Montag, 10. August 2020

Der amerikanische Freund













Impressionen zur Wim Wenders-Werkschau in der ARD-Mediathek. Exzerpte aus -> "111 Lieblingsfilme", Kommentarsektion




18.07.2020



ray05:
"Der Amerikanische Freund" ist in meinen Augen heute ein unsterbliches Meisterwerk, wie konnte ich das je missachten.



Antirationalistischer Block / Christian Erdmann:
"Der Amerikanische Freund". Unter freiem Himmel wiedergesehen vor ein paar Jahren. Wie leer Hamburg ist in diesem Film. Zu den raren Privilegien eines Hamburgers gehört es, an der Elbchaussee-Villa vorbeiradeln zu können und zu denken: HIER! DENNIS HOPPER UND BRUNO GANZ! HIER! "I'm on the roof with the gun!" Hopper, gerade aus dem Herz der Finsternis zurück, die Chemie zwischen ihm und Bruno Ganz bei den Dreharbeiten, blutige Nasen und trunkene Verbrüderung.

















25.07.2020



Next stop "Der amerikanische Freund".



ray05:
"Der amerikanische Freund" wird Dich umhauen, Photographie und generell Kameraarbeit sind extrem stark hier, die Takes im Zug und dann am Strand sind allerbester Wenderismus. Bin glücklich, diesen Streifen wiederentdeckt zu haben.



27.07.2020 



Antirationalistischer Block / Christian Erdmann:
Hopper stieg in Hamburg aus dem Flugzeug, kam direkt aus dem philippinischen Dschungel, wo er mit Coppola und Brando "Apocalypse Now" gedreht hatte, mit noch blutenden Wunden, in einer Art Schockzustand, selbstmordgefährdet, im Körper alle der Menschheit bekannten Drogen. Er hatte das Drehbuch vergessen und überhaupt den Sinn und Zweck seiner Reise nach Deutschland. Wenders nach ein paar Tagen: Entweder reißt du dich jetzt zusammen, oder du fährst nach Hause, ich will nicht, daß du hier bei mir am Set stirbst. In diesem Interview von 2008 sagt Dennis Hopper: "Wissen Sie, ich torkelte damals durch Hamburg wie ein Verlorener durch einen Schneesturm. Aber in all dem Chaos war Wim immer da... Er fing mich auf und holte mich zurück ins kreative Leben. Ins Leben überhaupt. Die Arbeit am 'Amerikanischen Freund' hat mich gerettet."

Wenders sagt auch: so beängstigend Dennis Hopper vor der Kamera wirken kann, tief im Innern sei er die liebenswürdigste Seele, die er je getroffen habe.

"What's wrong with a cowboy in Hamburg?" – "Meine Damen und Herren, wir kommen zu dem Höhepunkt der Auktion." Dennis Hopper inmitten honorig-biederer hanseatischer Statisten, und hinter ihnen David Blue. Der in Bob Dylans "Renaldo & Clara", remember, der erste Film, den ich je auf Video aufnahm, am Flipper steht und Geschichten erzählt. Fucking Samuel Fuller – auch wenn der tatsächlich schon 1973 in Deutschland einen "Tatort" gedreht hat – in einem Speisewagen der DB und später am Steuer eines Krankenwagens, der nächtens in der Elbchaussee steht.








Unablässig bringt Wenders Mythen zusammen und erschafft so neue Mythen. Wenders ist wie The ever watchful Eye, schwebend über der Welt, beobachtend und miteinander verbindend, was in seiner Schönheit / Wahrheit für ihn miteinander korrespondiert (Keats-Maxime # 1: "Beauty is truth, truth beauty".) Surreale Effekte, die Bestandteil sind der hypnotischen Kraft, die ein Wenders-Film hat, wenn sein furchtloses Experiment mit dem Möglichmachen des Unmöglichen gelingt. Hier gelingt alles. Die Story, die Schauspieler. Bilder und Szenen, die noch lange geblieben sind, seit mich der Film zum ersten Mal umhaute, und bleiben werden. Die Musik. Hamburg, als "marvellously gloomy city" (jemand bei imdb). Der Film ist unendlich traurig. Und voller Momente, die einfach nur hilarious sind. Du hast mir mal erzählt, daß Du als Achtklässler mit einer Kurzgeschichte den Schulwettbewerb gewonnen hast, eine wüste Film noir-Hommage. Wer diese Art von Achtklässler ist, muß Glück empfinden beim Wiederentdecken von "Der amerikanische Freund". :)














Fuck "Der Untergang", wir wußten lange vorher, daß Bruno Ganz der Größte ist. Mir stiegen Tränen in die Augen, als wir auf Burg Pernstejn den Tiroler Hof betraten und ich an derselben Stelle mit dem Fuß zwischen zwei Steine kam und ganz leicht strauchelte wie Bruno Ganz in Herzogs "Nosferatu", so wie man es für immer sehen kann in diesem so unendlich bedeutenden Film, den ich schon so lange Zeit liebte, Zeiten meines Lebens hindurch. Da ging es mir mit der Zeit vielleicht so, wie Du es beschreibst, wie dieses Gefühl einer unfaßbaren Kontinuität in deinem Leben dich ergreift, wie es aus so einem plötzlichen "Zufall" (ha), oder aus so einer Werkschau entsteht, oder aus dem Geschmack einer in Tee getunkten Madeleine, wie Zeit dann einfach nichts Lineares mehr ist, sondern nur noch in deinem Bewußtsein existiert, die wahre Zeit, die nur deiner eigenen Psyche, Seele, Intuition zugänglich ist.

Herausragend, wie Dennis Hopper seinem Ripley diese manische Böswilligkeit verleiht und diese verstört, *demented* und psychotisch wirkende Amoralität, zugleich berechnend und völlig unberechenbar, impulsiv und nicht ganz in der Fassung, und wie er zugleich Ripleys tiefe Einsamkeit sichtbar macht, Dylans "I pity the poor immigrant" singend, wie er diabolische Intensität ausstrahlt und wie er doch spürbar und glaubhaft macht, daß er sich, fast gegen seinen Willen, nach einem Freund sehnt. Die Kaschemme, in der sie sitzen, fehlt nur noch Fritz Honka am Nebentisch und Hopper sagt zu dem Mann, der ihn mit "Ah ja? I've heard of you" und verweigertem Handschlag so tief gekränkt hat, daß er ein perfides Täuschungsmanöver inszeniert: I would like to be your friend. Er weiß, es ist nicht mehr möglich, aber er meint es. In New York sagt er zu Nicholas Ray "I got a friend in Hamburg who told me" (das veränderte Blau), trotzig stolz darauf, einen so unglaubwürdigen Satz sagen zu können. Zum ersten Mal kann ich lesen, wie das Bild heißt, das Ripley von Zimmermann rahmen läßt. "Des Auswanderers Sehnsucht".








Wie Hopper Bewunderung, Zuneigung, Liebe und Sorge zu empfinden beginnt für diesen Mann, so sehr, daß er den zweiten Mord zu verhindern sucht. Wie er in Zimmermanns Werkstatt den genius loci spürt, unwiderstehlich angezogen von der Wärme, die vom Leben dieses Mannes ausgeht, seiner Liebe zu den Dingen, seiner Arbeit, seiner Familie, wie er in diesem Leben etwas sieht, das seinem fehlt. Zwei Momente vor allem: Hopper hat mitangesehen, wie Bruno Ganz diesen Bilderrahmen zerschlagen hat, ganz kurz ist tiefes Mitleid ist seinem Blick zu sehen. Dann der kurze Moment, wie er in seiner Verzweiflung, allein in seiner Säulenvilla, *liebevoll* dieses sich bewegende Bild anschaut, das Jonathan ihm geschenkt hat.

