Donnerstag, 10. Februar 2022

Zeit macht nur vor dem Teufel halt

 

 

 



 
 
 

SPIEGEL ONLINE Forum 

"Schlager vor dem Comeback?"

 

19.07.2007

 

Parzival v. d. Dräuen: 

Ich halte Schlager für einen gewinnorientierten Ausdruck der Musikindustrie, um an die niedersten Instinkte des Menschen zu appellieren. Das kann ich als Verfechter der Aufklärung und als übergeordnet legitimierter Erzieher des Menschen so nicht hinnehmen.
So werde ich weder Schlager noch seichte Kinderlieder in meinem Haushalt absegnen können, da ich mich in der Pflicht sehe, die abendländischen Kulturwerte zu verteidigen.
Es sind auditive Reize, die den Menschen zur asozialen Vereinzelung zwingen. Der Schlager, als Gattungsbegriff der hörbaren Vereinsamung, lebt der Welt eine Vereinfachung und emotionsüberhöhende simplizistische Seinsentfremdung vor; das autistische Glücksbeharren hedonistisch agierender Selbstverfremdung entgrenzt den Menschen seiner musikalischen Möglichkeiten. Bildungspolitisch sehen wir also eine Verantwortung, die sich nicht nur dem bloßen Wünschen ergeben sollte.

 

 

 


 

ET MOI ET MOI ET MOI:

Die Zeit. Die trennt nicht nur für immer Tanz und Tänzer. Die Zeit. Die trennt auch jeden Sänger und sein Lied. Denn die Zeit ist das, was bald geschieht. Die Zeit. Die trennt nicht nur für immer Traum und Träumer. Die Zeit. Die trennt auch jeden Dichter und sein Wort. Denn die Zeit läuft vor sich selber fort. Zeit macht nur vor dem Teufel halt. Denn er wird niemals alt. Die Hölle wird nicht kalt. Zeit macht nur vor dem Teufel halt. Heute ist schon beinah' morgen. Die Zeit. Die trennt nicht nur für immer Sohn und Vater. Die Zeit. Die trennt auch eines Tages Dich und mich. Denn die Zeit, die zieht den längsten Strich. Zeit macht nur vor dem Teufel halt. Denn er wird niemals alt. Die Hölle wird nicht kalt. Zeit macht nur vor dem Teufel halt. Heute ist schon beinah' morgen. Die Zeit alle Zeit Ewigkeit. Zeit macht nur vor dem Teufel halt.

Die hörbare Vereinsamung, die Zeit im Zeitalter ihrer BarryRyanisierung, da geht ein Mann die Gleise entlang -> in Baden-Oos und im autistischen Glücksbeharren, durch den kalten Nebel der Selbstverfremdung, und der Supptext stellt bohrende, entgretzte Fragen. Wenn heute schon beinahe morgen ist, weil durch die vor sich selbst fortlaufende Zeit ein Loch entsteht, kann Henri Bergson durch das Loch kommen? Was macht den Teufel alterslos? Die Zeit, die zieht den längsten Strich, oder wie Ryan auch formuliert: "Schtrick". Wo ist dieser Strcikc, auf dem wir alle gehen, auf den wir zugehen, auf dem Strich dem Strich entgegen, dem längst gezogenen? "Ich habe verstanden, daß man contemporary sein muß, das future-Denken haben muß." (Jil Sander). Oder, um Jil Sander zu zitieren: Der problembewußte Mensch von heute kann diese Sachen, diese refined Qualitäten mit spirit eben auch appreciaten. Aber ist der problembewußte Mensch von heute der problembewußte Mensch von heute oder von beinahe morgen? Das eben fragt uns Barry Ryan, dieser Eulenspiegel der Selbstentfremdung, dieser Selbstbespiegler der entfremdeten Eulen, diese, um mit Heidegger zu raunen, Butter in einem Idiotensandwich.

 


 

 

21.07.2007

 

Wenn schon deutscher Schlager, entdecke ich halt lieber die 60er. Ricky Shaynes "Ich sprenge alle Ketten" ist so viel unterhaltender als jedes Stück von, ich weiß nicht, werden Juli und Silbermond auch unter deutscher Schlager verbucht? Marion Maerz hat damals mit "Er ist wieder da" ein Stück abgeliefert, bei dem auch Phil Spector die Pistole in der Tasche gelassen hätte und an dem es nichts zu mäkeln gibt, selbst wenn man das verobjektivierte Trauma, daß da gerade keiner bei Marion anruft, mittlerweile durch den Shakespeare'schen Lyrics-Kosmos eines Peter Hammill ersetzt haben mag.

