heiligen entsteht ein erstes Arrangement der Wahrnehmungswelt, die "Welt" strukturiert sich durch bedeutungsgeladene Räume.

Mircea Eliade unterstreicht, daß die Separation des Heiligen vom Profanen nicht nur, wie Durkheim erklärte, das Primärerlebnis des Religiösen ist, sondern das Geschehen, durch das sich erst die Bildung einer "Weltordnung" vollzieht. Theophanie, Hierophanie oder Zeichen bekunden die Heiligkeit eines Ortes: "Etwas, das nicht von dieser Welt ist, hat sich auf gebieterische Weise zu erkennen gegeben und damit eine Richtung bestimmt oder ein Verhalten vorgeschrieben" (Eliade 1957, 17). Die Manifestation des Heiligen in der "natürlichen", "profanen" Welt bewirkt das religiöse Urerlebnis: die Erfahrung des heiligen Raumes, die Wahrnehmung, daß "der Raum nicht homogen ist" (Eliade 1957, 13). Der heilige, das heißt der kraftgeladene, bedeutungsvolle Raum, hebt sich hervor aus formloser Weite; der "Einbruch des Sakralen" ist "Bruch in der Homogenität des profanen Raumes", die "amorphe Unbestimmtheit" (Eliade 1957, 38) des Raumes wandelt sich zu differenzierter Struktur.

Der Einbruch des Sakralen entspricht also dem, was in "Horror als Grenzerfahrung: Etymologie" als "ontologische Rauheit" beschrieben wurde: die Erhebung im "Normalen" und "Natürlichen", die Erregung des zuvor Unimorphen, die erstarren und schaudern läßt. Der durch die Grenze zwischen heilig und profan entstandene Bruch erzeugt die "Aufrauhung" des Raumes. Diese Aufrauhung "ist" das aufgerichtete Grenzzeichen, an dem sich der Horrorschauer entlädt.

Insofern erst durch diese "Rauheit" Orientierung sich einstellt, hat die Entdeckung bzw. Projektion des heiligen Raumes weltgründenden Charakter: "In dem grenzenlosen homogenen Raum ohne Merkzeichen und Orientierungsmöglichkeit wird durch die Hierophanie ein absoluter 'fester Punkt', ein 'Zentrum' enthüllt" (Eliade 1957, 13). Im Chaos der Homogenität gibt es keine "Welt". Die chaotische Homogenität des Raumes ist Symptom seiner Grenzenlosigkeit. Sie wird aufgehoben durch die Grenze. Die Grenze wird gesetzt durch Horror, durch das Schaudern - und Grausen - vor dem Numinosen.

Erst die dem Raum Grenzen verleihende Manifestation des Heiligen läßt das "Reale" entstehen; erst von dieser primären qualitativen Verschiedenheit des Raumes kann Orientierung ausgehen. Die Grenze ist also der erste Schnitt ins Chaos. Raum entsteht durch Umgrenzung. Die Grenze erzeugt die erste Ordnung des Raumes: der abgegrenzte heilige Raum, der für rituelles Tun geschützte Bereich etabliert die erste Zentrierung der Welt. Er ist absoluter Stützpunkt und Stützpunkt des Absoluten, die Verbindung mit dem Überweltlichen gewährleistend. Die Grenze, die den heiligen Raum entstehen läßt, ist auch Stätte der Passage: "Die Schwelle ist zugleich die Schranke, die Scheidelinie, die Grenze, welche beide Welten trennt, und der paradoxe Ort, an dem diese Welten zusammenkommen, an dem der Übergang von der profanen zur sakralen Welt vollzogen werden kann." (Eliade 1957, 15). 

Das Überschreiten der Schwelle ist begleitet von Riten, die Schwelle hat ihre "Wächter" (Götter, Geister, Dämonen), an der Schwelle sind Opfer zu bringen. Grenze und Schwelle sind Aufhebung der Kontinuität des Raumes und symbolisieren Aufhebung der Kontinuität psychischer Erfahrung. Das Heilige hat kosmologische Valenz; es "gründet also die Welt, indem es Grenzen absteckt" (Eliade 1957, 18).

Eliade konkretisiert auch den Zusammenhang zwischen dem heilig-abgegrenzten Raum und Formen der Aufrichtung. Die axis mundi (Säule, Pfahl, heiliger Berg, heiliger Baum, Tempel) im heiligen Weltzentrum, das Chaos in Kosmos umwandelt, stellt zugleich die Verbindung mit dem überweltlichen Bereich her und dar. Kosmisierung durch die Weltachse, die gleichsam den Himmel berührt und den weltlichen mit dem überweltlichen Bereich verbindet: die semantische Symbiose von ’ó ρος, Berg, und ó ρος, Grenze.