Der erste Mord in der Pariser Metro, 10 Minuten absolut atemberaubende Choreographie, Spannung fast unerträglich, als Lou Castel / Rudolphe schließlich aussteigt, ist Jonathan der einsamste Mann der Welt. Wie ihm immer wieder die Augen zufallen vor Anspannung, vor Eigentlichnichtmehrweiterkönnen. – Die Sequenzen im Zug, da muß Coppola gedacht haben: damn, some German Hitchcock. Bewegungsenergetisches Wunderwerk. Hoppers plötzliches Auftauchen und Eingreifen im Zug, als die Dinge final schiefzugehen drohen für Bruno Ganz – das, und was dann folgt, einfach phantastisch. Todsicher haben beide, nachdem sie sich einmal die Rübe poliert hatten, ein tiefes Gefühl dafür gehabt, wie *special* das ist, was sie hier entstehen lassen. Die Szene mit den Fahrkarten ("in der blauen Jacke"). Wie der Zug durch einen Tunnel fährt und irgendein schwaches Licht nur noch die Silhouetten der beiden nachzeichnet, das ist so großartig, so schön. Knieper, diese großartige ominöse Musik throughout, ätherisch, manchmal arvopärtisch (diese zwei Minuten (?) ganz am Anfang des Films!), und manchmal wie Bernard Herrmann für Hitchcock. Surreal auch: wie Samuel Fuller durch den Speisewagen geht, um seinen Mann zu suchen, Hopper sitzt da und hält eine Zeitung hoch und man kann lesen: "4:1! Hamburger SV im Fußballrausch". Man, those were different times. :)

Yeah, you know? Eigentlich sind WIR ja schon die Aliens, von denen Du sprichst. :) In Zeiten, da vermeldet wird: 85% der Filme auf Netflix stammen aus der letzten Dekade, ist ein Mann, der sich auf Wenders-Werkschau mit Verstrickung in die Verhältnisse begibt, a man out of time. Aber das war man ja eh schon immer, so what, mit der Geschichtslosigkeit der instagram-Generation wird das nur anders virulent. Den Boomern wird alles Mögliche vorgeworfen, aber den gigantischen Kulturverlust, den die Millennials zu verantworten haben, die (Kunst-)Geschichtsvergessenheit einerseits und die Bilderstürmerei im Namen einer neopuritanischen political correctness andererseits, werden Deine Alien-Anthropologen hoffentlich kopfschüttelnd nachvollziehen. Oder was immer die dann schütteln. :)

Aber natürlich sehen wir in "Der amerikanische Freund" bei allem, was an desem Film immer fasziniert und immer gegenwärtig ist dadurch, auch eine untergegangene Welt. Dennis Hopper tot, Bruno Ganz tot, Hamburg tot. Die ruschige Schönheit der 70er. Der SPEICHER AM FISCHMARKT, things I remember. Die Milchtüte auf dem Tisch, als Bruno Ganz nach Hause kommt, zurück von seinem Mord aus Paris. "Trink/Milch/frisch" = Freitagabende, an denen man aus der Badewanne kam und Stan & Ollie-Filme im TV sah, präsentiert von Theo Lingen. Bruno Ganz in der U3, Landungsbrücken, er steigt Baumwall aus. Baumwall like I remember it. Einer der Bieter hält das Taschenbuch "Sie" von Gabor von Vaszary hoch, ich erinnere die Coverzeichnung aus dem Bücherschrank meiner Eltern. Das Fischmarkt-Areal ist kaum wiederzuerkennen, das Haus, in dem Zimmermann lebt, steht allerdings noch. Auch das Haus, in dem er seine Rahmenwerkstatt hat. Weiß nicht, ob die Seitenstraße (Kleiner Pinnas), in die Hopper mit seinem weißen Ford Thunderbird einbiegt, als er Bruno Ganz dort zum ersten Mal aufsucht, so noch existiert. Gotta go there. Soon. And marvel.

Einer meiner liebsten Wenders-Momente überhaupt, kurz nachdem Dennis Hopper Bruno Ganz um den Hals gefallen ist, vor dem Krankenwagen, vermutlich am Drehbuch vorbei; wie er dann Lisa Kreuzer zu erklären versucht, wir müssen diese Geschichte zuendebringen, es gibt da zwei Leichen, Bruno Ganz am Rand der Zerrüttung goes "beepbeepmbeepbeep" ("Drive My Car", Beatles) und Hopper sagt zu ihr, sie müsse den zweiten Wagen fahren, "I think he's too exhausted to do it", und sie schaut in den Wagen: Bruno Ganz, sein Lächeln, sein sure, baby-Augenzwinkern, einfach completely out of it, aber wer weiß, vielleicht auch hölderlinhintersinnig, es ist Bruno Ganz, so großartig, so *hilarious*, diese Momente zum Hintenüberfallen funktionieren bei Wenders besser als z.B. der intendierte Slapstick in diesem japanischen Kapselhotel in "Bis ans Ende der Welt".

All diese sonderbaren bizarren bewegenden versponnenen Wenders-Momente. Der Mann, der im Cafe Abdallah seine Arzttasche öffnet und Jonathan ein Pflaster auf die Stirn klebt, zu Bauchtanzmusik aus dem TV. Die Szene, in der Bruno Ganz sich das Blattgold auf die Hand schweben läßt. Der Mann, der vor Jonathans Augen auf der Rolltreppe zusammenbricht, ohne weitere Erklärung. Samuel Fuller offenbar Pornofilmregisseur. :) Vor allem aber das fast beängstigende Charisma von Hopper & Ganz, die *chemistry* zwischen beiden.

Auch das Täuschende kann Wahrheit offenbaren. Beide, Ripley und Jonathan, haben Dinge getan, die vorher für sie undenkbar waren. "Well... we made it anyway, Jonathan. Be careful."

















29.07.2020



ray05:
Abschweifung: Vor einiger Zeit sah ich "Supermarkt" (1974) von Roland Klick; wie "Der amerikanische Freund" ein Film aus dieser Zeit, in dem Hamburg gleichfalls als gloomy city erscheint. Bei Klick ist diese Düsternis aber trist und desperat, weil Hamburg nicht als Tor zur Welt gezeigt wird, sondern als Außenposten des immernoch provinziellen Landes, das im Rücken dieser Stadt gewissermaßen ungut nach ihr ausgreift. Bei Wenders hingegen wird die Hamburger Düsternis als "marvellous" erfahrbar, weil die Stadt in Beziehung zu anderen Weltstädten gesetzt wird (New York, Paris), also ein Schauplatz ist, der mit welthaltigen (erzählenswerten) Geschichten in Verbindung steht. Klick trennt Hamburg ab von der Welt, Wenders öffnet das berühmte "Tor zur Welt" vier Jahre später wieder. - Wie auch immer, ich stelle mir vor: einen speziellen Reise- oder Kulturführer mit dem Titel "Hamburg, Gloomy City", in dem genau beschrieben und nachgezeichnet wird, wie die Stadt als dezidiert ausgewählter Schauplatz für den Film (ja, auch für den Roman) funktioniert und in welchen Kontexten und unter welchen Umständen und in welcher Zeit. All die Hamburgweltbilder müssten mal in einem riesigen Brikett von Buch beschrieben und zueinander in Beziehung gesetzt werden. - Meine Imagination eines Werkes (1500 Seiten?), das ich gerne noch studieren würde. :)



31.07.2020



Antirationalistischer Block / Christian Erdmann:
... hörte Bruno Ganz einmal im Hamburger Rathaus Hölderlin-Gedichte lesen, darum drängt sich mir diese Verbindung ohnehin auf, bin zwar nicht auf der Seite von Pierre Berteaux, der Hölderlins Wahnsinn als schauspielerische Schutzmaßnahme deutete, aber vielleicht war Hölderlin eben zugleich completely out of it und hatte doch irgendwas im Sinn. Jedenfalls ein Bruno Ganz-Moment, der in seiner Schönheit einfach aus dem Himmel seiner Ganz-heit fällt, Hopper und Ganz reichern den Film unentwegt mit ihrer unscripted reality an, auch ganz wunderbar in der Szene, als Hopper das Essen, das er Bruno Ganz in die Kälte bringen will, an den Gitterstäben direkt wieder runterfällt, die subtile und geniale Improvisationskunst bei beiden funktioniert, weil sie Wenders vertrauen und Wenders ihnen, und weil sie als Duo nach kurzer Phase völliger Asynchronität plötzlich vollgepumpt mit Zielwasser sind. :)