 

 

 

 

 

25.07.2007

 

Die "CDs der Woche" feiern gerade gebührend die Wiederaufstehung des Marc Almond, nach einem Motorradunfall dem Tod von der Schippe gesprungener Gänsehautverursacher seit 25 Jahren, und bei der Gelegenheit fällt einem auf, daß es diese Tradition in Deutschland, im deutschen Schlager eben einfach nicht gibt, mit extremer äußerer Künstlichkeit extreme Authentizität zu produzieren, den torch song a la Marc Almond, in dem sich die Seele bloßlegt. "Seele" wird im deutschen Schlager nur gespielt, und das neuerdings sehr gruselig.

 

 

 

 

 

 

 

29.07.2007

 

Francoise Hardy. Von mir aus könnte sie auch das Telefonbuch singen.
Francoise Hardy war als BRAVO-Girl und mit diversen Songs in Deutsch Teil der hiesigen Schlagerszene, die damals wiederum, wenn auch mit teilweise sehr kruden Resultaten, Teil der internationalen Schlagerszene war. Marion Maerz aber hat einen Song von Ray Davies (The Kinks) singen können, und das ganz wunderbar.

 

 


 

Ich habe vor einer Weile eine Udo Jürgens-Platte aus den 60ern in die Hände bekommen, und es ist sehr vergnüglich, mitanzuhören, wie er die steifen und praktisch in jeder Zeile zu langen Texte immer noch so gerade um die Ecke kriegt.

 

 


 

 

Jedenfalls, irgendwann fing der deutsche Schlager an, nurmehr in der eigenen Suppe herumzudrögeln. Der "internationale" Touch mutierte für eine Weile noch zur Mischung aus deutscher Tümeligkeit und deutschem Fernweh, dann war der Ofen aus. Währenddessen hat Francoise Hardy, beispielsweise, Mitte der 90er mit einer Rockband ein erstklassiges Album aufgenommen ("Le Danger"), singt so en passant mal ein Duett mit Iggy Pop (das sehr zauberhafte "I'll Be Seeing You" auf dem Sampler "Jazz at Saint Germain") und macht kontinuierlich weiter gute Platten.

Insgesamt sind Schlager hierzulande, statt etwas über das wirkliche Leben zu erzählen, einfach zu sehr Kompensationsangebote für sehr bestimmte Zielgruppen. Es fehlt nach wie vor völlig die Komponente Charisma, Authentizität, was auch immer, die über den Song hinausgeht, die auch das Genre transzendiert. Wenn Johnny Cash den Mund aufmachte, war die Kategorie "Country" weggewischt.

 

 

 

Muffin Man:

... das hat in der Tat noch eine gewisse Ähnlichkeit mit dem frz. Chanson, dessen Liedgut gewissermaßen das Schattendasein der Gosse auf der Bühne thematisiert - ähnlich dem Brecht'schen Theater. Es würde einen langen Dialog über das Showbiz im allgemeinen und Unterhaltung der frühen Nachkriegszeit im besonderen erfordern, hier alle nennenswerten Aspekte zu ergründen...

Das hierbei vermittelte Frauenbild ist jedoch, daß die Frau ob ihrer Rolle als Opfer der Verhältnisse sich betrübt und wehmütig Ausdruck verschaffen darf (...)

 

 


Francoise Hardy ist nun sicher ein Spezialfall französischer weiblicher Melancholie, aber warum zum Beispiel war Emma Peel in den 60ern so populär? Ich vertrete ja die These, daß es im popkulturellen Diskurs eine Kombination von betont femininer Weiblichkeit und Stärke gab, die sich zu behaupten wußte. Sicher reden wir da nicht vornehmlich von Deutschland, in Frankreich kann man eine Reihe von Frauen entdecken, die sehr eigene bis eigenwillige Vorstellungen künstlerisch umgesetzt haben, die hatten einfach ihren eigenen Plan; sie haben mindestens genau das Bild vermittelt, das sie selbst vermitteln wollten.

Das Seltsame ist, daß die Proklamierer selbst das Proklamierte, das zuvor durchaus existent war, abschaffen. Die "Girl Power" proklamierenden Spice Girls haben genau das getan: als bloßes Marketingtool sozusagen die Girl Power der Sixties abgeschafft. Auch diese immer weitere Verschiebung zur Pose spricht eigentlich dafür, daß in den Erscheinungsformen, die Sie wahrscheinlich mit dem "vermittelten Frauenbild" meinen, vielfach sehr viel mehr Subjekthaftigkeit als Objekthaftigkeit lag.

Sich in den Songs zum Subjekt über die eigene Geschichte machen
– das ist, was man im deutschen Schlager halt vergeblich sucht.

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen