Eine Einleitung
"Doktor, kommen Sie… schnell…!"
(Standardsätze des Horrorfilms I)
Das Horrorgenre gilt
als trivial, beschäftigt sich aber mit äußerst untrivialen Dingen,
beispielsweise den sogenannten letzten Dingen – Tod, apokalyptische
Endzeit, Jenseits, Auferstehung der Toten. Jedes Feld philosophischer
Betrachtung ist auch ein Feld des Horrors, und vice versa. Wenn man
will, aber man muß nicht wollen, lassen sich die für das Horrorgenre
bedeutsamen Probleme und Motive gliedern in die klassischen Disziplinen
der Philosophie: Metaphysik, Erkenntnistheorie, Ethik, Logik, Ästhetik.
Im Horrorfilm geht es, wie in der Philosophie, um die "Fragen von Tod
und Leben" (Schmid 1993, 10). Der Thrill des Horrorfilms ist von
höchster philosophischer Relevanz.
Der Horrorfilm ist so
alt wie die Filmgeschichte selbst. Das Genre hat Klassiker
hervorgebracht, die das Etikett "Horror" transzendieren. Filme wie Freaks, Cat People, Les yeux sans visage oder The Shining
sind bedeutende Werke der Kunstgeschichte. Man muß sich fragen, ob die
Denunziation des Horrorfilms als "trivial" einen tieferen Sinn hat. Trivial
bedeutet bekanntlich so viel wie: unmittelbar einsichtig, platt,
abgedroschen. Aber Horrorkunst bestreitet gerade, daß an Tod und Leben,
am Leib-Seele-Problem, an Sexualität und Identität, am Problem von
Normalität und Abweichung, an der Frage nach dem Anderen und Fremden,
nach den Grenzen der Erkenntnis, nach den Grenzen der Wissenschaft, an
der Frage nach der Grenze überhaupt, an des Menschen Verhältnis zur
Natur, an der Frage, warum der Mensch ein Abgrund ist, in den
hineinzuschauen es einen schwindelt, an der Frage nach kosmischer bzw.
gesellschaftlicher Ordnung bzw. Unordnung, an der Frage nach der "Wirklichkeit", an der Frage nach Form, Metamorphose, Deformation und
Monstrosität, am Problem von Selbstkontrolle und Kontrollverlust, am
Problem von Verbot und Übertretung, am Problem des Menschen zwischen
Existenz und Wesen, am Problem der Existenz von Wesen, am
Problem der Willensfreiheit, an der Dialektik von Aufklärung und Mythos,
von Eros und Thanatos, von Lust und Angst, Faszination und Schrecken,
am Zusammenhang von Grausamkeit und Schaulust, am Problem des
Übernatürlichen, am Mythos des Weiblichen, an der Frage nach Sein und
Nichts und Mensch und Ding oder an Barbara Steele irgend etwas "unmittelbar einsichtig" ist. Die Existenz von Horrorkunst ist das
Beharren auf der Möglichkeit des Nicht-Einsichtig-Seins und
Nicht-Durchsichtig-Seins des philosophisch brennend Wichtigen und
scheinbar Geklärten. Im Grunde proklamiert das Horrorgenre, daß die
finsteren Zeiten der Aufklärung endlich vorbei sind. Wie die
philosophische Skepsis behauptet das Horrorgenre, daß gewisse Fragen,
auf die man Antworten schon lang parat hat, nicht so und womöglich gar nicht beantwortbar sind.
Miserable Horrorfilme,
deren volle Länge man nur mit Schutzengel übersteht, existieren, so wie
es in jedem Genre miserable Filme gibt. Doch darf sich das Horrorgenre
einer Vielzahl subtiler, sublimer, intelligenter Werke rühmen, in denen
beileibe nicht "unmittelbar einsichtige" Antworten auf komplexe Fragen
gegeben werden. Hier von Trivialität zu reden, erinnert verdächtig an
jene Art von Borniertheit, die eine Wahrheit nicht wahrhaben will, weil
der Falsche sie äußert. Das Verdikt trivial ist ein Akt der
Notwehr. Der Horrorfilm ist Umgang mit Verdrängung. Er inszeniert
verbotene, verdrängte und verborgene Erscheinungen der individuellen
Existenz oder des gesellschaftlichen Lebens. Den Horrorfilm abzulehnen
heißt, den Umgang mit Verdrängung als nicht erwünscht abzulehnen.
Es gilt zu differenzieren zwischen dem Genre und dem Zustand
Horror. Natürlich befinden sich das Genre und der Zustand in
untrennbarem Bezug: weil der Horrorfilm zum Ziel hat, Horror auch
auszulösen; weil der Zustand Horror die Strukturen des Genres generiert;
weil das Genre wiederum Erkenntnisgewinn über den Zustand liefert, und
weil seit der Katharsislehre des Aristoteles zur Geltung gebracht werden
kann, daß die Existenz des Genres zu einer besseren Bewältigung des
Zustandes verhilft. Gleichwohl gilt es zunächst, die menschliche Grunderfahrung
Horror zu verstehen: der Zustand Horror beginnt mit dem Schauder des
Menschen vor dem Übernatürlichen, dem Unheimlichen und Dämonischen. Das
Horrorgenre beginnt, spätestens, mit der griechischen Tragödie.
Man könnte mit kaum weniger Recht behaupten, daß es mit den Höhlenmalereien beginnt. Das Bild an der Höhlenwand war auch eine
Repräsentation der Kreatur, die Angst einflößt. Das Bild bedeutet
Zähmung – nicht der "Bestie", aber der Angst vor ihr. Durch die
Darstellung der Tiere "wird man ihrer Herr". Das Bild ist Annäherung an
das Andere und Mächtige. Dieses wird stilisiert, wird dramatische
Vorstellung: die Festlegung zum Bild hilft, die Realität zu bewältigen.