Also gilt: der numinose Ort, der vom "Göttlichen" durchdrungene Raum, wird heiliger Bezirk durch die Grenze, an der die erste ontologische Rauheit sinnfällig wird, der erste "ontologische Horror". Die Grenze ist eine Seinserregung, die, sich erhebend, die Wahrnehmung auf sich fixiert; durch Horror entstanden, bleibt der heilige, abgegrenzte Raum ein aufregender, an dem Aufragendes zu konstatieren ist.

An oder in nahezu jeder geweihten Stätte, in jedem Heiligtum oder Tempel wird der Charakter der Kultstätte dadurch betont, daß der sakral abgegrenzte Raum mit einer Aufrichtung verbunden ist, von Menhir, Findling, Holzpfahl bis zu architektonischen Wunderwerken. 

Im alten Ägypten der 1. Dynastie befand sich vor den Behausungen göttlicher Mächte, den noch primitiven Tempeln, ein eingefaßter heiliger Platz, "an dessen Eingang zwei mit Lappen behängte Stangen stehen. Letzteres sind Warnzeichen auf 'heiligem' Land (...) und bilden später die Hieroglyphe für Gott" (Helck / Otto 1987, 374). In Rom genossen die Termini fetischistische Verehrung: wer einen Grenzstein versetzte oder ausgrub, galt als fluchwürdig. Germanisches Ritual pflegte Grenzsteinversetzern und Feldfrevlern den Kopf abzupflügen. (Noch heute gibt es in ländlichen Regionen Deutschlands Feldgeschworene, die über Ort und Unverrückbarkeit der Grenzsteine wachen und dabei mit geheimen Zeichen operieren). Das Konzept Grenze vereinigt Formen der Abgegrenztheit mit Formen der Aufrichtung, seit primitivste Grenzzeichen aufgestellt oder an Aufragendem angebracht wurden.

Emporragende phallische Zeichen markierten heilige Opferplätze, erschienen als heilige Türme, Säulen, Totempfähle oder Obelisken. Der geheimnisvoll aufragende Stein, häufig von seltsamer Form, scheint mit seiner erhabenen Unveränderlichkeit auf die Präsenz einer nichtmenschlichen, übernatürlichen, höheren Macht zu deuten und weckt heilige Ehrfurcht, awe, Schauder, Horror. Stanley Kubrick hat dies in 2001 – A Space Odyssey (1968) brillant in Szene gesetzt. Im The Dawn of Man betitelten Prolog erwacht eine Gruppe von Hominiden, Angehörige des ersten Menschentypus, in einer Zeit lange vor unserer Zeitrechnung eines Morgens zur unheimlichen Musik von György Ligeti. Die Hominidengruppe ist in Aufruhr, etwas war zugegen in der Nacht, eine nichtmenschliche, übernatürliche, höhere Macht, und sie hat etwas hinterlassen: einen schwarzen, vollkommen glatten, glänzenden Monolithen von atemberaubender, mysteriöser Schönheit. Das Erschrecken der Gruppe geht über in Faszination und erste vorsichtige Versuche, den rätselhaften Monolithen zu berühren. Immer wieder Scheu vor der Berührung, immer wieder nähert sich die Hand dem erschreckend-faszinierenden Objekt. Schließlich tasten die von religiöser Ehrfurcht ergriffenen Hominiden den Monolithen ab. Mit dieser Berührung beginnt die Evolution menschlicher Intelligenz. Und  zugleich verweist der Monolith auf die Grenzen menschlicher Intelligenz. In Kubricks Jahr 1999 wird von der Mondstation Clavius aus ein identischer Monolith im Krater Tycho gefunden. Alles, was man weiß: er wurde dort vergraben, und er ist 4 Millionen Jahre alt. Die Astronauten begegnen dem Monolithen ebenso ehrfürchtig, wie es die Frühmenschen taten. Wie Georg Seeßlen formulierte: ein abwesender Gott spielt mit den Menschen Versteck. Der Monolith ist Zeichen einer göttlichen, übernatürlichen, außerirdischen Gegenwart, Zeichen des absolut Verborgenen noch in der hypertechnisierten Zukunft. Der schwarze Monolith hält die Grenze zum Übermenschlichen noch dort präsent, wo der Mensch scheinbar das Weltall zu seinem Wohnzimmer gemacht hat.

Im Totenkult der Frühzeit soll der aufgerichtete Stein als Abwehr gegen Erscheinungen von Geistern dienen, also die Grenze zum Totenreich befestigen. Der Stein soll aber auch die Toten selbst gegen feindliche Mächte verteidigen und markiert somit eine ihr Reich schützende Grenze. 

