Freitag, 31. August 2018

Marianne Faithfull














































Sie, deren Schönheit so exzeptionell war wie die Form ihrer Intelligenz, die aber unter einem dunklen Schatten lebten, Nico oder Marianne Faithfull. Marianne Faithfull, de facto und nicht nur metaphorisch eine Verwandte von Leopold von Sacher-Masoch, hat Mick Jagger mal Bulgakows "Der Meister und Margarita" geschenkt, so kam es zu "Sympathy For The Devil". Als Jagger sich von ihr trennte, unternahm sie einen Selbstmordversuch, und nach einem Sechstagekoma waren ihre ersten Worte: Wild horses couldn't drag me away. Sie schoß sich im Theater Heroin, um als opheliahafteste Ophelia in die Geschichte einzugehen, lebte zeitweise in Soho auf einer Mauer und wurde doch die Frau, die immer wiederkam. In einem ihrer späteren Songs, "Times Square", gibt es diese Zeile: "Playing in a wrong world". Man weiß, warum diese Ophelia, dieser boy's dream, auf dem Weg der Selbstzerstörung den Times Square aufsucht, aber dahinter steht eben dies: playing in a wrong world. Dieses Grundgefühl, ein Fremdgänger zu sein in dieser Welt, in der als "wirklich" definierten Welt.
 









1979 hat Marianne Faithfull mit Broken English ihr Revolutionsepos geschaffen, kontrovers, provokant, radikal, wehmütig, aggressiv, düster, kalt, giftig, illusionslos. Die helle, reine Stimme der belesenen Adelstochter und Klosterschülerin ist verschwunden, auf "Broken English" hört man die rissige Stimme einer Frau, die keinen Zweifel mehr daran läßt, daß alle Verobjektivierungen, zu denen der immer leicht abwesend wirkende Engel der Sixties vielleicht einlud, hiermit gescheitert sind. Auf dem Cover hält sie noch die Zigarette in der Hand, deren Rauch sie gerade ins Gesicht aller Erwartungshaltungen geblasen hat. Eine schmerzend intime Bestandsaufnahme am seidenen Faden, Schnappschüsse aus einer Zeit, in der Mariannes persönliche Lebenssituation - Junkie ohne Dach über dem Kopf - und das Klima kollektiver Ernüchterung, das in die Revolte des Punk umgeschlagen war, sich als Ausgangspunkt für Broken English gegenseitig unter Druck setzen. In ihrer Autobiographie beschreibt Marianne Faithfull später diese Stimmung als Mahlersymphonie, die außer Kontolle gerät. Weniger Ästhetizismus prägt ihren legendären Vortrag auf "Why D'Ya Do It" - Lyrics von Heathcote Williams, dem Prospero in Derek Jarmans "The Tempest" -, der dazu führt, daß Broken English in Australien ohne diesen Track erscheint. 
 
Broken English erzählt keine Geschichten mehr, sondern hat sie gelebt. Und doch beweist Marianne Faithfull auf "The Ballad of Lucy Jordan" herzzerreißend, wie sehr es ihr dennoch möglich ist, sich wiederzufinden in einer Frau, die sich am Nichtgelebten ihres Lebens entlang in sanften Wahnsinn gleiten läßt. "Lucy Jordan is me if my life had taken a different turn. It's a song of identification with women who are trapped in that life and the true private horror of the 'good life', the one women are meant to aspire to." Auf Broken English konzentriert Marianne Faithfull ihren Mut, alles, was sie durchlebt hat, als Teil der eigenen long road zu verstehen, unashamed.
 
 
 
 
 
 
 
 
Stoned, verletzlich, sexy, halb gekreuzigt, umgeben von Trotteln und die atemberaubende Pose durchhaltend:
 
 
 
 















Dangerous Acquaintances galt dann 1981 als Enttäuschung. "Truth Bitter Truth" oder "So Sad" lassen das Album durchaus nicht so lauwarm erscheinen, wie Kritiker es sehen, aber der letdown führte dazu, daß Marianne Faithfull wieder in der Versenkung verschwand.

1983, A Child’s Adventure. Mir schien, ich war der einzige weit und breit, der diese Platte kaufte.

"Und ebensowenig wie die Träume kümmert es das Kind, ob seine Bilder denen des wirklichen Lebens gleichen oder ob sie vollständig sind: es nimmt einfach an, sie seien es, und Punkt." - Felisberto Hernández, Das verlorene Pferd

Wie ein verirrtes Kind, diese Platte. Ich liebte sie, bis vom Vinyl nicht mehr viel übrig war. Verschenkte "Times Square", "Ireland" und "The Blue Millionaire" auf den Dingern, die man heute Mixtapes nennt, and nobody cared. Daß Marianne Faithfull das Heroin noch nicht hinter sich hatte, war die schreckliche Wahrheit hinter A Child's Adventure.

Anyway, so ging es die ganze Zeit mit Marianne Faithfull. Immer kam sie plötzlich von irgendwoher und zwang einen mit einem Song in die Knie. 
 