Brauche wieder 6 cm Platz im Regal, für die drei heute vom Postmann überbrachten DVDs, "Der amerikanische Freund", "Paris, Texas", "Bis ans Ende der Welt", so schön gestaltet, und ich habe Audiokommentare von Wim Wenders und Dennis Hopper (!) vor mir, ich gebe zu, meine Werkschau tritt etwas auf der Stelle. :) Muß noch im Bann dieser 3 Filme bleiben, for a little while. 4 Wochen Freiheit vor mir, "Supermarkt" treibe ich mir auf, von wegen "gritty" (und "gloomy"): kürzlich sah ich meinerseits "Blutiger Freitag" von Rolf Olsen mit Raimund Harmstorf, 1972, beinharter deutscher Sleaze, ein Muß. :) Trailer -> hier 

Überlege, kurz nach Bad Oldesloe zu pilgern, am Grab vom Harmstorf zu stehen und zu sagen: glaube, ich kann den ganzen "Seewolf" auswendig, thanks to you, Sir. :) Für 1500 Seiten "Hamburg, Gloomy City" wäre ich natürlich der richtige Mann. Von der Seitenzahl her. :) Wunderbare Idee. Besitze übrigens ein Büchlein namens "Hamburg bei Nacht", etwa so alt wie ich, hinübergerettet in mein Leben aus dem Schrank meiner Eltern, irgendein sleazy Privatverlag, und die gezeichneten Damen darin gehörten zu den ersten, die meine Phantasie erhitzten. :)



04.08.2020



Postscript zu "Der amerikanische Freund": Du hast ins Schwarze getroffen mit der Betonung der besonderen Weise, in der die drei Städte miteinander in Verbindung stehen. Im Audiokommentar sagt Hopper: Hamburg, Paris, New York, "it all looked like one place", das habe ihn fasziniert, und Wenders bestätigt genau das als seine Intention, die drei Städte sollten wie ein einziger Seelenzustand, ein einziger state of mind wirken. – Hopper: "I was a mess." Als er in Hamburg ankam, trug er noch seinen Apocalypse Now-Kampfanzug, die Kameras um den Hals baumelnd wie im Coppola-Film, und sie fuhren mit ihm direkt ins Tropenkrankenhaus. "Eines Morgens bin ich aufgewacht mit einem Lampenschirm über dem Kopf." Er war hypernervös in seiner allerersten Szene in Jonathans Laden, und Wenders gab ihm dieses Bild, und das veränderte die Szene.












Immer wieder: "Things were written as we were doing them." Hopper: das Geheimnis der Kreativität = learning to make the accident work for you. Vieles war Improvisation, aber es fühlte sich an wie ein Script. Bruno Ganz war in allem, was er tat, sehr genau. Meticulous & "so precise in everything". Er hatte sich wochenlang bei einem echten Rahmenmacher vorbereitet. Hopper erfand die Dinge vor Ort, did things on the spot. Bin Dir unendlich dankbar für die Annoncierung der Wenders-Werkschau, fühlt sich an für mich wie der fehlende Schlußstein für die 111 :), absolut herzbewegend gerade nachzuvollziehen, welche Bewunderung Bruno Ganz und Dennis Hopper füreinander empfanden. Wenders sagt irgendwann zu Hopper: er wollte unbedingt mit dir arbeiten. "Bruno is so much in awe of you." Hopper: "In the same way I was in awe of him." Hopper war am Set, um zuzusehen, wie Bruno Ganz den Laden fegt, zu "Too Much On My Mind". – "I will never forget the way he swept the room", und überhaupt: "Unglaublich, was für ein Schauspieler." Die Szene mit dem Blattgold stand nicht im Drehbuch, ist durch den Ort, durch die Requisiten inspiriert, Brunos Idee. Hopper, als er die Polaroids von sich macht auf dem Billardtisch, weint tatsächlich. 

Zunächst waren beide, weil sie so unterschiedlich vorgingen, voneinander irritiert, und zu dem legendären Faustkampf sagt Wenders: I had to stop shooting. Weil die beiden plötzlich auf dem Boden rumkrabbelten und sich schlugen. Er kann sich nur erinnern, daß sie irgendwie zusammen abgehauen sind. Und am nächsten Morgen kamen sie zurück – "and it was just paradise to work with both of them." Hopper: nach dem Boxscharmützel haben sie sich zusammen betrunken & "we passed out together arm in arm." Danach wollte Ganz nie mehr, wie es bis dahin seine Gewohnheit war, mit Wenders am Abend die Szenen des kommenden Drehtags besprechen, er sagte, das machen wir dann, wenn wir drehen. Dafür kam Hopper jetzt jeden Abend zu Wenders und wollte seinen Text haben und die Szene besprechen. :) 

Der Laden, in dem Jonathan seine Werkstatt hat, gehörte damals einem Hutmacher, er taucht im Film auf, es ist der Mann, der im Zugabteil sitzt mit dem kleinen Hund. Der Bruno Ganz tatsächlich gebissen hat. :)

Patricia Highsmith war zunächst nicht begeistert von Dennis Hopper als Ripley, aber sie hat Wenders später einen Brief geschrieben: I must say my first impression was all wrong. Ich habe Ihnen Unrecht getan, Dennis caught the soul of Ripley. - Hopper hat den Krankenwagen so geliebt, daß er ihn am Ende der Dreharbeiten gekauft hat. (In die Luft gejagt haben sie – in St. Peter Ording :) – eine billige Reproduktion des Wagens). 10 Jahre später hat Wenders Hopper besucht, und er fuhr den Wagen immer noch mit dem Hamburger Nummernschild. :) – Bruno Ganz steuert den VW-Käfer tatsächlich selbst den Deich hoch (in der ersten Szene), "es war beängstigend, aber er war der Meinung, er könnte es."

Am Ende erklärt Hopper, wie sehr er an "Der amerikanische Freund" hing. Gehörte zu den Dingen, die er am liebsten gemacht hat im Leben, & "certainly one of the best films that I've ever been in." Er bewundert die "artistic integrity" von Wenders, und er nennt "Der Himmel über Berlin" "one of the greatest movies ever made in the history of motion pictures". Gemacht, und das ist so wahr, zu der einzig möglichen Zeit, in der man ihn machen konnte.



05.08.2020









ray05:
Die winzige Blattgoldszene lässt mich in all den Tagen (Wochen?) auch nicht mehr wirklich los. Ja, sowas schreibt dir kein Drehbuchautor mal eben rein ins Skript, nichtmal einer wie zum Beispiel Sam Shepard; wie auch. Und wenn doch, dann würde wesentlich mehr Aufwand betrieben beim Mise en scène. :) - Dieses Finden-ohne-groß-zu-suchen, dieses heilig-zufällige Zustandebringen gelingt ja besonders den vifen Kindern und den sehr guten Schauspielern, wenn ihnen Zeit & Muße gelassen wird, einfach mal in einem "magisch-realistischen Raum", wie es eine Werkstatt im schroffen Gegensatz zu einer Werkhalle ist, die vorgefundenen Dinge "Ding" sein zu lassen. Kurz: Dinge muss man in bestmöglicher Selbstvergessenheit in die Hand nehmen. :) - Die Werkstattszenen hast Du ja dankenswerterweise weiter oben schon gewürdigt. Die Filmpublizistik würde generell einen Schritt weiter kommen, wenn Titel möglich wären wie: "Die Repräsentation des Handwerks bei Wim Wenders und Werner Herzog", ich sage das ganz unironisch, handdrauf. :) - Die Blattgoldszene erinnert mich auch an etwas, das Miles Davis mal sagte über seine Musik. Sinngemäß: Die wirklich unsterblichen Sachen kommen nur zustande, wenn du den Leuten in der Band die Möglichkeit lässt, ihre ganz persönlichen tiny litte things einzubauen; später fragst du die Typen, hey, das ist phantastisch, wie bist du drauf gekommen, und sie antworten dann immer: es war einfach da in der Situation und ich musste es nur noch spielen.