Ein Bild herstellen heißt, Distanz zu erlangen; sich vor, neben und über
das Abgebildete stellen, von der unmittelbar bedrohlichen Präsenz
abstrahieren und eine gewisse Macht über das Gefürchtete gewinnen zu
können. "Verbildlichung" ist nicht Abbildung: "Der Mensch, der zuerst
auf den Gedanken kam, das ihn Umgebende festzuhalten, hatte nicht die
Absicht, eine getreue Reproduktion herzustellen." (Van der Leeuw 1957,
164). Es war ein Re-Präsentieren, das auf der Überzeugung beruhte, daß
man sich mit der Darstellung dem Dargestellten nähern, ja bemächtigen
kann. Die Herstellung der re-präsentierten Gestalt sichert zugleich
Gegenwärtigkeit und Abstand.
Und der Versuch, im Bild das Dargestellte zu beeinflussen, geht davon aus, daß das Dargestellte mächtig ist.
Die Darstellung des Schrecklichen, das Bild des Grauens
ist eine Auseinandersetzung mit der Angst, und diese Auseinandersetzung
reicht zurück bis in die Uranfänge menschlicher Zivilisation und
Kultur. Das fiktive wilde Tier an der Höhlenwand bedeutete ein
Sichwappnen gegen das reale wilde Tier. Zugleich bedeutet es die
Geburtsstunde des fiktiven Schreckens. Das wilde Tier an die
Wand zu malen war eine versuchte, aber nicht vollends geglückte
magische Erledigung der Angst. Was da half, mit dem Realen besser
umzugehen, war immer noch ein Bild des Bedrohlichen. Es hatte
immer noch Macht. Auch aufgund der primitiven Überzeugung, nach der
durch das Bild das Wesen erscheint: " (…) es ist also äußerst
gefährlich, dämonische oder göttliche Wesen bildlich darzustellen. Man
beschwört sie, indem man sie abbildet oder ihre Bilder aufstellt." (Van
der Leeuw 1957, 169).
Das Fiktive legte
Distanz zum Realen, aber zugleich drang das Schreckliche primordial in
das Fiktive. Von Anfang an ist Ästhetisierung ambivalent: ein Bild des
Gefürchteten herzustellen bedeutet zugleich Beschwörung seiner Nähe, das
wilde Tier an der Höhlenwand vermittelt damit zugleich Lust und
Schrecken, das Dargestellte, bildlich Gezeigte ist zugleich anziehend
und furchterregend. Hier liegt der tiefere Sinn von Rilkes Wort vom
Schönen als des Schrecklichen Anfang. Dieser Anfang bezeichnet
einen genau lokalisierbaren Punkt der psychischen Topographie: dort, wo –
durch Ästhetisierung, Abbildhaftigkeit und schließlich Herstellung des
Schönen – das Schreckliche bis zu einem gewissen Grad überwunden wird,
es also ein "Ende" hat, dort liegt auch sein "Anfang" – nur in der
anderen Richtung. Das Schöne ist ein Spiegel, der uns eine Fähigkeit
unserer Wahrnehmung reflektiert. In der Welt hinter dem Spiegel lauert das Schreckliche. Die Spiegelfläche bedeutet zugleich Ende und Anfang des Schrecklichen. Das Horrorgenre ist eine Art des Durchgangs durch den Spiegel. Es muß
von der Schönheit des Schrecklichen handeln, weil es in Erinnerung
ruft, daß es das Schöne ohne das Schreckliche gar nicht gäbe.
Nicht jeder Schrecken
ist tatsächlich lebensbedrohlich, aber jeder Schrecken läßt sich
psychisch zu einer Bedrohung der eigenen Existenz verlängern, ist
potentielle Totalzersetzung von gesicherter Weltwahrnehmung, gesichertem
Identitätsgefühl und kontrolliertem Handeln, potentielle Destruktion
eines Gefühls grundsätzlichen In-Sicherheit-Seins.
Eine Anthropologie des Horrors hätte den Zustand Horror in einem Geflecht aus anthropologischen Grundbegriffen zu lokalisieren: Grenze, Form, Erkenntnis, Ordnung, Identität, das Andere.
Durch den Zusammenhang dieser sich wechselseitig bedingenden Konzepte
entsteht „Wirklichkeit“, der "Kosmos" als erkennbare, verstehbare,
übersichtliche Einrichtung, die "Welt" als Gesamtheit des Seienden in
irgendwie geordneter Einheit, als sinnvolles Verhältnis von Innenwelt
und Außenwelt. In der Konfrontation von Grenze, Form, Erkenntnis,
Ordnung und Identität mit Formen des Anderen – mit ihrem jeweiligen Anderen – äußert sich die Bedrohung von Makrokosmos und Mikrokosmos durch das ihrer Konstitution inhärente Horrorpotential.
Menschliche Erkenntnis basiert auf den Prinzipien von Grenze, Form und Ordnung. Erkennen heißt, etwas als etwas
erkennen, und es gibt kein erkennbares Etwas ohne Form und Grenze. Eine
als Tarantel auf einem Kirschkuchen erkannte Tarantel auf einem
Kirschkuchen grenzt sich in ihrer Tarantelform nicht nur vom
Kirschkuchen, sondern vom gesamten Nicht-Tarantel-Sein überhaupt ab. In
der Erkenntnis, so wenigstens die klassische Konstellation, steht ein
erfassendes Subjekt einem erfaßten Objekt gegenüber. Damit das Subjekt
die Bestimmungen des Objekts erfassen kann, muß das Objekt als
Objekt erfaßt sein, differenziert von anderen Objekten. Indem das
erkennende Subjekt das Objekt als ein Gegenüberstehendes erfaßt und das
erfaßte Objekt von anderen zu erfassenden Objekten abgrenzt, stellt der
Erkenntnisprozeß eine Ordnung des Wirklichen her.