Der heilige Baum, einsam über den Horizont aufragend oder vom heiligen Hain umgeben, galt als Ort der Epiphanie und der Präsenz der Götter. Das Rauschen der heiligen Eichen in Dodona war wie eine göttliche Interferenz, die Frequenz, auf der Zeus seinen Willen mitteilte (noch Jeanne d'Arc will ihre Stimmen im Rauschen der Blätter vernommen haben; das Unheimliche des Blätterrauschens wird in Antonionis Film Blow Up reaktiviert). Heilige Aufrichtung bzw. Aufrichtung am Heiligen sind die Monolithen der Kultstätten, die Himmelsbeobachtung, Sonnen- oder Fruchtbarkeitskult dienten, ebenso die Hermen, ursprünglich hölzerne, brettartige Idole, dann kultisch immer weiter erhöhte, dem Hermes geweihte und mit ihm identifizierte Steinhaufen, später Grenzmarkierungen aus Stein, vierkantig, mit Kopf und Phallus, oder auch nur als Phallus an einer Säule (als ithyphallische Erscheinungsform des Hermes also mit einer Aufrichtung an einer Aufrichtung), mit Fruchtbarkeits- und Totenkult verbunden, zuletzt am Eingang eines Hauses diesen oder das Haus schützend, als Aufrichtung an einer anderen Form abgegrenzten "heiligen" Raumes. Alle Symbole und Rituale, "die sich an den Tempel, die Stadt und das Haus knüpfen", so nochmals Eliade, gehen letztlich "auf das Urerlebnis des heiligen Raumes" (Eliade 1957, 35) zurück.

Nach Michel Serres ist Heiligung des Raumes vor allem Reinigung des Raumes, und der heilige gereinigte Raum identifiziert das Reine, Heilige, Gute mit dem Eigenen: propre ist das Saubere / Reine und das Eigene. Der heilige Innenraum, das templum, "ist äußerst homogen, isotrop, parasitenfrei" (Serres 1987, 146), seine Ränder, Tore und Grenzen werden mit dem Flammenschwert bewacht. Das Profane und das Böse liegen außerhalb des zum Eigenen / Sauberen erklärten heiligen Raumes: in den Bedeutungen des Wortes propre klingt schon an, daß man immer der Barbar eines Anderen und das Andere immer barbarisch ist.

"Was ist also das Eigentum? Was nicht schmutzig ist. Was ist nicht schmutzig? Eben, was propre, sauber, und somit zugleich mein eigen ist (...) das Eigene ist das Reine, und das Eigentum ist Reinheit" (Serres 1987, 218). So wie das Feld zunächst eine Fläche ist, auf der alles ausgerissen ist, beginnt die "Reinigung, die Sakralisierung eines Raumes, eines templum, eines Gartens (...) mit der totalen, radikalen Vertilgung sämtlicher Arten" (Serres 1987, 270). Die saubere Fläche entsteht durch Beseitigung. So wie die Landwirtschaft mit der Entblößung bestimmter Bodenflächen begonnen hat, so erfährt der heilige Raum Reinigung durch Leere. Die Grenze wirkt hier als Messer: "Es zerschneidet den Raum. Es zeichnet eine geschlossene Linie: drinnen das Heilige, draußen das Profane; drinnen der Tempel, draußen das Unbestimmte, in dem das Böse umgeht. Drinnen die Stadt in ihren Mauern, draußen das Land. Die Pflugschar hat die Stadt gegründet, und beim Ziehen der Furche ermordete ein Bruder seinen Zwillingsbruder" (Serres 1987, 271).

Mit dem Entstehen des abgegrenzten Raumes - property - wird die Grenze zwischen dem Eigenen und dem Fremden, Anderen zur moralischen Demarkationslinie. Nicht erst die Übertretung der Grenze durch das Andere, schon die Grenzziehung selbst identifiziert das Andere mit dem Unheiligen.

Agrikultur und Kultur haben denselben Ursprung, dieselbe Grundfläche: "ein leeres Feld, das einen Bruch des Gleichgewichts herbeiführt, eine saubere, durch Vertreibung geschaffene Fläche. Eine Fläche der Reinheit, eine Fläche der Zugehörigkeit" (Serres 1987, 274). In der ältesten Tätigkeit der menschlichen Kultur, der Abgrenzung eines nackten, leeren, reinen Feldes, vollziehen der Bauer für das Feld und der Priester für das templum dieselbe Geste: eine Geste des Ausschlusses. Der Boden ist bereitet für die genuine Un-heimlichkeit des Anderen.

"Die Macht, die man kennt und der man ein Haus errichtet, wohnt innen. Das alt-römische pomoerium ist die heilige Stadtgrenze, die das Ende des Herrschaftsbereichs der Götter bezeichnet; die altgermanische Einfriedung ist die Gewähr für den 'Frieden': Grenze ist Machtgrenze." (Van der Leeuw 1957, 201).