Dennis caught the soul of Ripley: Gibt ja Leute, die behaupten, der Auteur sei der letzte, der irgendwas wüsste über die Figuren, die er erfindet. Bis dann Dennis Hopper eine dieser Figuren spielt. :) Spaß beiseite, Highsmith dürfte im Weiterverfolg ihrer Ripleyfigur durchaus klar geworden sein, dass der Amoralist (Immoralist) als performanter Daseinsbewältiger durchaus kein Un-Mensch ist, bloß weil er das Über-Ich leugnet und jede Goldene Regel für Kokolores erklärt. :) - Entdeckte, dass auch John Malkovich den Ripley von "Der amerikanische Freund" spielte, und zwar in Liliana Cavanis "Il gioco di Ripley" (2002). Liliana Cavani! Dem Streifen muss ich wohl unbedingt habhaft werden. Trotzdem gefragt: Kennst Du den, und wenn ja: taugt der was? :)



08.08.2020



Antirationalistischer Block / Christian Erdmann: 
"Il gioco di Ripley" / Cavani: nein, den kenne ich nicht, B kennt ihn, und sie liebt John Malkovich, daher steht sie dem Film prinzipiell wohlwollend gegenüber. :) – Wenders selbst sagt ja, für ihn ist es schwer, einen "Bösen" im Film zu zeigen, weil er mit Menschen arbeitet, für die er Sympathie empfindet. Nun ist Hoppers Ripley ja tatsächlich nicht eigentlich durch und durch "böse", Du hast gerade perfekt paraphrasiert, was Hoppers Unberechenbarkeit aus der Ripley-Figur macht. In der Szene mit Lisa Kreuzer am Ende, als er ihr erklärt, was sie zuendebringenmüssen, "he was very tender".














Wenders erklärt rundheraus, Hopper hat ihm gezeigt, wer Ripley ist. Das liebe ich übrigens auch an Wenders: er liebt es, zu rühmen. Er hat den ständigen Wunsch, auf die Größe anderer zu weisen. Was natürlich selbst Zeichen von Größe ist. – Alle Gangster im Film sind Regisseure. :)












Tom Ripley, der Cowboy in Hamburg, lebt in dieser Säulenvilla:








 Elbchaussee 186, August 2020


(clic to enlarge)











Bruno Ganz und Dennis Hopper auf dem Areal der Säulenvilla, die um 1820 nach dem Vorbild eines Schlößchens auf der Krim errichtet wurde. Ripley erklärt Jonathan, er solle die Lage von dieser... "strange construction, this underground space around the house" (Wenders im Audiokommentar) aus beobachten, "I'm on the roof with the gun!" Bei Nacht schleichen sie durch den Garten, um den Krankenwagen zu kapern, der auf der anderen Seite der Elbchaussee steht, mit Sam Fuller am Steuer.























Das Haus, in dem Jonathan Zimmermann seinen Laden für Bilderrahmen und Gemälde-Restaurierungen betreibt, Ripley auf der Treppe:








Das Haus heute: Lange Straße 22.








Die kleine Straße, in die Dennis Hopper als Ripley mit seinem weißen Ford Thunderbird einbiegt, gibt es nicht mehr.








Der dunkelgraue Altbau, der hier auf der linken Straßenseite im Vordergrund zu sehen ist, wurde abgerissen.








Im Film erkennbar ist das Straßenschild "Kleiner Pinnas"; die Straße führte zum Pinnasberg und in Richtung Elbe. Geblieben ist nur eine Tiefgarageneinfahrt und ein Durchgang zu einem größeren Hof-Areal.








Man kann aber noch genau dort stehen, wo Dennis Hopper steht auf dem Weg zu Bruno Ganz.

















Die beiden Häuser am St. Pauli Fischmarkt, die zur Drehzeit dem Abriß geweiht schienen, Jonathan auf dem Balkon seiner Wohnung.













 















Dienstag, 7. Juli 2020

Carl Theodor Dreyer: Vampyr (1932)












1930 in Senlis bei Paris, Carl Theodor Dreyer dreht "Vampyr". Das Haus, in dem der böse Dorfarzt von Courtempierre sein Unwesen treiben soll, ist vorbereitet, doch etwas fehlt: Spinnweben. Dreyer will echte Spinnweben. Eliane Tayar, Dreyers Ausstatterin, spricht mit allen Pariser Spinnenspezialisten, aber keiner weiß, wie man eine Spinne dazu bringt, auf Kommando ein Netz zu weben. Eliane trommelt Kinder aus der Nachbarschaft zusammen und bittet sie, Spinnen und Fliegen zu fangen. Die Kinder kommen zurück mit Gläsern voller krabbelnder Kreaturen. Die Gläser werden in dem Raum ausgekippt, die Versorgung der Spinnen wird sichergestellt, die Tür verschlossen. Als die Dreharbeiten beginnen sollen und die Tür wieder geöffnet wird, hängen Spinnennetze überall, wo Spinnennetze hängen können, Kameramann und Schauspieler wissen kaum noch, wie sie sich bewegen sollen, wagen kaum zu atmen.

Alfred Hitchcock bedachte "Vampyr" mit dem Satz: "The only film worth seeing... twice." Luis Bunuel bezeichnete "Vampyr" als einen seiner Lieblingsfilme. Das Bekenntnis von David Lynch ist eine Frage der Zeit. Die Zeitung "Berlingske Tidende" berichtet im Oktober 1935 von dem Fall eines in heftiger Verwirrung aufgegriffenen jungen Mannes, auf den "Vampyr" so starken Eindruck gemacht hatte, daß er hernach kein einziges Wort mehr sprach. Dreyers Anspruch war es, einen Film zu machen, der wie kein anderer sein sollte. Es ist ihm geglückt. "Vampyr" ist ein unfaßbar schauriges Etwas. Ein böser Spuk von einem Film. Unheimlich, gespenstisch, faszinierend. Und wunderschön.

Der Film wurde wie ein Stummfilm gedreht, die Darsteller sprachen ihre wenigen Sätze später als Overdub in drei verschiedenen Fassungen nach, in deutscher, französischer und englischer Sprache. Die Originalnegative sind verloren, ausgehend von unterschiedlich vollständigen Kopien der deutschen und der französischen Fassung konnte jedoch 1998 eine Restaurierung des Films unternommen werden. Über Jahrzehnte war der Film nur in schwer beschädigten, unvollständigen Fassungen zu sehen, manchmal in verhackstückter Chronologie, häufig auch als Bastard-Montage, in der ohnehin kaum verständliche Wortfetzen in verschiedenen Sprachen zu hören waren. Auf seltsame Weise trugen diese neuerlichen Anschläge auf die narrative Logik sogar zum Faszinosum bei.  Das Unzusammenhängende, Inkohärente der Bilder und der Worte glich nun in noch stärkerem Maße fremdartigen Traumfetzen, als es ohnehin schon intendiert war. Für David Pirie etwa hatte das Geschehen in "Vampyr" die Form

"eines hermetischen Rituals, von dem sich der Held ständig rigoros ausgeschlossen sieht (...) Nichts, was er tut oder sagt, scheint irgend eine Wirkung auf (die anderen Personen) zu haben (...) allein die Tatsache, daß der Held anscheinend keine definierbare, reale Beziehung zum tatsächlichen Geschehen hat, steigert den Eindruck völliger Orientierungslosigkeit." (Pirie 47).

Gegenüber dem "Eindruck völliger Orientierungslosigkeit" eröffnet die restaurierte Fassung, mit ihren der Kontinuität dienlichen Vervollständigungen, ein besseres Verständnis für den inneren Zusammenhang der Ereignisse in der allesdurchdringenden alptraumhaften Atmosphäre von "Vampyr", nach wie vor jedoch erlebt man das Unheimliche in klassischer Form nach Ernst Jentsch: intellektuelle Unsicherheit. Nach wie vor gilt dieser 1932 uraufgeführte Film den einen als sensationelles Meisterstück des Horrorfilms, den anderen als wirres Machwerk, als - so ein imdb-Kommentar - "dull mess". Die verwirrenden Blickwinkel, die schleichenden Bewegungen der Kamera, die immer noch Schaurigeres zu erwarten und vorauszuahnen scheinen, es aber nicht übertragen, erzeugen das Gefühl, "es stehe jemand - oder etwas - hinter einem und würde einen regungslos beobachten." (Everson 172). Das hält man entweder keine 10 Minuten aus, oder man ist so gebannt, daß man sich 70 Minuten nicht mehr bewegt.