Erkenntnis strebt nach
dem klar Bestimmten und Differenzierten, also voneinander Abgegrenzten,
sie zielt auf das der Form nach Einheitliche und tendiert nicht nur zur
widerspruchsfreien Ordnung, sondern zur Widerspruchsfreiheit als Ordnung. Erkenntnis folgt in der Antike dezidiert, in der Moderne diskret, aber habituell einer Strategie des Logos. Als Logos
galt in der Geistesgeschichte zunächst die weltdurchwaltende Vernunft,
die kosmische Ordnungskraft; der Logos war Signum des göttlichen Ordners
des Weltganzen, dem es als Bestem nur gegeben ist, das Schönste zu tun
(Platon, Timaios 30 a/b), und nichts ist – für Platon und mehrheitlich seit
Platon – schöner als ein vernünftig geordnetes und durch Vernunft in
seiner Ordnung erkennbares Ganzes. Die göttliche Macht hatte alles
Sichtbare "in ungehöriger und ordnungsloser Bewegung" (Platon 2019, 29)
vorgefunden: eine Art Chaos also, aber sichtbar. Auch das Schöne, das der Logos à la Platon schuf, ist das Ende des Schrecklichen, könnte aber jederzeit auch wieder dessen Anfang werden, sobald dieses geordnete Formannehmen voneinander abgegrenzter Dinge in Auflösung geriete.
Da die Rede vom Sichtbaren ist, erklärt sich von selbst, wie die Strategie des Logos auf dem Prinzip des Eidos beruht. Das Wort eidos bedeutet zunächst Urbild, Form, Gestalt, Wesen und gewinnt dann Färbungen, die sich mit den Bedeutungen von Logos überschneiden: Begriff, Idee. Der Gehalt des Terminus Logos fächert sich weiter auf: Rechenschaft, Begründung, Wort, Rede, Gedanke, Sinn, Begriff, Sprache, Ordnung, Vernunft.
Heraklit hatte den Logos eingeführt als das ewige Prinzip, nach dem das
Weltganze geordnet ist. Nicht die ständige Veränderlichkeit der
Phänomene, wie man nach seiner Auffassung, daß alles fließt,
annehmen könnte, sondern die innere Balance aller Dinge und die innere
Einheit aller Gegensätze ist das Zentrale bei Heraklit: der Logos ist
das die Einheit Stiftende, das stabilisierende innere Gefüge des Kosmos,
die unsichtbare Struktur und Harmonie, die (laut Fragment 54) mehr gilt
als die sichtbare. Vielleicht "gilt" sie mehr, aber psycho-logisch
gesehen ist sie später als die sichtbare Harmonie. Der Logos à
la Heraklit teilt sich als Struktur des Seins im Erkanntwerden dem
Denken mit, ist als Gedanke aussprechbar: ein Prinzip des Seins
überträgt, indem es erfahren wird, seine Struktur dem Bewußtsein, der
Sprache, bewirkt das geordnete (vernünftige) Reden. Dieser Sichtweise
gereicht die Vernunft zur Repräsentation des Logos als der einigenden
Ordnungskraft, die den Kosmos durchwirkt: Vernunft, die mit innerer
Logik vorgeht, ist deckungsgleich mit dem Weltlogos. Durch die Bewegung,
mit der sich das Sein "in das Denken und das Wort hinein realisiert"und differenziert, Logos also "Realisierung von Grundstrukturen des
Seienden" (Schadewaldt 1978, 27) bedeutet, sucht sich das Denkgeschehen
seine Objektivität zu garantieren. Tatsächlich aber ist die "sichtbare
Harmonie" ihrerseits Produkt einer anthropologischen Disposition: der Notwendigkeit, dem Prinzip des eidos zu folgen, sichtbar voneinander abgegrenzte Formen zu sehen und so eine Ordnung in die Welt hineinzuregeln.
Sokrates bzw. Platon erklären Logos zur begründeten Rede, die, weil sie von etwas Rechenschaft gibt, Erkenntnis zeitigen kann. Auf Logos-Rede kann man sich verlassen, denn es ist Rede der Form, und dies kann sie sein aufgrund voneinander abgegrenzter Inhalte. Aber schon die Bedeutung von Logos als Wort verrät das Auftauchen des Logos aus dem Eidos: Logos als Wort bedeutet nicht Vokabel, sondern ein Wort, dessen Form durch einen zugrundeliegenden vernünftigen Gedanken zustandekommt; es bedeutet, daß sinnvoll etwas zu etwas erklärt wird, und das ist möglich, weil es möglich ist, es als etwas anzusehen und zu betrachten.
Der Logos verbietet die Ansichtssache, weil die in Rede stehende Sache
als Eidos ansichtig ist, klar bestimmt durch Grenze und Form; erfaßbar
als Bild, Begriff, Idee. Logos handelt vom Übergang einer
sinnvollen Anordnung einzelner, voneinander abgegrenzter Formen aus dem
Sein in das Bewußtsein. Das Verschiedene wird der Vereinheitlichung
unterzogen und zusammengesetzt durch den Logos. Logoi sind (harmonische) Verhältnisse (vgl. Aristoteles, Metaphysik 986a). Angeordnet werden kann nur, was schon Grenze und Form hat, und das Angeordnete ist das Zusammengelegte, Gesammelte, Zusammengelesene: Logos stammt ab von legein, ursprünglich auflesen, sammeln, zusammenlegen, ordnen, zusammenlesen, zählen.
Der Logos aktiviert die vernünftigen Funktionen des Menschen: Sprechen,
Denken, Rechnen. Zählen wird Aufzählen wird Erzählen: etwas herzählen
bedeutet, etwas in bestimmter Ordnung zu nennen, einen bestimmten
Zusammenhang herzustellen, ein "Gefüge von Verhältnissen und Bezügen"
sichtbar zu machen: Logos erscheint hier als "Proportionalität"
(Schadewaldt 1978, 73 ff.).
Logos ist stimmige
Rede, weil sie zu einem wohlgefügten Ganzen verbindet. Zur Zeit Homers
galt Sprache nahezu nur dann als Sprache, wenn sie Wohlklang aufwies,
wenn sie das Harmonische und Stimmige verriet. Das Gesammelte kann in
geordnetes Reden übergehen, sofern Bestandteile voneinander abgegrenzt
und in harmonische Form gebracht werden.