Cassirer und Eliade verdeutlichen den Zusammenhang von Grenze und Horror. Hierophanie, Theophanie, das In-der-Welt-Sein des Nicht-von-dieser-Welt-Seins, irgendein numinoses Elementarerlebnis, mindestens aber der Eindruck des Außerordentlichen, Ungemeinen, Ungewöhnlichen setzt sich um in die erste Grenzziehung: die Primärteilung der Wahrnehmungswelt (heilig / profan), das Herausheben, Abschneiden und Abgrenzen eines heiligen Bezirkes. Grenze ergo Kosmos. Der Horrorschauer ist menschliches Urerlebnis, weil er jene Grenz-Erfahrungen begleitet, mittels derer sich die menschlichen Ordnungsschemata bilden.

Und der Horrorschauer bleibt Urerlebnis, weil er jene Grenzerfahrungen begleitet, durch die sich menschliche Ordnungsschemata aufzulösen drohen. Horror wird erlitten, wenn eine Grenze fühlbar wird. Sie wird dadurch fühlbar, daß ein unerklärliches, unheimliches, als bedrohlich empfundenes Anderes begegnet. Die Grenze wird in dieser Begegnung gerade durch ihre Bedrohung, Verletzung oder Überschreitung so bedeutsam. Die Vergegenwärtigung der Grenze als wesentlicher instrumenteller Funktion menschlicher Erfahrung bedeutet zugleich eine Ätiologie des Horrors. Die ersten, durch Horror entstandenen Grenzen geben dem Menschen eine Stellung in "Welt", Natur und Kosmos. Zugespitzt formuliert: kosmisierende Grenzerlebnisse waren nur durch Horror möglich. Weil aber bei jedem Grenzerlebnis dann auch Horror möglich ist, bleibt das, was die Ordnung gewährt, immer auch das, was Ordnung bedroht.
 









 



Literatur:

 
Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen, Zweiter Teil: Das mythische Denken, Darmstadt 1997.
Eliade, Mircea: Das Heilige und das Profane, Hamburg 1957.
Helck, Wolfgang u. Otto, Eberhard: Kleines Wörterbuch der Ägyptologie, 3. Aufl. Wiesbaden 1987.
Serres, Michel: Der Parasit, Frankfurt am Main 1987.
Van der Leeuw, Gerard: Vom Heiligen in der Kunst, Gütersloh 1957.












Freitag, 23. Januar 2015

Peter Hammill (3): Keine bessere Zeit


 
 
 
 
"So what is beauty? Could it be something to do with honesty, truth, a willingness to bear one's soul no matter what the consequences? A desire to communicate the very deepest, darkest thoughts that lie within, to journey to the very heart of emotion, holding nothing back, in the pursuit of art? That's some sacrifice. And yes, that's beauty. 'Take my hand, take my torment', Peter Hammill sings in 'Vision' as the passage into beauty begins. Backed by Nic Mozart's murmuring bass and Stuart Gordon's ghostly violin, Hammill becomes more involved with every song (...) The music achieves a rare power, demanding the attention. By 'If I Could' the effect is entrancing, but still Hammill pushes himself further (...) Hammill can be on the verge of rage one moment, the next he can be the very picture of humility. (...) After all these years, Peter Hammill can still tear us apart. That, without a doubt, is beauty."
 
Dave Simpson, 1990, im Melody Maker über ein Peter Hammill-Konzert in Leeds. Über "Out Of Water" schrieb Simpson:

"Often miscast as a prophet of doom, I've always found Hammill's search for a greater truth to be an intensely uplifting experience. There is a profound sadness inherent in his music, yet it's this devastating awareness of human weaknesses and world failings that can serve as a powerful force behind the faith in the power of our own question for purpose. Going on 20 years skirting around rock's fringes, Peter Hammill remains an enigma. After all, there'll always be a place for music that can bring tears to our eyes."




There are so many questions, there are so many doubts, this is auto suggestion, your spirit is giving out. If I offered my reasons, would you give me a break? Now it's all open season, no sense of give and take. You see I'm not the man I was. But if I'm not the man that you took me to be, do I fade from your dreams, disappear from your memory? Look at me, if I'm not the man I was, then who was he? There can be no returning to the scene of the crime. For perfection you're yearning, some romance, some foreign clime. Is the memory explicit under strict rule of thumb? It was always implicit, this character I've become.







"Our Oyster": zunächst noch vages Narrativ, Musik, an der sich etwas immer wieder zu verflüchtigen scheint, die schwebenden Klänge im Hintergrund, der spirit of the moment, der immer unendlich viel mehr Dimensionen hat, als wir wahrnehmen, "Out of universal language some stuff never translates", "There's a whole world of difference between the observer and the act", dann die Schockwirkung der letzten Zeilen, Tian'anmen Square, das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens.