Was Dreyer an Kameraführung / Cinematographie vorlegt, ist derart einzigartig, daß es entweder den Eindruck von Sehstörung hervorruft, oder aber einen willigen, zur Extrakonzentration bereiten Zuschauer hineinzieht in komplette Hingabe an diese Welt, in ein überwältigendes Gefühl von Faszination an der phantastischen, eindringlichen Bildsprache eines Films, der selbst von ruhelosen Mächten heimgesucht scheint, und in lustvolles Sichausliefern an die bedrohliche Stimmung, die er transportiert, an die "Heraufbeschwörung einer Atmosphäre miasmatischen Schreckens" (Pirie 47). Das Grauen als visuelles Poem: "Vampyr" vermag die Aufmerksamkeit zu stimulieren wie nur wenige andere Filme. Du mußt nicht Caligari werden, aber Du bist auch Allan Gray: veränderte Psyche bedeutet veränderte Wahrnehmung, und Wirklichkeit ist das, was wirkt. Den Effekt, den er mit "Vampyr" zu erzielen versuchte, beschrieb Dreyer einmal so:

"Man stelle sich vor, daß wir in einem gewöhnlichen Zimmer sitzen. Plötzlich wird uns mitgeteilt, daß sich hinter der Tür ein Leichnam befindet. Von einem Augenblick zum anderen ist der Raum, in dem wir sitzen, völlig verändert: alles hat ein anderes Aussehen angenommen; das Licht, die Atmosphäre haben gewechselt, wenn sie auch physisch die gleichen geblieben sind. Der Grund ist der, daß wir uns verändert haben und daß die Dinge so sind, wie wir sie erfassen." (Seeßlen / Weil 73 ff.)

Allan Gray ist ein blasser, modern gekleideter junger Mann, der, so der erste Schrift-Titel, "sich in die Studien des Teufelskultus und Vampyr-Aberglaubens versenkte. Die Beschäftigung mit den Wahnideen vergangener Jahrhunderte machte ihn zu einem Träumer und Phantasten, dem die Grenze zwischen Wirklichkeit und Übernatürlichem verlorenging..." - Jede Grenze erzeugt das Jenseits der Grenze, wo das Andere und Fremde wartet; darum ist Horror, die Melange aus Schrecken und Faszination, der Grenzzwischenfall schlechthin.

Erstes Bild: ein Gasthausschild in Form eines Engels. Gray, Angelzeug über der Schulter, gelangt zum einsam am Fluß gelegenen Gasthof in der Nähe des Dörfchens Courtempierre. Schon das "Wer ist da? Gehen Sie dort herum!" des Mädchens, das vom Fenster aus den Weg weist, klingt wie ein Ruf in einem Traum, seltsam losgelöst von aller sichtbaren Präsenz. Gray sieht einen Mann, der wie der Schnitter eine Sense trägt und am Fluß eine Glocke läutet, 12mal.
 
 
 

 

Vielleicht nur ein Arbeitsmann auf seinem Weg, aber es wirkt wie ein mysteriöses Zeremoniell. Ein Fährmann erscheint. Die männliche Gestalt betritt die Fähre, als Gray sein Zimmer betritt. Beide setzen über an ein anderes Ufer. Gray blickt aus dem Fenster, der Blick des Sichelmannes gilt ihm, ominös. Diese ersten Shots etablieren bereits auf außergewöhnliche Weise das Gefühl des Kontakts mit einer anderen Welt. Was beginnt hier? Der surreale Impressionismus eines von einem mythischen Bösen faszinierten Mannes mit unsicherem Zugriff auf die Wirklichkeit? Subjektive Phantasmagorie eines Menschen von besonderer Sensibilität? Bebilderung von Seelenlandschaft mit ihren unbewußten Ängsten und Sehnsüchten? Der Blick eines aus allen Zusammenhängen Gerissenen in eine verborgene Welt? "Chasing after passing visions" (Propaganda: The Chase) - ? Man könnte aus der Art, wie sich bei Dreyer Bilder aneinanderreihen, die man aus Träumen kennt, eine Art Naturalismus des Irrealen herleiten. Oder aber zugestehen, daß Dreyer hinter die Oberfläche des Realismus dringt. Die Welt ist alles, was für Allan Gray der Fall ist, und dieser Fall ist nicht die Welt, wie wir sie kennen.

Dreyer zeige nicht den Mythos selbst, so Seeßlen / Weil, sondern die Wirkung des Mythos: das Phantastische als Faktor, der die physische Realität bereits verändert hat. Es gehe nicht um den Einbruch des Phantastischen in eine unverletzte Realität, sondern um die potentielle Omnipräsenz des Phantastischen, die sich herleitet aus der potentiellen Omnipotenz der Wahrnehmung. Sozusagen: physische Realität und subjektive Wahrnehmung nicht als zwei aufeinander abzustimmende Bereiche, sondern als die Elemente einer dauernden Vermischung, in der jede materiale Ontologie von vornherein obsolet ist, weil sie ständig von "Realität" als Effekt psychischer Verdichtungen kontaminiert ist, alles Gesehene zum Zeichen wird. Nichts ist wahr, alles ist wahr.

Der für das Okkulte empfängliche junge Mann im Zweireiher mit Krawatte, der erstaunliche Ähnlichkeit mit H. P. Lovecraft aufweist, versinkt in eigenartigen, unheilvollen, doch auch betörenden Wahrnehmungen; unmöglich zu sagen, was Realität ist, was Traum, was Phantasie.

Während er eine Kerze hochhält, um ein seltsames Bild zu betrachten, ist eine Stimme zu hören, die zunächst schaurig Undefinierbares von sich gibt, als würde Nichtmenschliches sich an menschlicher Sprache versuchen; schließlich ist vernehmbar: "... du sollst leben... le-ben...". Gray folgt der Stimme; auf dem Korridor kommt ihm ein blinder Alter mit entstelltem Gesicht entgegen. Gray flieht zurück in sein Zimmer, verschließt die Tür, auf der Tonspur sind noch die Fetzen "Adern" und "das Blut" zu hören. Wie diese leichenhafte, alptraumhafte Gestalt im Haus herumschleicht, wie ihre Erscheinung und ihr Tun sich rationaler Erklärung verschließen: schon mit dieser Szene läßt Dreyer "ein fast religiöses Gefühl von der Nähe des Bösen aufkommen" (Pirie 46). Ein Film in der Tradition von Maupassants "Horla": jede Wahrnehmung steigert nur die unfaßbare Bedrohung. "Lichter und Schatten, Stimmen und Gesichter", so der Zwischentitel, "schienen eine verborgene Bedeutung zu erhalten. Allan Gray spürte, wie das Unheimliche Macht über ihn gewann (...), und die Furcht vor ungreifbaren Dingen folgte ihm in seinen unruhigen Schlaf..."

Es klopft an seine Tür, Gray erwacht - sofern nicht genau hier sein Traum / seine Phantasie beginnt. Der Schlüssel dreht sich im Schloß. Entsetzlich langsam öffnet sich die Tür, schließlich betritt ein alter Mann das Zimmer. Warum eigentlich? Ist nicht auch eine verschlossene Zimmertür eine Grenze, die nicht so ohne weiteres übertreten werden dürfte? Horror kennt keine verschlossene Tür. 
 
 
 
 

 
Der Mann kommt langsam an Grays Bett, blickt ihn eindringlich und ernst, jedoch auch seltsam unverwandt an. "Wer sind Sie?" – Der Mann reagiert nicht auf Gray. Er geht zum Fenster, läßt Licht in das Zimmer. Lauscht dann. "Still!" – Er deutet nach oben, wie einer, der etwas vernimmt, seine nächste Geste wirkt wie Verwirrung über das, was er vernommen hat. Wir aber haben nichts vernommen. Der Mann tritt wieder an Grays Bett: "Sie darf nicht sterben! Hören Sie!" Grays Augen sind weit aufgerissen. In seiner abgrundtiefen Bestürzung, von etwas Unbeschreiblichem heimgesucht, erscheint der Alte wie ein spukhafter Bote aus dem Labyrinth, in dem es Verbindungen zwischen den Lebenden und den Toten gibt, die jeden Atemzug bedrücken: Furcht in jeder Seele, jedem Winkel, doch keine Worte dafür.

Der Alte legt ein Päckchen auf Grays Tisch und schreibt darauf: "Zu öffnen nach meinem Tode", als wäre es die Mitteilung für einen Abwesenden, und als wäre dieser Tod unausweichlich. Dann verläßt er das Zimmer. Eindringen und Präsenz des Fremden in Grays Zimmer in ihrer fast unerträglich in die Länge gedehnten Unerklärtheit: komplett enervierend.

