Wenn die Seele
nicht gerettet werden kann, warten wohl die Höllenflammen. Konstatiert mit
bitterer Ironie die Ungläubige. "I never believed since the day I was
born". Wir werden nicht sehen, wer an unserem Grab weint, es gibt nur das
Irdische, und mit dem haben wir genug zu tun; Leiden ist der rote Faden des
Lebens und das, was uns verbindet. Am Ende von "Atheists Have Songs
Too" geisterhafter Backgroundgesang, scheinbar direkt aus dem soeben
verworfenen Reich der Metaphysik.
Freiheit ist eine
Kunst, die beherrscht werden will. "Thee Art Of Libertee". Die
"leidenschaftliche Aufmerksamkeit" (Camus), die sich in uns
kristallisiert, hat ihren Preis. "Loneliness ain't no coward's friend /
For folks like me though it's a constant". Die Einsamkeit als vertrauter
Freund, wenn alles andere fort ist. "I was lucky to have you, we laid side
by side / Glad when you said hello / I was glad when you said goodbye".
Freiheit ist kein Geschenk, sie ist Vollzug. "You and I we are free / It's
good to be free". Im Video geht sie ständig in Richtung andere Richtung,
nur am Ende nicht. Der Mond ist auch gegen die Sonne. Wie sie auf der Treppe
sitzt, Herr im Himmel. Sie könnte auch vier Minuten nur auf der Treppe sitzen
und es wäre ein faszinierender Film.
Daß der Genius loci
der Wahlheimat Einzug gehalten hat in ihr Werk, daß sie Paris adoptiert und
Paris sie adoptiert hat, belegt ein Songtitel wie "Your Arrondissement Or
Mine?". Illusionslose Einladung zu "a ride into the night", Nähe
und Distanz zugleich, Ambivalenz auch hier. Jedem Anfang wohnt nicht nur ein
Zauber inne, sondern auch schon das Ende, für eine, die von sich sagt: I'm wise
and I know the score. Wenn dieser Song aber noch heimlich das Durchbrechen der
auf- und abgeklärten Abgebrühtheit ersehnt, kommt "Island Of The Dead (O
Mi, O My)" direkt aus einer Art Hades im Diesseits. "It's a mighty
nice place if you don't mind being alone / It's a mighty nice place if you
don't mind travelling alone / Some of my friends liked it so much / They ain't
never come back home". Isolation als Schattenreich, da ist nichts außer
nichts, es braucht nicht mal den Totenfährmann, man kommt ganz alleine hin. All
das erzählt Rykarda die Hüfte schwingend zu einem skelettknochentrockenen
Piano, am Ende eine anderweltliche Stimme wie direkt aus der griechischen
Mythologie, chilling.
"How Ever Measured
Or Far": ein Interludium mit dem Klang von Absätzen und einem Aufruf zu departure. Make an educated guess: eine Frau, die einen Koffer trägt in
Richtung Paris. "Withdrawal, Feathers And All" ist Absturz in
Zeitlupe, nur noch widerwillig herausgezögertes Ende einer Liebe: "coming
down from feeling strong", "coming down from being cool", und
"when I was tall I was a force". Der Punkt, an dem Liebe Stärke raubt
statt gibt, an dem man sich trotzdem zurücknimmt, sich aufgibt, um zu retten,
was schon verloren ist: "I know it's better to sing / I'll sing your
song". Der innere Rückzug ist schon angetreten, wenn gilt: "… you
still play games".
"Wille kann
die Fähigkeit sein, gegen den eigenen Willen zu handeln."
"Und wie viele
Willen zählst du da?"
"Zu
viele."
Die Sängerin pfeift
dazu, herausfordernd und ein wenig schräg, unbekümmert, als hätte sie gerade
eine Tür hinter sich geschlossen.
In "Greetings
From Kiev, XX00" hat es sich mit "Baby girl, you be sweet" und pretending um des lieben Friedens
willen. Ansprüche und Sehnsüchte des Mannes, Bedürfnisse und Wünsche der Frau –
nicht mehr kompatibel. Sensationelle Zeile: was eine Frau braucht, ist "a brother
to keep her in style in a wild world".
Mein Favorit auf
AGAINST THE SUN ist "I Vahnt Tou Beh Alohne (aka Grand Hotel)".
"I didn't call you that day / It was easier to let it fall away / And I'm
sure I have saved you from pain / And you wouldn't believe it if I say / I want
to be alone". Die Schreibweise des Titels ist Greta Garbo-Dialekt, Garbo
als russische Ballerina Grusinskaya in "Grand Hotel" von 1932. Rykardas Stimme ist hier so schön und herzzerreißend, du
zermarterst dir den Kopf, an wen diese Stimme dich erinnert, aber
wahrscheinlich ist es einfach nur die Stimme des Mädchens, das damals deinen Namen
rief in einem Traum.