Fragil und emotional wandert "A Way Out" durch seelische, spirituelle Einsamkeit und durch die Dimensionen eines einzigen Wortes. Ergreifend und wunderschön und - zerfetzend. "I wish I'd said I love you." - Hammill widmet auf der Sofa Sound-Website jedem der Songs von "Out Of Water" ein paar Worte; zu "A Way Out" heißt es lediglich: "And I'm not going to talk about 'A Way Out'."

"The song 'A Way Out' is believed to be about the suicide of Hammill's brother."







Ich hüte einen Stapel Newsletter, die Hammill in den 80ern und 90ern noch mit der Post verschickte. Und ich erhielt auch einmal einen kurzen Brief von ihm. Newsletter gab es seit einiger Zeit nicht mehr, und unter dem Vorwand, ihn zu fragen, ob man diese wertvollen Informationen in Zukunft wieder von ihm wieder erwarten dürfe, hatte ich ihm einfach, genaugenommen nicht so einfach, gedankt für die Bedeutung, die seine Kunst in meinem Leben hatte.
 
 









Die Newsletter, die im Halbjahresrhythmus aus Bath eintrafen, hatten auch vom Fortgang der Arbeit an "The Fall Of The House Of Usher" berichtet: zusammen mit Librettist Chris Judge Smith widmete sich Hammill dieser Opera schon seit Ewigkeiten.
 
Was dann 1991 schließlich erscheint, gleicht nur insofern einer Oper, als verschiedene Sänger verschiedene Parts übernehmen: Peter Hammill als Roderick Usher; Andy Bell als Montresor, dessen Freund; Sarah-Jane Morris als Chorus; Lene Lovich als Madeline Usher; Hammill auch als The Voices of the House, und einen Gastauftritt hat Herbert Grönemeyer als The Herbalist - eine erklecklich eklektizistische Besetzung. "Usher" gilt dann gemeinhin als sperrig bis unhörbar, Bannflüche treffen besonders die Drumcomputersequenzen, das Projekt wird als überambitioniert und verunglückt wahrgenommen und verschwindet ziemlich spurlos. 1999, als Hammill die Rechte an der Oper - "In a way it would be more right to say it's a sung-through musical" (PH) - von Some Bizzare zurückbekommen hat, erscheint "Usher" nochmals, in revidierter Fassung; Hammill nimmt dafür Teile seiner eigenen Gesangspassagen neu auf, entfernt alle Drumsounds, addiert Gitarrenklänge und läßt Stuart Gordon neue string parts einspielen. 

Chris Judge Smith 1991: "A lot of record companies were approached, took one listen to it and ran screaming for the door."

"Usher ist ein hermetisches, düster-deliriöses Goth-Piece. Wiewohl die zweite Fassung als superior gilt, finde ich Lene Lovich auf "Dreaming" vor allem in der ersten Fassung wundervoll. Madeline enters, in a trance, "beautiful dead eyes stare in sleep", ein Zustand, in dem sie gleichzeitig einen bezaubernden Abend mit ihm und Tod durch Ertrinken durchlebt. Auf der ersten Fassung ist dieser Song more frantic and frenzied.




 

Carriages at seven
I shall wear the flower he gave me
               It's so cold here
               Deep beneath the lapping water…
               The water
               The water
My love
Head against his shoulder
'cross the lawn I hear the music…
               Silent blackness
               In the lake I'm sinking slowly
Oh, how lovely
Nothing could be more becoming…
               Underwater
               Floating in the icy darkness…
Count the candles
"May I dance with you this evening?"…
               On the surface
               Swans are feeding high above me
Hold him tightly
Round and round the floor we're spinning
               Breathing water
               I am drowning
Watch the sun rise
Driving home across the meadows…
               All is darkness
               I can feel myself dissolving
               The water
               The water
               The darkness
               The darkness
My love
Head against his shoulder
               Floating in the icy darkness
Hold him tightly
               I can feel myself dissolving
Oh how lovely
               Deep beneath the lapping water
Count the candles
               I am drowning I am drowning
Count the candles
               Floating in the icy darkness
Hold him tightly
               I can feel myself dissolving
Oh how lovely
               Deep beneath the lapping water
Count the candles
               I am drowning
Oh how lovely
               I am drowning I am drowning
Oh how lovely
Oh how lovely
Oh how lovely




Auch "Beating Of The Heart" funktioniert für mich besser auf Usher I, weil die "THE HOUSE OF USHER!"-Stimmen so besonders eerie wirken, als die Drum-Maschine verstummt und der ganze turmoil abebbt. Sarah-Jane Morris, Peter Hammill, Andy Bell.







"The Fall" hingegen ist erst auf Usher II angemessen mind-blowing.
The Voices of the House / As the House falls:

beams corbels joists king-posts ridge-ribs struts stanchions king-posts
buttresses bressumers arches piers spandrels columns
pilaster quoins wainscot stairs banister cusps cornices
copings chimney-shafts parapets pediments mansard gargoyle eaves
We breathe we rise
We are Usher








1992 gründet Hammill sein eigenes "Fie!"-Label, auf dem seit "Fireships" all seine Werke erscheinen. 

