Die altpersische
Hölle ist leicht zu erreichen: man geht ein Stückchen auf des Messers Schneide
und fällt dann kopfüber.
Aus dem 7.
Jahrhundert vor Christus stammt die altpersische Vorstellung, daß die Seele
nach einem Jenseitsgericht von einem Mädchen und zwei Hunden zu einem Gestade
gebracht wird; um auf die andere Seite zu gelangen, in das himmlische Reich,
muß eine Brücke überschritten werden. Diese Brücke ist wie ein Schwert
beschaffen; schmal wie die Schneide
eines Schwertes. Die Seele des Gerechten fällt nicht von der Schneide. Die
Seele des Ungerechten aber gelangt nur bis zu dem Punkt, an dem die
Schwertbrücke am höchsten ist, von dort aus fällt sie in die Hölle,
mannigfaltigen Qualen entgegen.
Zarathustra variierte diese Vorstellung. Die Seele, die beim Tod den Körper verläßt, ist
weiterhin der Empfindung und der Bewegung fähig, so lehrte Zoroaster. Sie verweilt
drei Tage in der Nähe des Leichnams. Am vierten Tag bricht sie zum
Gerichtstermin auf, begleitet von einer Schar aus guten Geistern und bösen
Dämonen.
Sie erscheint vor
drei Richtern, die ihre Taten auf die Goldwaage legen. Wenn entschieden ist, ob
die guten oder die bösen Taten überwiegen, steht ihr der Gang über die Brücke
der scharfen Schneide bevor. Die Seele, die leicht über die Schneide kommt,
verstärkt die Kraft des Guten im Reich des Ahura Mazda. Die böse Seele aber
wird von den Dämonen aus dem Gleichgewicht gebracht und fällt in die immerwährende
Finsternis der Hölle. Oder wird, nach anderer Version, vom Anblick der
Mißgestalt ihrer eigenen dâenâ, ihrer eigenen gestaltgewordenen Bosheit, so
erschreckt, daß sie fällt. Die Hölle hat den Namen "Haus der Lüge".
1989 erschien ein
Stück der Einstürzenden Neubauten mit dem Titel "Haus der Lüge".
Blixa Bargeld dürfte keine Beschreibung der persischen Hölle intendiert haben: sein "Haus der Lüge" hat zwar wie die Hölle mehrere Geschosse,
ist aber eher Vision des gesamten Weltenbaus. Im obersten Geschoß begeht Gott
Selbstmord: "Gott hat sich erschossen / Ein Dachgeschoß wird
ausgebaut". Platz für die Willensfreiheit oder die Mächte des Bösen. Eben
weil das "oder" zwischen "Willensfreiheit" und "Macht
des Bösen" zu oft durch ein Gleichheitszeichen ersetzbar schien, hat man
die Hölle erfunden. Bargeld versetzt sich nach ganz unten, in die höllische
Unterkellerung: "Untergeschoß / Dies ist ein Keller / Hier lebe ich / Dies
hier ist dunkel, feucht und angenehm (...) Dies hier ist ein Schoß." Die
sardonische Stimme könnte Swedenborgs Ansicht bestätigen, daß die Bösen im
Genuß des Bösen leben.
Jedenfalls
bestätigt sie den Schoß als den Ort, der Gott gefährlich wird.
"Ich hatte
einen alten Onkel, welcher durchaus geradlinig dachte. Er stellte mich einmal
auf der Straße und fragte: 'Weißt du, womit der Teufel die Seelen in der Hölle
plagt?' Ich verneinte, worauf er sagte: 'Er läßt sie warten.'" (C.G. Jung)
"Der Höllenhund sitzt ihm im Nacken", titelte
die Berliner Zeitung im März 2012,
als "Blues Funeral" erschienen war - heute, November 2013, bereits
das vor-vorletzte Album von Mark Lanegan. Man könnte dagegenhalten, daß vielmehr
Mark Lanegan dem Höllenhund im Genick sitzt. Immer dem Drachenschwanz nach.