"Eines", so der nächste Zwischentitel, "fühlte Allan Gray: Eine Menschenseele in Todesnot sandte einen Ruf um Hilfe aus. Und eine innere Stimme gebot ihm, dem Ruf zu folgen." So wandelt Gray hinaus in die Mondlichtnacht. Er sieht die Bewegung einer Gestalt, die sich auf einer Wasseroberfläche spiegelt, aber am Ufer ist niemand zu sehen. Da ist der Schatten eines Mannes, der Erde schaufelt, doch die Schattenerde fliegt nicht von der Schaufel, sondern zu ihr hin. Gray betritt ein altes Gebäude. 
 
 
 

 


Da ist der Schatten eines Soldaten mit Holzbein, der durch sein Eigenleben als Schatten humpelt und eine Leiter erklimmt, um seine Gebieterin zu warnen. Diese nähert sich stumm durch einen Korridor, Gray eilt davon. Sieht, wie der Holzbeinschatten seinen Gewehrschatten abstellt und zu seinem sitzenden Eigentümer zurückkehrt. Der wird von der Alten gerufen: "Gehorche!" Der Vampir in "Vampyr" ist eine alte Frau, die "Boshaftigkeit und Macht ausstrahlt, zugleich aber auch so etwas wie Mitleid aufkommen läßt" (Everson 71). Sie ist es, die das Dorf in Bann und Bedrückung hält.

In dem Gebäude von undefinierbarer Architektur entdeckt Gray weitere Schatten, die marionettengleich zum Bal Musette ihren makabren Schattensabbat tanzen. In der Höhe drehen sich langsam die Schatten riesiger Wagenräder. Die weißhaarige Alte erscheint und befiehlt der Schattenwelt mit einer majestätischen Geste Ruhe. Dieser Ausruf, "Ruhe!!!", erscheint in allen drei Sprachversionen des Films, offensichtlich war er integraler Bestandteil der (wunderbaren) Filmmusik von Wolfgang Zeller.
 
 
 

 
 
Gray steigt irgendwo empor, öffnet eine Luke. Hundegebell ist zu hören. Die Kamera schwenkt von Gray weg, man sieht einen Sarg, übersät mit Hobelspänen, und ein Schild: "Docteur Medecin". Die Kamera vollführt, wie sie es zu tun pflegt, wenn sie die Perspektive des Protagonisten einnimmt, eine Bewegung durch den Raum, schwenkt aber dann rasch zurück und "erblickt" am Ende der Bewegung den bereits wieder enteilenden Protagonisten. Dadurch entsteht im Zuschauer "das unheimliche Gefühl (...), gleichzeitig in zwei Wesen zu existieren." (Everson 74).

Gray betritt zwei weitere Räume, in denen erneut das Hundegebell und die Laute anderer undefinierbarer Wesen zu hören sind, sie sind angefüllt mit alten Büchern, Schädeln, Petrischalen, staubigen Flaschen, chirurgischen Instrumenten, dem seltsam aufgerichteten Skelett eines Kindes und anderen Sonderbarkeiten einer Nekromanten-Klause. Schließlich kommt Gray zu einer Treppe und sieht - eine Kameraeinstellung, die Hitchcock beeindruckt haben dürfte - weiter oben eine Hand, die sich am Treppengeländer bewegt, von jemandem, der langsam herabsteigt; 15 Sekunden lang ist nur die Hand zu sehen. Es ist der Dorfarzt, der hier haust, schurkischer Diener der Vampirin. Er scheint zu lauschen, während er herabsteigt; man vermutet natürlich, er steigt herab, weil er Gray gehört hat. Vollkommen unerwartet und rätselhaft aber geht er, immer noch lauschend, an Gray vorbei, als wäre dieser gar nicht da. 
 
 
 

 

Erst als Gray ihm folgt, wendet sich der Doktor ihm zu: "Haben Sie gehört?" - "Ja! Das Kind", antwortet Gray. "Es ist kein Kind hier", äußert der Doktor sibyllinisch und weist Gray die Tür. "Aber... die Hunde!", sagt Gray. Auch keine Hunde hier. 

Eine andere Tür öffnet sich. Der Arzt empfängt die Vampirin, zieht den Hut vor ihr, geleitet sie hinein. Die leeren Augenhöhlen eines Totenschädels beginnen zu leuchten. Ein anderer Totenschädel dreht sich, wie um das Entree des Bösen besser sehen zu können. Die Alte überreicht dem zweifelhaften Arzt ein Fläschchen - Gift.






 

 
 
 
Sich entfernende, Zeichen gebende, kindhaft wirkende Schatten/Schemen weisen Gray den Weg durch einen Wald, er gelangt zu einem Château. Zu seinem Erstaunen sieht er dort durch das Fenster den alten Mann wieder, der ihm im Gasthauszimmer erschienen war; es ist der Schloßherr. Weltabgeschieden, nur mit einer kleinen Dienerschaft, lebt er hier mit seinen beiden jungen Töchtern, Léone und Gisèle.
 
Léone siecht dahin, wird jeden Tag schwächer, als würde ihr etwas die Lebenskraft aussaugen; von seltsamen Wunden ist die Rede. "Das Blut! Das Blut!" deliriert sie. Eine Krankenschwester wacht bei ihr. Der Doktor wird erwartet.

In dem Moment also, da Gray das Château erreicht, wird der Schloßherr vom Gewehrschuß eines Schattens getroffen, "as though their souls were bound together in some mysterious way" (Milne 1971). Gray begehrt Einlaß, klopft, ruft, man solle sich beeilen. Extrem langsam jedoch, denn alle in diesem hypnotischen Film wirken wie hypnotisiert, bewegt sich der alte Diener auf die Tür zu, als wolle er bestätigen, wie sehr doch Traumgeschwindigkeiten dem Willen und dem Sehnen des Träumers zu widersprechen scheinen.

Sterbend legt der Schloßherr seiner jüngeren Tochter, Gisèle, etwas in die Hand, ein Schmuckstück in Form eines Herzens. Gray und zwei Diener tragen ihn in die Bibliothek. "Bitte, wollen Sie nicht bei uns bleiben?". Gray willigt ein. Die schöne, blasse, keusche Gisèle betrachtet ihn mit verstörend intensivem Blick, alle Fragen in sich verschlossen. 
 
 
 

 
 
Ein anderer Diener fährt mit der Kutsche davon; Gisèle: "Wo fährt er hin?" - Gray berührt ihren Arm: "Zur Polizei." Gisèle erschrickt, fast mehr vor der Berührung als vor der "Polizei". Gray öffnet das Päckchen, das der Schloßherr ihm überbracht hatte, und findet ein Buch. "Die seltsame Geschichte der Vampyre". Er liest von den "Verstorbenen, die wegen ihrer im Leben begangenen Untaten keinen Frieden im Sarge finden", die in hellen Vollmondnächten ihren Gräbern entsteigen, um jungen Menschen das Blut auszusaugen und dadurch ihr eigenes Schattendasein zu verlängern. "Der Fürst der Finsternis ist ihr Verbündeter und verleiht ihnen übernatürliche Macht im Reich der Lebenden und Toten."
Mit nur zwei Kamerabewegungen wird dann nicht nur unser point of view erneut unterminiert, sondern auch das Vertrauen darauf, daß irgendeine Wahrnehmung irgendeine Gewißheit verschafft: die Krankenschwester richtet die Bettdecke der schlafenden Léone, die Kamera schwenkt an der Wand entlang nach rechts, bis zu einer Tür. Die Krankenschwester, die hinter der Kamera um das Bett herumgegangen ist, taucht wieder auf, um diesen Nebenraum zu betreten, wo sie mit einer Wasserschüssel hantiert; die Kamera schwenkt zurück nach links: das Bett, in dem eben noch Léone lag, ist leer. Man ist fast zu schockiert, um zu begreifen, wie brillant diese Szene ist.
Eine Art Schluchzen ist zu hören. Oder ein Heulen? Oder ein übernatürliches Bellen? Wie etwas, das auf einer ganz anderen Wirklichkeitsfrequenz stattfindet. Die Tonspur ist voller Geräusche, die sich den Bildern nicht zuordnen lassen.