"Well, 'Fie!' is an old Shakespearean word meaning 'basta!' or 'enough!'. None of the labels I've been with have done any promotion, so there really didn't seem to be much point in carrying on with that line. I can under-promote myself better than anyone on the planet, so I decided I might as well do that."

"Curtains" von "Fireships", ein Song über zwei Menschen, die eines Morgens das Ende ihrer Liebe entdecken, für das sie keine Worte haben. Sylvia, die im rätselhaften Schock ihr Haar kämmt, als wäre nichts.
 







 
"I know when something sounds more or less right, but not actually what it is. This happened on 'Fireships'; David Lord piped up and said 'That's a bit of Mahler, isn't it?'. I can't do that."




In den Neunzigern, jedenfalls nach "Roaring Forties" (1994), werden Hammills Kompositionen zunehmend kontemplativ, calm, mit sphärischen Klängen aus dem ambient-Bereic; Songs, die sich komplett unberührt von jeglicher musikalischer Außenwelt zu manifestieren scheinen. Wenn Hammills Vorgehensweise in dieser Zeit gelingt, entstehen Werke von grandioser Schönheit, traumhaft schimmernd. Es gibt bedrohliche Untertöne, tragische, wehmütige, doch immer wieder wirken diese Songs, als schwebten über ihren Welten Wesenheiten wie die Engel von Gustave Moreau, nur nicht auf dem Weg nach Sodom, sondern als Beobachter der ewigen Suche nach der Essenz des Menschseins, auf der es nur den Trost der Kontinuität gibt. "The maintenance of innocence against the grind of experience is essential in life", geht es jemandem auf Head Heritage durch den Kopf, als er Peter Hammill hört.

Auf "X My Heart" (1996) gibt es zwei Versionen von "A Better Time", hier die A cappella-Fassung, Hammill solo und als gregorianischer Choral. Es wird keine bessere Zeit geben, um hier zu sein. Plötzlich, eines Tages, verspürst du diese unendliche Zärtlichkeit - für dein eigenes Leben.
 







"Hammill's vocal delivery has always been a bit like channeling a spirit during a seance (...)" - Jeff Melton 1996.

"Earthbound", eine Ballade, der die mysteriösen Streicher am Ende immer weniger Erdgebundenheit verleihen, während Hammill "Heartbreak: The Anagram" rezitiert. Liebe: you spring me free to flight. Vielleicht sagen die Streicher aber auch: Liebe macht Ikarusse aus uns allen.
 







Auf "Everyone You Hold" (1997) sind die himmlischen Sopranstimmen von Hammills Töchtern Holly und Beatrice zu hören, auf einem Song namens "Phosphorescence", und so fühlt sich fast das ganze Album an: Nachleuchten im Dunkel. No, they never leave your side. Accumulated whispers. Everyone You Hold.







Auf "From The Safe House" gibt es keinen Himmel mehr. Der Song scheint dieselben Minuten zu imaginieren wie "In This Twilight" von Nine Inch Nails: ein letzter verzweifelter, intimer Moment, als die Welt dabei ist, apokalyptisch zu kollabieren.








Watch the sun
As it crawls across a final time
And it feels like
Like it was a friend
If it's watching us
And the world we set on fire
Do you wonder
If it feels the same

Dust to dust
Ashes in your hair remind me
What it feels like
And I won't feel again
Night descends
Could I have been a better person
If I could only do it all again

You will find a better place 
In this twilight





... while the world's collapsed outside
Is it all really over now? ...
But here we are and here it's ending
Last secrets to be whispered and the dying of the light
Are all that we have left now...









"The Light Continent" von "This" (1998). Beginnt wie eine dritte Seite von Bowies "Low".

"From the outset I'd had something of a feeling for the dispassionate white emptiness of the South Pole ... David and Stuart's contributions were made under strict rules: they were allowed only two passes each. The first was without having heard the music at all; the only reference points I gave them were "It's 14 minutes long and it's Antarctic". I remain really happy with this piece." - PH








All the fields that you've overflown are frozen
they flow like glass down the frame in formlessness.
Only the fragile fluttering of your heart still marks you chosen,
chosen to dare, your face defiant of the featureless.
Your face defies the featureless,
you're facing the featureless.

A horizon of light blurs the boundaries of whiteness
as the distance is shimmered into timeless brightness now.
And the slow flooding tide is begun as it's ended -
the barometer dropping and the fog descended
down, down.

In this endless day, at this hour long-appointed,
subterranean humming and the compass unpointed,
the compass disjointed, the compass down.
Deep in the core the heart of ice forms,
a tempo of life like that of stalagmites,
a flood of the frozen,
the flux of the blood
aflame in antarctic white.