Zwei echte Hunde soll er besitzen (remember: ein Mädchen und zwei Hunde), aber
alle Fakten zu Mark Lanegan wirken seltsam unwirklich. (So auch seine Vorliebe
für das Basketball-Team der L. A. Clippers, ein Team im Schatten der Lakers, das
es selten in die Play-offs schafft).
Die Hölle als postmortaler Aufenthaltsort ist
ausgetauscht gegen die Idee: wenn wir nicht mehr in die Hölle kommen, kann die
Hölle immer noch zu uns kommen. Ob als Privateigentum oder als
zwischenmenschliche: die Hölle ist noch heiß. Brennend aktuell sozusagen. Hing
früher das Seelenheil von der Frage ab: wie vermeide ich die Hölle?, so plagt
den Privathöllenbewohner von heute vor allem die Frage: wie komme ich aus ihr
wieder heraus? Die Hölle ist von einem Ort zu einem Zustand geworden.
Und Mark Lanegan ist von einem Mann zu einem Mythos
geworden. Das Mysterium steht ihm besser als Fakten, weil die übernatürliche
Tiefe seiner Stimme - und damit meine ich nicht nur "Lanegan's
subterranean rumble of a voice, sounding like it's been dragged through the fires
of hell more than once", sondern vor allem die Intensität, die quality of
being deep - buchstäblich den Abstand zwischen Himmel und Hölle öffnet.
Weil sie den Raum zwischen Fegefeuer und Erlösung bebildert mit mythischer
Dringlichkeit.
"They're
riding, they're riding / a hellhound down the hill / They're sinking, they're
sinking / into the ocean, beautiful and still." - Harborview Hospital
Weil sie einem gehört, der Höllenqualen ausgestanden hat.
Weil sie einem gehört, der das Licht gesehen hat.
"Greg
Dulli and Mark Lanegan", schrieb pitchfork.com 2008, "are two of the
most intimidating dudes in rock'n'roll, their lengthy discographies littered
with bad drugs, bad women, and the violence (physical, emotional, and
spiritual) that surrounds these bad situations."
Im subterranen
Mojo Club ist "When Your Number Isn't Up" das erste Stück. Es war
auch 2010 im Uebel & Gefährlich das erste Stück. Vielleicht eine Art
Fetisch, mit diesem Song zu beginnen. Du hättest schwören können, daß deine
Nummer aufgerufen war. The blood running warm. Overdue to follow. But you're still above the ground. Also
ist noch Zeit auf des Messers Schneide. Immer dem Drachenschwanz nach. Muß der Weg sein zu einer sister of
mercy, zur Sphinx. Muß.
Mark Lanegan trägt jetzt eine Brille. Auch so ein Trick.
Im Mojo Club stehen Stuhlreihen, und wir sitzen in der ersten Reihe. Schuhgröße
48 oder so. Zwischen Songs wischt er mit diesen Schuhen manchmal über den
Boden, als würde er Glut austreten da unten. Sehr weit unten. Zwei brillante
Gitarristen: Jeff Fielder aus Seattle, den Lanegan durch Isobel Campbell traf
(auf "Imitations" ist Fielder zusammen mit Mark Johnson auf 10 der 12
Stücke zu hören), und Duke Garwood, der als special
guest zuvor ein Solo-Set spielte,
unfaßbar brillant und bad-ass.
Zuweilen steuert Garwood auch eine Art Saxofon-drone bei. Vor Garwood war noch der Belgier Frederic Lyenn Jacques
aufgetreten, bei Lanegans Set am Bass, auch schon 2012 in Lanegans Tourband.
Veredelt wird der Abend noch durch zwei Streicher, die gelegentlich zu dezenter
Percussion wechseln: Jonas Pap am Cello und Sietse van Gorkom, Violinist von
Lady Dandelion.
"The
Cherry Tree Carol" von Lanegans "Dark Mark Does Christmas 2012"-EP,
dann "One Way Street", dann "The Gravedigger's Song" und
"Phantasmagoria Blues" von "Blues Funeral".