Gray liest weiter, von den Geschöpfen des Abgrundes, die bei Nacht die Wohnstätten der Lebenden heimsuchen: "Wer einem Vampyr verfällt, siecht rettungslos dahin." Ein Mal am Hals ist das Zeichen der Verdammnis, gegen das ärztliche Wissenschaft machtlos ist.

Gisèle erblickt Léone im Park, wo sie somnambul durchs Nachtlicht schreitet; Gisèle und Gray laufen ihr nach, rufen sie, wieder scheinen die unwirklichen, entrückten Stimmen nicht zu den Gesten und Bewegungen zu passen. Sie finden Léone auf eine Steinbank hingestreckt, die alte Vampirin über sie gebeugt; eine Pose, die an Füsslis "Der Nachtmahr" erinnert.


Die Alte erblickt sie, läßt ab, bewegt sich starr seitwärts, für ihre Verhältnisse rasch, aber immer noch maliziös langsam, bis sie entschwunden ist. Der alte Diener ist hinzugeeilt, auch die Krankenschwester, sie tragen Léone zurück in das Schloß; Gray ist dabei nur Beobachter, als wäre es ihm physisch unmöglich, einzugreifen. Er kehrt zu dem Buch zurück, liest weiter: wie eine Seuche übertrage sich "das Gelüst des Vampyrs auf sein Opfer, das zwischen blutgierigem Verlangen und verzweifeltem Abscheu vor diesem Wunsch hin- und hergerissen wird. Ein schuldloser junger Mensch wird selbst Vampyr und sucht sich seine Beute unter seinen nächsten Angehörigen." 
 
 
 

 
 
Die Krankenschwester entdeckt eine Wunde an Léones Hals, desinfiziert sie, und die zwischen Leben und Verdammnis schwebende Léone kommt zu sich. Ihr steigen Tränen in die Augen, sie beginnt hoffnungslos zu schluchzen: "Ach, könnte ich doch sterben... ich weiß, ich bin verloren... ich bin verdammt." Es ist eine Nahaufnahme von Sybille Schmitz, die dann für jene Szene, deren Grauen in nahezu allen Artikeln über Dreyers Film besonders betont wird, ihren Kopf wendet und mit entblößten Zähnen, bösartigen Augen, dämonischem Verlangen und plötzlicher, bestürzender, obszöner Blutlust ihre Schwester betrachtet.

"As we watch this take place, a peculiar, eerie feeling wells up within us. What effect will touching the vampire’s wound have on her? We have to wait a moment, as if giving time for the evil inside to have been agitated, and then slowly she smiles a diabolically evil smile. There are few moments in the history of the cinema more horrific." (Soren 52)

Gisèle, entsetzt, bewegt sich langsam zur Tür, wo die Krankenschwester steht; als Léones Blick, der Gisèle folgt, auf die Krankenschwester fällt, legt Sybille Schmitz in ihr Antlitz einen Haß auf den Todfeind, der kaum weniger schauderhaft ist.
Gisèle kehrt zu Gray zurück und haucht: "Ich glaube, sie stirbt..." Sie läuft zum Fenster: "Hat nicht jemand geschrien?" Gray geleitet sie behutsam zurück. Schnitt. Der alte Diener klopft an das Fenster, die Kutsche kommt zurück. Der Diener, der auf dem Kutschbock sitzt, ist tot, Blut tropft auf die Erde.

Gisèle schlafend auf dem Schloßgestühl. Man sieht, wie der alte Diener das Pferd wegführt. Wie Gray zu seinem Buch zurückkehrt. Wie die Kutsche schnell anfährt, weggezogen wird - offensichtlich nicht von einem Pferd. Gray liest weiter: "Ein Bericht aus Ungarn gibt davon Kunde, dass der Arzt des Dorfes, der seine Seele dem Bösen verschrieben hatte, eines Vampyrs Gehilfe und dessen Mitschuldiger an einer Reihe grauenvoller Verbrechen in dieser Gegend wurde." Wieder ist der Buchtext Menetekel. Es läutet, Gray hört, wie der Diener den Doktor empfängt, folgt dem Doktor hinauf ins Krankenzimmer. Der Doktor simuliert Untersuchung, Gray fragt, ob Léone nicht gerettet werden könne. Vielleicht, antwortet der Doktor, aber sie brauche Blut. "Es muß... Menschenblut sein." Gray willigt ein, sein Blut herzugeben. "Kommen Sie, junger Mann. Ich werde... sie... zur Ader... lassen." Befremdlicher, unheimlicher können Worte nicht gesprochen werden als in diesem Film. Gisèle ist erwacht: "Warum kommt der Arzt immer bei Nacht?"

Der alte Diener beginnt nun selbst, in dem Buch zu lesen: "Sobald der Vampyr das Opfer ganz in seiner Macht fühlt, versucht er, es zum Begehen des Selbstmordes zu treiben und dadurch dem Bösen seine Seele zu überantworten." Gray, nach dem Aderlaß geschwächt, sinkt auf einem Stuhl in sich zusammen, der Doktor schickt die Krankenschwester barsch fort. Der Diener liest über die seltsame Weise, den Vampyr zu vernichten, davon, wie man einen Toten morden muß. Gray - ist er wach, träumt er? - betrachtet seinen Arm, ruft: "Herr Doktor! Ich verliere ja mein Blut!" - "Ha! Unsinn! Ihr Blut ist doch hier!"

"Bei Tagesgrauen öffnete man das Grab", liest der alte Diener, "in dem man die Alte liegen fand, so, als ob sie schliefe. Einige Männer trieben ihr einen eisernen Pfahl durch das Herz und nagelten so die entsetzliche Seele des Weibes an die Erde fest." Gray scheint in einer Art von Schlummer, eine Stimme ist zu hören: "Komm mit mir... folge mir... wir werden eine Seele sein, ein Blut... folge mir, der Tod wartet..." - Die Kamera richtet sich dabei auf die Tür, hinter der wir den Doktor wissen.

Der alte Diener liest schließlich von der Epidemie, die vor einem Vierteljahrhundert in Courtempierre herrschte, von dem Gerücht, daß ein Vampir die Ursache dieser Epidemie sein müsse.
"Viele Leute glaubten fest daran, dass nur Marguerite Chopin, die auf dem Friedhof von Courtempierre begraben liegt, dieser Vampyr sein könne. Marguerite Chopin war während ihres ganzen Lebens ein Ungeheuer in Menschengestalt gewesen. Sie starb reuelos, und die Kirche verweigerte ihr in der Todesstunde die Sakramente." 

Die Tür, hinter der sich der Doktor aufhielt, geht auf und wieder zu, wie keine Tür auf- und wieder zugehen kann, und wir sehen niemanden. Der Diener hat etwas gehört, forscht mit seiner Lampe, sieht den Doktor die Treppe hinaufsteigen, zu einem Fenster, ein Schrei ist zu hören. Schnitt auf Gray, es donnert, blitzt, ein Totenschädel, eine Skeletthand mit dem Giftfläschchen, Visionen oder Bilder aus Grays Traum, dann wird der von der Blutentnahme geschwächte Gray, sofern er nicht träumt, vom Diener geweckt zu werden, vom Diener geweckt: "Kommen Sie! Schnell! Es geschieht etwas Furchtbares!" Schnitt auf Léone, die nach dem Giftfläschchen greift, das der Doktor auf dem Nachttisch stehen ließ - um die Absicht des Vampirs zu erfüllen, eine Selbstmörderseele in ewige Verdammnis zu zerren. Diese Szene wird noch bewegender, wenn man sich vor Augen hält, daß Dreyers leibliche Mutter, Josefine Bernhardine Nilsson - er war ein uneheliches Kind, vom Vater zur Adoption freigegeben - Selbstmord begangen hatte, als er zwei Jahre alt war; und daß die rätselhafte Sybille Schmitz - "Ich wurde scheintot geboren und in einen Sarg gelegt. Erst die Hammerschläge, die ihn schlossen, erweckten mich zum Leben." - 1955 mit einer Überdosis Luminal dem Wunsch nachgeben würde, "für immer zu schlafen".