Any marks that you made only scratched at the surface
Only retinal image ties you into the circuit now.
In this empty expanse every shadow is shining
The indifference of nature: your significance tiny now.
Dive down.

Timeless the day, absorbing every wavelength of the light.
Frozen in place, our footfall on the ice.
What have our shadows meant
in the light continent?






Am 20.12.1998 kam es in der Hamburger Fabrik zu einem gemeinsamen Auftritt von, indeed, Georges Moustaki und Peter Hammill. Der Vorbericht von Ralf Dorschel las sich so:

Ein Geistesblitz schlägt neben Moustaki ein

Peter Hammill ist eine Spur zu kompromißlos, seine Songs sind eine Spur zu gewagt, seine Stimme ist zu sperrig, um dem Mainstream Tribut zu zollen. [VdGG]: Es war die Zeit, als Hirn im Rock noch nicht verpönt war und Van der Graaf in Klassikern wie "Killer" oder "Refugees" ungestraft ihre Geistesblitze unterbringen durften. Mitte der 70er lösten sich Van der Graaf auf und Hammill machte unter eigenem Namen, aber mit denselben Musikern weiter. Nicht immer indes reicht die Tour-Kasse für eine Band und dann gibt Hammill Solo-Konzerte, bei denen der Multiinstrumentalist sein Publikum verstört und begeistert hinterläßt - in Hamburg zuletzt in der Markthalle. Jetzt hat das Schicksal den gnadenlosen Individualisten ins Programm des französischen Barden Georges Moustaki verschlagen und Hammill wird sich schon sehr zurücknehmen müssen, um den friedvollen Rahmen nicht zu sprengen, Den Weg in die Fabrik jedenfalls lohnt am 20.12. der "very special guest".



Ralf Dorschel danach:

Das unsinnigste Konzert des Jahres - Eklat beim Auftritt von Moustaki / Hammill in der Fabrik

"Sie müssen sich doch nicht wegen mir prügeln!" Peinliche Szenen gab's in der Fabrik: Rock-Legende Peter Hammill wurde als "special guest" des Chanson-Sängers Georges Moustaki beinahe von der Bühne gebuht.
 
Es war aber auch eines der unsinnigsten Konzertpakete, die in diesem Jahr nach Hamburg kamen: der sanfte Franzose Georges Moustaki und der kontroverse Brite Peter Hammill. Der sang von Nachtmahren, zerstörten Beziehungen und Einsamkeit, spielte düstere Akkorde auf Flügel und Gitarre und ließ sich dabei nur von Geiger Stuart Gordon begleiten. Dem Musiker Peter Hammill geht es um die Tiefen der menschlichen Psyche - wie kein zweiter seziert der Sänger zerrissene Charaktere.
 
Den harmoniesüchtigen Moustaki-Fans war das alles viel zu anstrengend - sie pfiffen, grölten und gerieten dabei mit den ebenfalls zahlreich erschienenen Hammill-Fans aneinander. Die hatten immerhin auch ihre 45 Mark für das kostspielige Doppel-Konzert bezahlt. "Ich werde Sie nicht mehr lange aufhalten", tröstete Hammill schließlich und verschwand ganz leise nach 30 Minuten - ohne Zugabe.
 
Immerhin war es dem Exzentriker von der Insel diesmal besser ergangen als am Abend zuvor, als ihn in Mannheim Moustaki-Fans erfolgreich von der Bühne warfen. Nach dem Verstand des verantwortlichen Tourmanagements darf man dennoch fragen - und vielleicht eine stille Hoffnung hegen: Mit viel Glück hat einer der wichtigsten Songwriter der vergangenen Jahrzehnte demnächst in Hamburg mal einen würdigeren Rahmen.



Im Januar 2001 antwortet Hammill den Journalisten Niechziol und Dorschel auf die Frage, ob er überhaupt noch ein Publikum finde für seine literarischen Texte: es werde schwieriger, aber "ich weigere mich einfach, zu glauben, dass der ganze Planet verblödet."

Im Dezember 2003 erleidet Hammill eine Herzattacke, die beinahe tödlich endet, keine 48 Stunden, nachdem er die Arbeit am Album "Incoherence" beendet hat. Ein halbes Jahr später: (-> Lesenswerter Artikel). 



Im April 2005 erscheint mit "Present" plötzlich wieder ein Van der Graaf Generator-Album in der "klassischen" Besetzung mit Hammill, Banton, Jackson und Evans, den Punks in Proggestalt (Julian Cope). Seit 2007 existiert Van der Graaf Generator als Trio (minus Jackson), drei weitere Alben sind seitdem erschienen. Über "Present" schrieb Paul Morley: 

"Van Der Graaf Generator haven't recorded together for 27 years, but their new album sounds like it was recorded when they were young and wild. This is probably because when they were young and wild, they sounded like they were ancient, nihilistic and mystical, and on the verge of a long drawn out death." 