Grenzsetzung und
Formverlangen sind anthropologische Grundbedürfnisse. Grenze und Form
sind die Primärfaktoren unserer "Wirklichkeit", die ersten Medien jeder
Kosmogonie, Bedingungen, ohne die Erkenntnis nicht Erkenntnis sein
könnte. Gravierende Auflösungserscheinungen von Grenze und Form
provozieren den Zustand Horror. Der im engeren Sinne rationalen
Welterkenntnis ist stets ein Modus der Überwindung eingewoben.
Die Strategie des Logos versteht sich als Überwinderin der mythischen
Weltsicht, in der Grenzen durchlässig bleiben und die Elastizität der
Metamorphose regiert. Ratio verlangt immer neues Beharren darauf, daß
der "Welt" vernunftgemäßes Erkennen entspricht. Ratio bedeutet ursprünglich das Abrechnen und Berechnen und entwickelt sich, wie Logos, vom sinnvollen Zusammenlegen, vom Stimmen der Rechnung
her. Summen geben Rechenschaft, Rechenschaft gibt Aufschluß,
berechnende Rücksicht wird Erwägung, das aus Überlegung Hervorgegangene
zeitigt Begründung, die Ratio wird Grund, und wo ein den
Gegenstand erklärender Grund ist, sind vernunftmäßige Verhältnisse:
Maße, Gesetzmäßigkeiten, Regeln, mit einem Wort: da ist Ordnung.
Erkenntnis ist Mobilisierung der Prinzipien Grenze und Form im Namen der
Strategien von Logos und Ratio.
"Rationalität" hat also
eine Provenienz, die nahezu synonym ist mit Aufrechterhaltung des
Kosmos. Rationalität als die den westlichen Kulturkreis dominierende
Weise des Zugriffs auf die Welt behauptet, daß die Welt ohne Ratio ohne
Grund ist, ohne Fundament, und also ins Bodenlose versinkt; zudem
verbindet sie die Auflösung von (oder Auflehnung gegen) Grenze und Form
mit dem Irrationalen. Das Horrorgenre feiert die Saturnalien
von Logos und Vernunft – die Zeit, in der die innere und äußere Ordnung
außer Rand und Band gerät.
Selbst eskalierende Ratio hat ihren
Grund in der visuellen Anschauung, die wiederum unmöglich wäre ohne die
Prinzipien von Grenze und Form. Grenze und Form sind "apollinische" Prinzipien: Camille Paglia hat apollinische Strukturiertheit zum
Charakteristikum des westlichen rationalen Denkens, der abendländischen
Kultur überhaupt erklärt: das Streben des westlichen Menschen ist auf
die Form, auf die abgegrenzte Identität der Dinge gerichtet.
Tatsächlich läßt sich
sagen, daß die berühmte Geste des ausgestreckten Armes des Gottes
Apollon alles symbolisiert, was Erkenntnis sichert und gesicherte
Erkenntnis zeitigt: Abstandnahme, Distanzierung, Vergegenständlichung,
Verobjektivierung, Verbildlichung, Ästhetisierung, Vereinheitlichung,
Grenzziehung, Formgebung, Sicherung von Identität und Ordnung. Damit ist
nicht das Abendland umschrieben. Aber es sind vorherrschende modi einer in der westlichen Zivilisation vorherrschenden Tendenz, die sich unter dem Begriff des Apollinischen
zusammenfassen läßt. Der Zusammenbruch des sicheren Abstands zu den
abgegrenzten Objekten und festumrissenen Formen, die Außerkraftsetzung
der erkenntnissichernden modi, die dem Menschen die Überzeugung
erlauben, sich der Welt zu bemächtigen, der Rücksturz in chaotisches
Verwischen und Verschmelzen der Grenzen, Formen und Identitäten bedeutet
Horror. Und in einem apollinischen Kosmos entspricht der Zustand Horror
der lärmenden Dissonanz des Dionysischen.
Paglia unterstreicht, daß Identität in der westlichen Kultur weitgehend synonym ist mit abgegrenzter
Identität. Dies betrifft die Dinge wie die personale Integrität: der
abendländische Begriff der Individualität ist apollinisch. Das Konzept
der Identität ist abhängig vom Konzept der Grenze und zwangsläufig auch
Funktion der Form-Bedeutung. Ich-Identität, Übereinstimmung der Person
mit dem, was sie ist, setzt voraus, daß dieses Etwas, an dem
Übereinstimmung stattfindet, eine Form hat. Affizierbarkeit der
personalen Identität bedeutet, daß etwas – das Andere – ihre Grenze
trifft, bedeutet die potentielle Veränderbarkeit ihrer Form. Wenn die
festumrissene Grenze der Identität so spezifisch westlich ist, erscheint
auch ihre erhöhte Enervierbarkeit durch das Andere, ihre erhöhte
Anfälligkeit für Horror spezifisch westlich. Buddha ist der unbegrenzt
Existierende, der kein Anderes kennt: seine Unbegrenztheit begründet
seine Untangiertheit, seine Nichtaffizierbarkeit.
Personale Identität bedeutet, daß es ein Anderes
gibt, das nicht zu ihr gehört: Identität und das Andere bedingen sich
ebenso wechselseitig wie Ordnung und Erkenntnis. Wie es keine Identität
ohne das Andere und kein Anderes ohne Identität gibt, so gibt es keine
Erkenntnis ohne Ordnung und keine Ordnung ohne Erkenntnis. Ohne die
Konzepte von Grenze und Form wiederum gibt es weder Erkenntnis noch
Ordnung, und ohne das Konzept der Grenze gibt es keine Form: im Werden
zur Gestalt findet das Unbegrenzte Begrenzung. Offenkundig also hat das
Konzept der Grenze in diesem anthropologischen Koordinatensystem die
tragende Rolle.