"I
have given to you Jane / A torn and tattered love / But do you hear the tolling
bells / That ring down from above / I thought I'd rule like Charlemagne / But
I've become corrupt / Now I crawl the promenade / To fill my empty cup". Wie die Dinge so gehen, immer dem Drachenschwanz nach: das Album Phantasmagoria von The Damned gab dem
Song seinen Namen: "That's a favourite record of mine." Von mir zufällig
auch. Das Mädchen auf dem Cover von Phantasmagoria
ist heute übrigens Missus Nick. Susie Bick, verheiratet mit Nick Cave. Da wir beim
Herzerwärmenden sind, man höre, was Lanegan über den großen, großen, großen John
Cale sagt (dessen "I'm Not The Loving Kind" er auf
"Imitations" covert):
"He's
been one of my heroes since I was a kid. I love all his records and all his
different directions. If there's anyone if I sort of used their career as a
guidepost, it would be him because he just does exactly what he wants. It's
always interesting. It's always great. He's probably my favorite artist of all
time."
Es folgen fünf Songs aus dem Schwarzen Nachtisch, den
Lanegan vor einigen Monaten mit Duke Garwood servierte - "War
Memorial", "Mescalito", "Cold Molly",
"Driver" und "Pentacostal". Magische Intensität, die einen
doch sehr ehrfürchtigen Enthusiasmus auslöst. Falls Sie es nicht wußten: enthousiasmós heißt des Gottes voll.
Dann die
"Imitations", die keine sind: "Pretty Colors", "Mack
The Knife", "You Only Live Twice" ("the grandeur and drama of the Bond theme replaced by a delicate weariness") und das herzzerreißende
"Solitaire", der Neil Sedaka-Song, den auch Andy Williams sang;
alles, was jemals cheesy war an diesem Song, ist verflogen, Austreibung
der Dämonen schließlich auch eine Spezialität von Lanegans Stimme.
Aus dem Nichts dann
"Satellite Of Love", ohne Ankündigung, wozu auch, wer nicht weiß, daß
dies ein Song von Lou Reed und ein Salut an ihn ist, der wird auch alles andere
nicht wissen, nie. Yours Truly ist den Tränen nah.
"There is no morphine, I'm only sleeping /
There is no crime to dreams like this". Wer nicht auf die Knie sinkt, wenn der große, große, große Chris Goss
bei Lanegan auf diesem Refrain landet, well, ich werde nicht verraten, in
welche altpersische Hölle das führt. "Mirrored" und "On Jesus'
Program", für die Zugabe steht Lanegan nur mit Fielder auf der
Bühne - ein furioses "Halo Of Ashes".
Keine Ahnung, wie Lanegan
durch die Menge an den Merch-Stand gekommen ist. Vermutlich auf übernatürliche
Weise. Jedenfalls sitzt er irgendwann da und schreibt seinen rätselhaften
Schriftzug auf irdische Produkte.
"Hello!" sage ich.
"Hey man!" sagt er,
einer der "most intimidating dudes in rock'n'roll".
"Wonderful, thank you!" sage ich.
"Pleasure!" sagt er.
"Und, wie war es?",
fragte die Mama im Kindergarten mich heute, aber sie meinte Nick Cave. Ich
erzählte ihr, daß ich gestern Mark Lanegan die Hand gegeben habe. Frieda, her
7 year old girl, fragte, ob das Glück bringt. Ich sagte, ja, bestimmt.
Frieda und ich gaben uns die Hand, und ich sagte, "Jetzt geht das Glück
durch meine Hand in deine Hand." Sie sagte: "Aber dann hast du kein
Glück mehr!" Ich sagte: "Ich geb dir mein Glück."
I'll find some more, irgendwo
auf des Messers Schneide.
Today's Best Song Ever:
It comes to line the road with scarlet
flowers
Creatures begin to stir in a rush
Through summer days that last a thousand hours
'Til nighttime drops down in a hush
A choir brightly sing
Shine like an heirloom ring
Within the tomb that has the light interred
In time will she release her prisoner
No sound at all the cold is swallowing
The rise and fall of some black hooded thing
A solitary bird
Hides beneath its wing
'Til ivy paints the wall with green again
And all God's creatures start to crawl
From when the harvest moon is vanishing
A lonely crow begins to call
A solitary sun
Sleeps above it all
(erstveröffentlicht / first published: 11/2013)