"Take Only
What You Can Carry" beginnt mit "Well my daddy's daddy got shot / He
didn't do no crime" und widerlegt schon damit die Bemerkung eines
Amazon-Rezensenten, der von AGAINST THE SUN behauptet: "Ms. Parasol's
story-like lyrics are lighter here than her usual dark and murderous love songs".
Der Song wirft Schlaglichter auf das Überleben ihres Vaters, auf das, was diese
Art von Überleben weiterträgt in das Leben einer Tochter. "And we all saw
the walking dead get on that train": der Song beschwört die atrocities, der der Vater damals mitansehen
mußte. Nick Cave, "Nature Boy:
I was just a boy when I sat down
To watch the news on TV
I saw some ordinary slaughter
I saw some routine atrocity
My father said, don't look away
You got to be strong, you got to be bold, now
He said that in the end it is beauty
That is going to save the world, now
Auch our narrator vergißt nie die Stimme des Vaters:
"'No fear', says daddy, 'Courage got me where I am.'" Später heißt es
"My daddy fought to live / In this mean old world / And all I am / Is a
silly little girl". Genau das ist sie natürlich nicht. Wer einen Song
schreiben kann wie "Take Only What You Can Carry" ist sehr weit
gegangen in dem, was Kunst vermag. "Beauty is going to save the
world": sie selbst trägt mit ihrer Kunst dazu bei. Aber glaubt sie selbst
daran, daß Schönheit sie errettet?
"Tired of my
peculiar tongue / And the brain from which it stems / I wonder if I have
one?" Der letzte Song, "I Know Where My Journey Will End"
beschreibt diesen letzten Ort mit vorgezogenem Fernweh: "I'm going there
some day / When all travel done". Und als gelte es schon jetzt, ein
Resümee zu ziehen: "I was not content with dreams / Of love, God, or
ghosts". Auch hier wieder backing
vocals von unvergleichlicher Schönheit, schwermütig, sehnsuchtsvoll und spooky, dazu ein Klang, als würde sich
Rykarda im Studio kurz direkt in Artemis verwandeln.
Immerhin schreibt
derselbe Amazon-Reviewer: "Why this woman isn't a huge star yet is beyond
me."
SFWeekly sah 2010
in Rykarda Parasol ein unmenschlich elegantes Wesen, das bei jedem
Sonnenuntergang aus einem Eispalast auftaucht:
"Rykarda
Parasol cannot possibly own pajama pants. That would be too normal, and she
never seems like a normal person. Last night at Hemlock Tavern, the
Scandinavian-descended, noir-blues poet ruled her small stage like a foreign
princess, weaving lyrical tales of murder and vice with a remote, enchanting
presence. (…) Parasol's more a precious vixen — an inhumanly elegant entity
that emerges from an ice palace each sunset, poured into a smoky evening gown,
ready to wield her piercing stare in the service of some unsavory end.
Though
filled with reckless freedom, her songs-as-stories often tackle error, failure,
and betrayal. The sense that Parasol really knows a thing or two about those
feelings managed to break through her performance's otherwise pristine
remoteness last night."
Remoteness:
interessanterweise heißt es auch 2010 auf faz.net über Tippi Hedren:
"Gerade durch die Distanz, mit der sie die räuberische Femme fatale
spielt, wird aus Marnie eine der interessantesten Frauenfiguren
Hitchcocks."
Aber diese
remoteness ist nur eine Methode der
Abstandgewinnung zum emotionalen Aufruhr und Tumult.
"Jeder Song
fühlt sich für mich gerade so an, als würde sie mir eine Schicht Haut abziehen
und dabei liebevoll lächeln", schrieb mir mein Freund André, als er
schließlich bei Nacht und Kerzenschein in Rykardas Welt eintauchte.
Schön auch, was
jemand auf YouTube zum "Thee Art Of Libertee"-Video schreibt: "Rykarda's voice ... a miracle! It always reminds me that no matter what, you have to keep looking
for your kindred soul."
Rykarda Parasol ist die beste
Sängerin, die du noch nicht kennst. Sie ist die größte Sängerin der Gegenwart,
ob du sie kennst oder nicht. Aber besser ist, du kennst sie.
(1) Emily Savage, Familys past
leads sultry songstress into some dark places, 16. April 2010, jweekly.com