Laut Karl Jaspers gibt
es drei Anlässe für Philosophie: das Staunen, den Zweifel und die
Grenzsituation, jene Situation, in welcher der Mensch seine Existenz
erfährt und seiner Endlichkeit gewahr wird: Sterben und Tod, Schmerz,
Leiden, Kampf, Schuld. Sichtlich nun ist auch Horror eine
Grenzsituation; ein Zustand, der das Gewahrwerden von Endlichkeit
abfordert, indem er an Identitätsgrenzen rührt: sei es in der
Konfrontation mit Tod und Auflösung, die an die Begrenztheit des Lebens,
an die Endlichkeit personaler Identität überhaupt gemahnt, sei es im
herausfordernden Zugriff auf eine bestimmte Grenze in der Konstitution
des Selbst, der immerhin noch die Möglichkeit eines Todes im Leben
beschwört – den Tod des alten Selbst.
Die Grenze erzeugt das
Jenseits der Grenze: das Andere, das Fremde. Der Zustand Horror vermerkt
die Bedrohung und das Überschreiten von Grenzen elementarer Bedeutung,
den plötzlichen Einbruch oder Übergriff des Anderen und Fremden. Es gibt
Horror, seit es die Wahrnehmung von Grenzen gibt, und es gibt die
Wahrnehmung von Grenzen, seit es Wahrnehmung gibt. Wo keine Grenze ist,
kann nichts wahrgenommen werden außer Chaos. Das heißt, kann Chaos
wahrgenommen werden? Wo Chaos konstatiert werden soll, muß es immerhin
die Grenze geben, die eine Perspektive ermöglicht, aus der das Chaos
wahrgenommen werden kann. Wenn Paglia bemerkt, das Chaos der archaischen
Nacht sei "formlos und grenzenlos" (Paglia 1995, 359) gewesen vor der Geburt des Blicks, ist damit die Blickdominanz der westlichen Kultur als Maßnahme gegen das Chaos angesprochen. Wir fürchten eine Grenze zum
Chaos, die wir mit ordnungshörigem und ordnungsschaffendem Blick
fernzuhalten suchen; aber wir glauben an die Existenz dieser Grenze.
Es gibt keine
Erkenntnis ohne Grenzen. Die Grenze etabliert Ordnung durch
Differenzierung: undifferenzierte Einheit oder Chaos oder Formlosigkeit
oder Anarchie wird in Ordnung überführt durch Akte der Abgrenzung. Die
Grenze ist elementares Prinzip der Seinsgestaltung – und Abgrenzung ist
elementares Prinzip der Identität. Indem durch Abgrenzung das Andere
entsteht, stellt sich Identität her, und die Art und Weise der
Grenzziehung bestimmt, in welchem Maße das Andere das Fremde
ist. Das in der Herstellung von Ordnung und Identität konstituierte
Andere wird zum potentiellen Horror, wenn seine Entfernung durch die
Grenze zu weit oder nicht weit genug gegangen ist; wenn es zu fremd
geworden oder zu nah geblieben ist. Durch die Grenze selbst gerät Horror
zur ständigen Unio mystica – zur geheimnisvollen Einheit – mit dem Anderen.
Eine Grenze des Selbst ist tangiert und steht auf dem Spiel, die sich beim Menschen der Frühzeit auch dadurch erst befestigte, daß er im
Horror die Grenzverletzung empfand. Der überwältigende,
schaudernmachende Eindruck beweist etwas, das überwältigt worden ist und
schaudert; mir widerfährt, also bin ich – horreo ergo sum. Die erste
plötzliche Konfrontation mit einem Anderen in der archaischen Menschheit war der Übergriff des Numinosen, empfunden als Schauder vor dem mysterium tremendum und dem Ganz anderen, wie Rudolf Otto es nennt.
Die Strategie des Logos
vermag den Zustand Horror nicht abzuschaffen, denn Horror dringt gerade
aus den Sollbruchstellen dieser Strategie und beweist die Anfälligkeit
der Aufklärung für den inhärenten Feind, das von ihr vermeintlich
Überwundene. Angst, Verstörtheit, Unglück, Beunruhigungen, Spannungen
fliehen zu Rationalisierungsbestrebungen. Die Grenzziehung als
anthropologische, erkenntnistheoretische oder auch soziale conditio sine qua non
soll den Horror bannen, Furcht minimieren, diffuse Weltangst lindern,
soll Form, Ordnung, Identität und Erkenntnis gewährleisten – und enthält
doch in dem Maße ein gesteigertes Potential für Horror, je rigoroser
die Grenzen gezogen werden. Je mehr das Andere durch rigide Grenzziehung
zum Fremden wird, um so befremdlicher und horrender wird der Kontakt
mit ihm, wenn die Grenze keine Ab- und Ausgrenzung mehr leistet.
Dialektik der Aufklärung: je mehr beherrschbar und beherrscht wird, um
so stärker wird der Rest an Unbeherrschtem und Unbeherrschbarem zur
Quelle der Angst.
Eine Anthropologie des Horrors
hätte also der These zu folgen, daß Horror die beständig lauernde
Immanenz in den humanen Strategien zur Weltbewältigung ist, eine durch das Streben nach Weltbewältigung gesetzte Immanenz, eine Art ghost in the machine
in der Entwicklung der rationalen, logisch-vernunftgebundenen Welt- und
Selbsterkenntnis. Horror ist der auf Grenze, Form, Ordnung und
abgegrenzter Identität basierenden apollinischen Strukturierung der Welt
notwendig inhärent. Zuerst bestimmt die Art des Horrors die Art der
Rationalität: Strategien der Weltbewältigung sind zunächst Strategien
zur Vermeidung von Horror. Als Geist in der Rationalitätsmaschine wird
der Zustand aber nach wie vor akut, wenn deren Strategien versagen oder
sich als unzulänglich, als verkürzend herausstellen. Der Zustand Horror
verweist auf die andere Seite der apollinischen Struktur. Im
Horrorgenre erscheinen Wesen und Zustände, deren Herkunft die "Hohlräume
in der abendländischen Kultur" (Leppmann 1993, 149) sind. Indem das
Genre Horror den Zustand Horror vorsätzlich beschwört, erinnert es an
die von den rationalen Strategien ausgeblendeten Bereiche und kritisiert
die von ihnen geschaffenen Paradigmen. Grenze, Form, Ordnung oder
Identität als anthropologische Grundkonstanten bzw.
erkenntnistheoretische Versicherungen werden vom Horrorgenre in ihren
deutlichen oder möglichen Verengungen angegriffen; die Frage des Bezugs
zum Anderen – und zum Anderen der rationalen Paradigmen – wird stets
aufs neue zugespitzt.