 
 
 






In a tired part of the city 
Hiding from the fast talk
Watch Don't walk to Walk 
Easy when you're dreaming
Staring at the movies
Standing in a circle
The laughing at the wrong time

If alcohol could take me there
I'd take a shot a minute
And be there by the hour

Take a walk around Times Square
With a pistol in my suitcase
And my eyes on the TV

In a car taking a back seat
Staring out the window
Thinking about danger
Playing in a wrong world
Fighting but I'm not free
Talking on the telephone
Talking about you and me

If Jesus Christ could take me there
I'd fall down on my knees
Have no questions to his answers

Take a walk around Times Square
With a pistol in my suitcase
And my eyes on the TV

And if I die gaining my senses
Wake up in a hotel
Staring at the ceiling.










1999 erreichte ich im letzten Moment die Musikhalle. "Was kostet die billigste Karte?" - Es war 5 vor 8, sie kostete 35. "Uff!" - "Du meinst, uff, so billig kann man Marianne sehen." - "Uff, wo sitze ich denn da?" - "Uff, ganz oben." Aber dann saßen wir alle im Parkett, weil das Konzert nicht ausverkauft war. Aber wir, die wir da waren, rührten sie zu Tränen, und sie uns. Jemand reichte ihr eine Blume, sie nahm sie entzückt wie ein junges Mädchen, und dann doch ironisch-abgeklärt: "They're from your mother's garden, aren't they."



"Wilder Shores Of Love" ist der Song unter allen Marianne Faithfull-Songs, den ich höre, wenn vom Nachthimmel die Engel fallen.




 
 
 
 

Think about it when you’re out on the street
Think about it when you’ve nothing to eat
How did you fall so low from so high above?

Think about it when you’re on your own
Think about it when you’re leaving home
You didn’t see it coming, the velvet glove

Too far out on the wilder shores of love
Too far out like you knew before
On the wilder shores of love

Think about it from the other side
Realize you’ve got nothing to hide
There’s no one left alive to give you away

Night moves in mystery
What else do you want to be?
Did no one ever show you the way?

Just found out on the wilder shores of love
Just found out what you did before
On the wilder shores of love

Too far out on the wilder shores of love
Too far out what you knew before
On the wilder shores of love

I can feel your dangerous love around me
Do I want to go in there again
When all I wanted was for you to drown me
And love was there to make me go insane

I remember all the lies you told me
Shut my eyes and always you appear
I can’t forget the way you used to haunt me
I can’t forget the love that wasn’t there

Too far out on the wilder shores of love
Too far out like you knew before
On the wilder shores of love

So far out on the wilder shores of love
So far out like you knew before
On the wilder shores of love



 
[From a letter]. 
 
Yesterday afternoon, after they had sent me home for two days off, I had fallen asleep with my fever head while a collection of Marianne Faithfull songs was playing. Woke up again, sobbing, because in a dream I had been lying on my bed, crying, and a certain person who is gone had come in silence to look for me, and I understood crystal clear how the idea of angels being around came into this world. And the music was still playing and the song that just faded was this one. I'm not kidding.

















Marianne Faithfull in "Lucifer Rising", Regie Kenneth Anger.
 
 
 
 
 

 






























 
 
























(erstveröffentlicht / first published 04/2013)



















2 Kommentare:

  1. Und wieder eine dieser normalerweise unsichtbaren Verstrebungen der Welt. Man wundert sich ja immer, woher sie ihre Stabiliät nimmt, warum sie nicht auseinanderbricht angesichts dieser enormen Verwerfungen, Fliehkräften, Dummheiten und Ungerechtigkeiten. Doch sie dreht sich einfach weiter, unbeeindruckt, torsionssteif und biegefest, fast schon stoisch, wenn nicht provozierend. "The Ballad of Lucy Jordan"....ich dachte, ich seh´ nicht richtig, das einzige Lied, bei dessen Erklingen ich vor versammelter Mannschaft mal in Tränen ausgebrochen bin.
    In einem Sportwagen durch Paris brausen, lauer Nachtwind, der über die Windschutzscheibe wirbelt, fliegendes Haar im Gegenschein der Straßenlaternen. Warmes Straßenpflaster, man schlüpft aus den Schuhen und stellt die Barfüße daneben, unterm Bistrotisch auf dem Trottoir. Man schaut und atmet und lebt, weil die kleinste Berührung alles ändert.

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Another thing we share, then. Marianne Faithfull hat mir im Leben wiederholt die Tränen in die Augen getrieben, "The Ballad Of Lucy Jordan" unausweichlich. Das, wobei Sie dachten, Sie sehen nicht richtig, stammt aus dem Dezember 1979, holländisches TV, kann mich nicht immunisieren gegen die Heroinaugen, gegen ihre Schönheit zwischen kompletter Entrückung und Capricorndisziplin.
      Es gibt auch einige der frühen Aufnahmen von Marianne Faithfull, die ähnliche Wirkung auf mich haben, "I Have A Love" (von "Love In A Mist", 1967) ist ein Song, auf dem ihre noch helle Stimme von derart überirdischer, tragischer Unschuld ist, daß man nichts mehr hört als einen Engel, der weiß, daß er in Fetzen gerissen wird.




      Löschen