Auf whiskey-soda.de liest man 2006:

"Eine unangenehme Frage steht noch aus, und zwar was die okkulte Seite der Band angeht. Gerüchte halten sich hartnäckig: Der Song 'Killer' soll das Haus ihres Managers zum Beben gebracht haben, Bassist Nic Potter verließ Van der Graaf Generator aus Angst gleich zweimal: Das erste Mal 1970 bei der Aufnahme für das dritte Album 'H To He, Who Am The Only One' (welches mit 'Killer' beginnt!), weil er seltsame Energien um die Band fühlte. Dann 1977 nach einem Konzert in einer französischen Kirche, bei welchem er einen Widerstreit von Kraft in der Luft fühlte, als ob Elemente der Kirche versuchten, Elemente der Musik zu exorzieren! Über Hammill ist bekannt, dass er sich früh für das Okkulte interessierte und 1968 Kontakt zu dem Okkultisten Graham Bond hatte. Ist die Band also wirklich in der Lage seltsame Energien heraufzubeschwören?"

Hammills Antwort:

"Fakt ist, dass damals tatsächlich eine Menge Wahnsinn in uns und um uns herum war, aber das ist nicht übernatürlich. Ich glaube, dass es gewisse Formen von psychischer Energie gibt, die sich in der Realität manifestieren können. Das hat nichts mit Poltergeist zu tun, wir haben als Band einfach gemeinsam an einer Energie gearbeitet, die über reine psychische Energie hinausgeht, all diese seltsame Musik, die wir erzeugt haben! Deshalb ist das Van der Graaf Erlebnis auch für uns manchmal erschöpfend – wie jetzt zum Beispiel die Reunion. Obwohl wir alle vier absolut einig waren, dass wir das gemeinsam machen wollen, bin ich sicher, dass jeder von uns insgeheim manchmal denkt: 'Van der Graaf Generator – Oh mein Gott! Und ich habe freiwillig zugesagt!'" 





Nicht nur, daß Van der Graaf Generator wieder existiert. Schon Hammills Soloalben "Clutch" (2002) und "Incoherence" (2004) galten als Stationen auf a new way up, "Singularity" (2006), "Thin Air" (2009) und "Consequences" (2012) werden als Renaissance rezipiert. Einen Punkt, an dem Hammill durch jedes intellektuelle Höllenfeuer gegangen ist, jedes Psychodrama ausgeleuchtet hat und in jedem musikalischen Bereich seine Unfähigkeit bewiesen hat, das Wort Kompromiß zu verstehen, einen solchen Punkt scheint sein Schöpfer nicht vorgesehen zu haben. 2014 erscheint "... all that might have been... ", der Titel erinnert an Nine Inch Nails, ein Album, dessen Komplexität noch den abgebrühtesten Hammill-Kenner verblüfft: (-> zum Beispiel hier).


"ajmurray" auf epinions.com: 
 
"Uncompromising and willing to risk spectacular failures in pursuit of his highly personal vision of modern life as tragicomedy, Peter Hammill represents a lost archetype, the artist undiluted by popular influences."

Und wiki sagt, wir müssen uns nicht nur Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.
 
"In psychoanalytischer Manier erforschte Peter Hammill die dunklen Seiten der menschlichen Seele (...) In einem Interview des 'Bristol Recorder' vom September 1980 wurde Peter Hammill auf die Klischees angesprochen, die ihm damals von Teilen der Musikpresse angehängt wurden, wie 'Dr. Doom' oder 'angst-zone'. Er schreibe über ernsthafte Themen, die jeden berührten, ob man es sich eingestehe oder nicht, so seine Antwort. Dabei benutze er für die Charaktere seiner Songs eigene Empfindungen, aber auch imaginierte oder fragmentierte Teile seines Selbst. Peter Hammill fügte hinzu, es handele sich um Liedtexte. In seinem Privatleben sei er die meiste Zeit ein ziemlich glücklicher Mensch." 



Der letzte Song von "Present", für VdGG-Verhältnisse einfach, free flow jamming, und doch so weird & gorgeous.

Even the Silver Surfer agrees
The wave you brave rides on a deeper complexity.
Ah, come on, surf's up!
Even the Silver Surfer agrees.







 
Einige meiner Favoriten aus dem Schaffen Hammills in den 2000ern finden sich auf "What, Now?" von 2001:
 















 
 
 
Und auf einem anderen favourite song, vom Album "Consequences", hören wir Hammill mit seinen eigenen Beatles backing vocals. In einem Interview sagte Hammill einmal: als er "Tomorrow Never Knows" von den Beatles hörte, wußte er, daß die Tore offen standen, daß alles möglich ist in der Musik.
 



 
 
 
Alles.