Horrorkunst würde nicht
auf diese Weise kritikfähig sein können, wenn der Zustand Horror
lediglich aus Repulsion und Abscheu bestünde; dann käme es stets zur
Reduktion auf den Status quo, zur Affirmation und Festigung bestehender
äußerer und psychischer Gefüge. Der Zustand Horror ist jedoch wesentlich
Ambivalenz: eine Mischung aus Abscheu und Lust, aus Repulsion und Faszination. Und diese Lust, diese Faszination am Anderen
des Status quo verleiht dem durch das Horrorgenre transportierten
Unbehagen über das allzu Verengende der rationalen Strategien Gewicht.
Abscheu und Repulsion sind Reaktionen der Beschränkung, apollinische
Bekräftigung bestehender, versichernder Grenzen und Formen. "Das Apollinische ist stets reaktionär" (Paglia 1995, 162). Lust hingegen ist stets Lust an der Erweiterung,
also auch an dionysischer Grenzauflösung. Freud definierte Eros als das
Streben danach, größere Einheiten zu schaffen. Der Schauder des Horrors
bedeutet eine Art Aufrichten der Antennen: zur Kommunikation mit dem
Unbekannten, Unvertrauten, Unheimlichen. Jede Art von Horror hat diese
erotische Komponente: die plötzliche und violente oder aber sukzessive,
jedoch anhaltende Öffnung zum Austausch mit dem Anderen, ein Austausch,
der das eigene Selbst moduliert und modifiziert. Der Reiz des Schreckens besteht darin, diese Öffnung zu ertragen. Nicht trotz der Aufklärung gibt es eine Lust an der Angst, sondern wegen ihr.
Horror steht in der
Dialektik von Grenze und Entgrenzung, von Form und Formlosigkeit bzw.
Deformation, von kognitiver Orientierung und kognitiver Desorientierung,
von Ordnung und Chaos; in der Dialektik von Ich-Identitäts-Sehnsucht
und Ich-Identitäts-Auflösungs-Sehnsucht; schließlich in der Dialektik
des Selben und des Anderen, des Eigenen und des Fremden. Virulent wird
der Zustand Horror in der Wechselwirkung einer auf Grenze, Form, Ordnung
und Identität sich beziehenden apollinischen Beharrungstendenz und
einer dionysischen Auflösungstendenz. Das Horrorgenre thematisiert
zugleich den Schrecken der Nichtvorhandenheit von Grenze, Form, gesicherter Erkenntnis, Ordnung, Identität, und die Lust an der zeitweiligen
Nichtvorhandenheit all dessen; der Zustand Horror schillert zwischen
der Sehnsucht nach dem integren, abgeschlossenen Selbst und der
Sehnsucht nach dem Anderssein, der Metamorphose. Zwischen der Angst, daß
man die Kontrolle über das eigene Schicksal verliert, und der Lust
daran.
Horror ist anthropologische Notwendigkeit gerade durch
das anthropologische Grundbedürfnis nach kognitiver Orientierung. Die
plötzliche Konfrontation mit dem Anderen als dem, was den prinzipiell zu
immer mehr Rationalität strebenden Strategien kognitiver Orientierung
prinzipiell zuwiderläuft, die Konfrontation mit dem, was im Hinblick auf
Grenze, Form, Ordnung und Identität das Andere darstellt und in seiner Bedrohlichkeit doch zugleich faszinierend und anziehend wirkt, ist die klassische Horrorsituation.
In seiner Theorie der Moderne namens Philosophie des Geldes (1900) erkennt Georg Simmel im Hinblick auf das Lebensgefühl und den Stil des modernen Individuums die Distanz
als eine grundlegende Bestimmung. Simmel diagnostiziert die Tendenz zu
einer immer größer werdenden inneren Distanzierung zwischen dem Ich und
seinen Lebensinhalten, inneren wie äußeren, als ein Signum der Moderne,
das sich weit über den Bereich des bloß Ästhetischen hinaus kundgibt.
Das Interesse seiner Zeit begreift Simmel als in ungewöhnlich hohem Maße
auf Entfernung und Vergrößerung der Distanz
gerichtet: er konstatiert die grundsätzliche Neigung, die Dinge
möglichst aus der Entfernung auf sich wirken zu lassen. Das ästhetische
Interesse gilt Simmel hier nur als das anschaulichste Zeitzeichen.
Generell habe das moderne Individuum, wie Simmel feststellt, eine Scheu vor der konkreten Nähe entwickelt,
womöglich gar eine verkümmerte Empfindungsfähigkeit dieser konkreten
Nähe gegenüber. Den seinerzeit dominierenden Kunststil des Symbolismus
deutet Simmel als Berührungsangst, als Furcht, in allzu nahe Berührung mit den Objekten zu kommen, und als Symptom einer Hyperästhesie
der Moderne. Es liegt nahe, den Zustand und das Genre Horror auch im
Lichte einer solchen Diagnose zu betrachten: im Phänomen Horror verbirgt
sich auch eine Dialektik von Nähe und Distanz.
Apollon und Dionysos
haben in diesem Zusammenhang nicht nur emblematische Funktion; vielmehr
sind das Apollinische und das Dionysische zu verstehen als zwei
grundsätzlich differente Einstellungen zu Nähe und Distanz, als zwei
genuin zu unterscheidende Verhaltensweisen zu Grenze, Form, Ordnung,
Identität und den modi des Erkennens, als zwei Arten, sich zum Anderen
zu verhalten. Der Zustand Horror oszilliert zwischen dem Apollinischen
und dem Dionysischen, zwischen dem Willen zur Umgrenztheit und der Lust
an der Auflösung.
Horror, als Kompositum
aus Angst und Lust, als Reaktion auf die Andersheit des Anderen, als
Grenzgang zwischen der Sehnsucht nach Grenze und der Sehnsucht nach
Entgrenzung, wird durchzuckt von einem irritierenden Reflex: der Lust an der Zufügung,
dem lustvollen Aushalten des Erleidens von Macht, Übergriff und einer
Art von Gewalt. Horror ist ein Intensimeter im sadomasochistischen Labor
der Psyche.
Kein schmaler Grat läßt in solchem Maße Wanderungen zu wie die Grenze. Ernst Cassirer hat in seiner Philosophie der symbolischen Formen eine Reihe von mythischen Indifferenzen zusammengefaßt und erklärt, welche Grenzen im mythischen Weltbild nicht gezogen wurden – oder werden. Das Horrorgenre handelt auch
vom Einbruch dieses mythischen Weltbildes in das moderne,
wissenschaftliche, vernunftgeleitete Weltbild. Es handelt vom
atavistischen Untergraben der Strategien, die Logos, Rationalität und
Aufklärung hinsichtlich der Grenzziehungen zwischen, unter anderem,
Leben und Tod, Mensch und Tier, Vergangenheit und Gegenwart, Ich und
Nicht-Ich, Erscheinung und Wesen, psychischen Funktionen und materieller
Existenz, Substanz und Kraft, einem Ort und seiner "Macht" für
unwiderlegbar und unwiderruflich halten. Cassirers Beschreibung des
mythischen Weltbildes liefert Parameter für die Analyse des
Horrorgenres.
Eine Phänomenologie des Horrors hätte die verschiedenen Erscheinungsformen des horrenden Anderen zu
untersuchen. Versionen des Anderen, die auftreten könnten: das
Übernatürliche, das Nichtseiende, das Unheimliche, der Tod, das
Formlose, das Monströse, das Dämonische, das andere Ich, die Natur, das
Heidnische, die Sexualität, der Körper, die Frau. Es sind dies
selbstredend auch Erscheinungsformen einer kulturellen Herstellung
des Anderen. Ein eigenes Kapitel würde dem Vampir zustehen, nicht nur,
weil es sich um den populärsten Vertreter des Horrorgenres handelt,
sondern vor allem, weil Vampirismus wie kein anderes Motiv des
Horrorgenres über die Lust an der Zufügung aufklärt.
Eine Ideologie des Horrors hätte zu untersuchen, mit welchen Zielsetzungen Horror evoziert wird. Es gibt eine Geschichte des Einsatzes von Schreckbildern zur Einschüchterung,
etwa in den Höllenvorstellungen, die als moralisches Druckmittel mit
dem Ziel der Verhaltenskontrolle und letztlich einer Aufrechterhaltung
des gewünschten Status quo propagiert wurden. Eine gängige These zum
Horrorgenre lautet, daß es als eine Art "mythische Aufklärung"
funktioniert, über den in gesellschaftlicher, sozialer oder
geschlechtlicher Hinsicht erwünschten Status quo informiert und
opportunes Verhalten propagiert. Das Andere und Fremde werde mit dem
Bösen assoziiert, das in die jeweils sakrosankte Struktur eindringt,
doch führe der Horrorfilm dieses potentiell Zersetzende nur vor, um es
wieder zu überwinden und so die Stabilisierung der herrschenden Zustände
und erneutes Dissimilieren vom Anderen und Fremden nahezulegen.
Vertretern dieser These gilt das Horrorgenre als morality play mit stets demselben repressiven und reaktionären Ausgang. Was in Frage zu stellen wäre.
Die Verabreichung von realem Schrecken oder Schreckbildern war auch stets zur Lusterzeugung
dienlich. Realhorror hat seine Geschichte auch als öffentliches
Spektakel, von den römischen Schauspielen, bei welchen der Darsteller
des Herkules im Nessushemd tatsächlich verbrennen mußte, bis zu den
Hexenverbrennungen und öffentlichen Hinrichtungen. Die Verabreichung von
Horror-Bildern soll demgegenüber als Surrogat gelten, das
einen nach Grausamkeit lüsternen Voyeurismus befriedigt und entschärft.
Wenn aber schon die Verabreichung von Realhorror als Kanalisierung des
Instinkts zu realer Gewalttätigkeit gelten soll und somit selbst
Surrogatfunktion einnimmt, wird eine Grenze zwischen Realhorror und
Schreckbild fließend: beides scheint auf dieselbe psychische Disposition
zu treffen.
Womit die Ebene der Rezeption angesprochen ist. Warum setzen sich Menschen überhaupt
dem Schreckbild oder dem Realhorror aus? Von welcher Art ist der Genuß
daran? Und in welcher Beziehung steht dieser Genuß mit den Intentionen,
die hinter der Produktion von Schreckbildern stehen? Sind die
Botschaften, die angeblich vermittelt werden sollen, wirklich die vermittelten Botschaften? Ist nicht vielmehr die Behauptung, der Horrorfilm solle eine bestimmte Botschaft vermitteln, ihrerseits verdächtig, insgeheim selbst
die Stabilisierung des Status quo für vermittlungsbedürftig zu halten?
Der Horrorfilm ist hier in solchem Maße offen für Ambivalenzen, daß zu
fragen ist, ob die ihm lange zugeschriebene Intention nicht eine aus
bestimmten Gründen propagierte Fiktion ist; es sind längst ganz andere
Botschaften empfangbar als Konformismus, Konsolidierung der Ordnung und
Exorzierung des Anderen.
Im Horrorgenre wird
auch das nicht aufzuhebende Andere im Ich thematisiert; aus dem
desintegrierten Ich eine neue Haltung dem Anderen und Fremden gegenüber
zu entwickeln, ist der Ansatz von Julia Kristeva in Fremde sind wir uns selbst.
Wo Immanenz des Fremden im Eigenen konstatierbar ist, bedeutet das
Fremde hassen und bekämpfen nichts anderes als: das eigene Unbewußte,
das eigene "dunkle" Andere hassen und bekämpfen. Wenn ich mir selbst
Fremder bin, gibt es keine Fremden, die fremder wären als ich.
Dies eröffnet den Blick für die subversive Ethik des Horrors.
Integrale Andersheit zu erkennen, kann bedeuten, das Andere integral zu
behandeln. Grenze, Form, Identität, Ordnung sind geschlossene Konzepte;
Horror ist ein Weg ins Offene, und das Offene ist ein Weg aus dem
Horror. Der Zustand Horror birgt hochexplosives erotisches Material;
wenn Horror eine erotisch aufgeladene Konfrontation mit dem Anderen und
Fremden ist, heißt dies zumindest für die Dauer des Affekts: sich in
größerer, erweiterter Einheit mit dem Anderen und Fremden zu befinden.
Worauf es ankäme, wäre: den Affekt dadurch letztgültig aufzuheben, daß
etwas an ihm ins Unendliche verlängert wird – der intensive Austausch
mit dem Anderen und Fremden. Die Bilder des Horrors bedeuten in diesem
Sinne: Öffnungen zur Andersheit.
Der Zustand Horror befreit kurzfristig von der Rationalität. Aber ein Zustand namens das Offene könnte längerfristig vom Horror befreien. Nach Jaspers ist die existenzerhellende Grenzsituation immer auch Durchgangssituation. Wohin also? Zur Fortsetzung von Kierkegaards Der Begriff Angst
mit anderen Mitteln: nicht der Sprung in den Glauben wie bei
Kierkegaard, sondern der Sprung ins Offene ist zu wagen, als Geste gegen
die einseitig verengte und verengende, verselbständigte Rationalität,
die "lebensfeindlich (…), (selbst)zerstörerisch, imperialistisch" (Collmer 1994, 344) wirkt, sofern sie die grausame Geschlossenheit der
Form und die lediglich ausgrenzende Grenze verlangt, aus dem Konzept der
Ordnung Ambivalenz und Widerspruch, aus dem Konzept der Identität "verstörende" Metamorphosen herauszuhalten sucht, sofern ihre Logik
nicht Alogik zu umgreifen lernt und sofern ihr Bezug zum Anderen
permanent genau jene Geister beschwört, die sie zu bannen sucht.
Die Beschäftigung mit
dem Zustand Horror ist notwendig auch eine Zustandsbeschreibung der
westlichen, abendländischen Rationalität. Der Zustand Horror reflektiert
präzise, wie diese Rationalität sich konstituiert, was sie bedroht und
wo ihre Defizite liegen. Sich auf den Zustand und das Genre Horror
einzulassen heißt, sich auf das Unbehagen in der Rationalität
einzulassen. Wo Rationalität in Hyperrationalität umschlägt, die
Hypermuster schafft, Hyperordnung oder Hyperidentität einschleusend,
kann Horrorkunst als Korrektiv wirken. Der Zustand Horror ist
dezentrierte Rationalität; das Genre Horror ist kalkulierte
Dezentrierung hypertropher Rationalität. Wenn Hyperrationalität ihrem
immanenten Horror ständig ausgeliefert ist, bedarf es der Offenheit
nicht für Irrationales, aber für Para-, Kontra- und Neorationales. Das
Gegenteil von Hyperrationalität muß nicht Obskurantismus sein.
Selbst dort, wo im Plot
die Interaktion mit dem Anderen und Fremden jäh abgebrochen wird, mahnt
der Horrorfilm doch unentwegt zur Überprüfung des eigenen Bezugs zum
Anderen und Fremden. Selbst dort, wo er Repression bebildert, kann er
progressiv wirken. Selbst dort, wo der Plot restriktiv zur Ordnung ruft, kann der Film
sie destabilisieren. Horror als die Kraft, die stets das Eigene will
und doch das Fremde schafft. Der Stoff, aus dem die Alpträume sind,
verdient einen Traum am Grenzstein: über die Grenze als
Sicherheitsfaktor und als Unsicherheitsfaktor, über die Weisen,
sie zu überschreiten, über den Wert der Grenzerfahrung und die
Horizonterweiterung durch den Grenzgang. Ist das noch (oder schon)
Philosophie? Philosophie bedeutet: Liebe zur Weisheit. Philosophie des
Horrors bedeutet: Liebe zur Weisheit des Horrors.
Die Philosophie des
Horrors ist interdisziplinär und zuweilen disziplinlos. Sie versucht
sich objektiv am Aufspüren eines Urphänomens, erlaubt sich aber auch
gnadenlose Subjektivität. Sie ist geboren aus der Erkenntnis, daß
Philosophie dem Horror nicht entkommen kann – und Horror der Philosophie
nicht entkommen können sollte.
Literatur:
Aristoteles: Metaphysik, Reinbek bei Hamburg 1994.
Collmer, Thomas: Pfeile gegen die Sonne. Der Dichter Jim Morrison, Augsburg 1994.
Heraklit: Fragmente, München und Zürich 1986.
Leppmann, Wolfgang: Rilke. Sein Leben, seine Welt, sein Werk, Bern und München 1993.
Paglia, Camille: Die Masken der Sexualität, München 1995.
Platon: Sämtliche Werke, Band 4, 25. Auflage Reinbek bei Hamburg 2019.
Schadewaldt, Wolfgang: Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen, Frankfurt am Main 1978.
Schmid, Hans: Fenster zum Tod. Der Raum im Horrorfilm, München 1993.
Van der Leeuw, Gerard: Vom Heiligen in der Kunst, Gütersloh 1957.