Gray überwältigt den eben das Zimmer betretenden Doktor und verhindert Léones Selbstmord. Der Doktor ist augenblicklich verschwunden, und Gisèle mit ihm. Donnern, Heulen und tanzende Schatten im Haus, selbst die Architektur scheint aufgewühlt. Wieder zieht Dreyer mit einem virtuosen, vorsätzlich verwirrenden Effekt den Zuschauer noch tiefer in das Mysterium, indem er ihn zu einem zweiten Gray macht: auf der Suche nach Gisèle und dem Doktor läuft Gray auf die Kamera zu, in einen Raum des Schlosses hinein; die Kamera macht einen 360°-Schwenk, wir haben mit ihrem Blick einmal das Zimmer abgesucht; als die Kamera zum Ausgangspunkt zurückkehrt, ist auch Gray schon verschwunden. Unser Blick aber ist, gerade weil er ratlos in diesem Raum festhängt, autonomer Bestandteil dieses "Traums".

Dann, draußen, tanzende Schemen, jene, die Gray schon einmal führten. Sie scheinen Zeichen zu geben, Gray folgt ihnen. Die Krankenschwester betet am Bett Léones. "Schwester... ich habe Angst, zu sterben... ich bin verdammt... mein Gott... mein Gott... mein Gott." Der Diener: "Schwester... sie darf nicht sterben... sie muß bis zum Sonnenaufgang am Leben bleiben... hören Sie!" - Der Diener hat einen Entschluß gefaßt.

Während sich der Diener im unwirklichen Licht auf den Weg zum Friedhof macht, läuft Gray durch den Park, fällt, läßt sich auf eine Bank nieder. Grays durchsichtige Hülle verläßt ihn. Als diese läuft er zu dem alten Gebäude, in dem er den Doktor zum ersten Male traf. Er entdeckt den Sarg, zieht das Tuch ab, und sieht sich selbst im Sarg liegen. 

An diesem Punkt ist Gray in dreifaches Sein aufgeteilt: jener Gray auf der Bank im Park, der eingeschlafen sein mag; die geisterhafte Hülle, die nun unterwegs ist; und jener Allan Gray im Sarg, den der Geisterwanderer entdeckt.
 
 
 

 

Hinter dem Glas einer Tür sieht er das Licht- und Schattenspiel, mit dem Dreyer das Toben des Übernatürlichen suggeriert, Gray späht hinein, sieht Gisèle, an ein Bett gefesselt.
 
 
 
 

 
 
Gray kann die Tür nicht öffnen. Der Doktor kehrt zurück, Gray beobachtet ihn. Der Doktor holt den Schlüssel zu der Tür, hinter der Gisèle gefangen ist, aus einer alten Standuhr ohne Uhrwerk, doch er schließt nicht auf. Auch der einbeinige Soldat ist jetzt da. Gray versteckt sich, sieht zu, wie der Einbeinige, im Beisein des Doktors, das Tuch vom Sarg zieht, Grays lebende Leiche darin. Mit den starr aufgerissenen Augen des im Sarg Liegenden sieht man durch das Glasfenster des Sargdeckels den Kopf des Soldaten, während er den Sarg schließt. Schnitt auf den reglosen Kopf Grays im Sarg, Entsetzen in den Augen. Die zweite Sequenz von "Vampyr", die stets besonders hervorgehoben wird, die klaustrophobische Begräbnisvision, nimmt ihren Lauf.

Der Zuschauer liegt selbst im Sarg, lebendig, bewegungsunfähig, hilflos, und sieht mit Grauen durch das Glas, wie der Soldat den Sargdeckel zuschraubt mit knirschendem Geräusch. Wie eine Kerze auf das Glas gestellt wird, die Hände des Soldaten, die mit einem Streichholz die Kerze anzünden. Dann eine andere Hand, die die Kerze nimmt, dann das Gesicht der alten Vampirin, die kalt und unerbittlich hineinstarrt zu uns, wie um zu erkennen, ob wir wirklich da sind.

Wir sind da, mit der genuinen menschlichen Angst, lebendig begraben zu werden. Aber was folgt, ist auch von unwirklicher, seltsamer Schönheit. Der Doktor befiehlt: "Also los! Marsch!" Träger heben den Sarg an, "wir" werden hinausgetragen, Glockengeläut setzt ein, mit Grays entsetzensstarren Augen sehen wir weiter durch die Glasscheibe: Zimmerdecke, der Doktor, dann der Himmel, Wolken, Baumwipfel, Kirchenfassade, Kirchturm.

Die vier Träger kommen mit dem Sarg an Grays Bank vorbei und lösen sich auf, als Gray wieder "Substanz" gewinnt. Er "erwacht", läuft zum Friedhof, wo der Diener das Grab der alten Vampirin öffnet. Gray nähert sich zögernd. Sie nehmen den Sargdeckel ab, leuchten in das Grab, sehen die Alte in ihrem Sarg liegen. Der Diener setzt - einzige konventionelle Genreszene des Films - den Eisenpfahl an, stößt zu; wir sehen den düsteren Himmel und hören Hammerschläge. Das Gesicht der Alten wird zum Totenschädel.
Da der Vampir stirbt, verliert der Fluch, der auf den Opfern lastet, seine Kraft; Léone richtet sich in ihrem Bett auf: "Ich fühle mich stark... meine Seele ist frei..." - Frei, um in Frieden zu sterben.

Im Haus des Doktors, der Soldat spielt auf einem Banjo. Donnern und Blitzen und ein vor dem Fenster erscheinendes Antlitz (der Schloßherr), eine übernatürliche Heimsuchung, die Dreyer wieder als undefinierbares Licht- und Schattenspiel hinter Glas zeigt, treibt den Arzt aus seinem Haus, die Zeit des Einbeinigen ist dagegen abgelaufen. Gray ist plötzlich anwesend, nimmt den Schlüssel für die Tür zur schönen Gefangenen aus der Standuhr, befreit Gisèle von ihren Fesseln, läuft mit ihr zum Fluß, sie besteigen ein Boot.

Der Doktor flieht in eine Mühle. Der Schloßdiener ist ihm gefolgt. Als der Doktor plötzlich gefangen ist, weil sich auf mysteriöse Weise die Tür eines Gitterkäfigs hinter ihm schließt, setzt der Diener die schweren Mühlräder in Gang, der sinistre Doktor wird von Kaskaden herabfallenden Mehls langsam - sehr langsam - zugeschüttet und erstickt, begraben von einer Lawine weißen Staubes: eine der beklemmendsten, erschreckendsten, Szenen der Filmgeschichte. Beim ersten Sehen sträubt man sich gewissermaßen gegen den Glauben, daß man tatsächlich gerade sieht, was da geschieht. Beim zweiten Sehen weiß man, daß der Darsteller des Doktors ein sehr tapferer Mann war.
 
 
 

 
 
Gray und Gisèle überqueren langsam den in Nebel gehüllten Styx, gelangen auf die andere Seite der "anderen Seite", wandern durch den Wald, Hand in Hand, zwischen zwei Welten von einem diagonalen Sonnenstrahl getroffen, dem Licht eines neuen Morgens entgegen.
 
"Vampyr" dürfte der Film sein, der einem Traumerlebnis am nächsten kommt. Zudem führt Dreyers Film vor Augen, wie es aussehen müßte, wenn der Träumende im Traum auch noch sich selbst als agierende Person sähe.

Charaktere und Begebenheiten scheinen geführt und gelenkt von verborgenen Mächten aus der Welt hinter der Welt. Nicht die Vampirin ist das Monströse. Das Ungeheuerliche ist das, was der ganze visuelle Kontext vermittelt: da ist etwas, das sich nie erschließt, nie offenbart, aber alles durchdringt. Über allem liegt das Gefühl einer unsichtbaren, aber allgegenwärtigen Präsenz. Ein unerklärliches, unfaßbares Grauen. Eine Serie von spukhaften Bildern, die intensive Gefühle auslösen, doch die Übergänge wirken, als würden sich verwirrende, unzusammenhängende Traumfragmente nach unbekannter Gesetzmäßigkeit aneinanderreihen. Da wir Allan Gray durch dieses Reich folgen, überträgt er auf uns zugleich eine phantastische sinnliche Unmittelbarkeit und das Gefühl einer seltsamen Bindungslosigkeit. 

Es gibt kein Blut zu sehen; man spürt es, wie man die Wirkmacht des Unheimlichen spürt, das gleichsam aus den Szenen emaniert, bis es einen selbst in Trance versetzt. Die hypnotischen Bilder, die dichte Atmosphäre, die befremdlich faszinierenden Gesten: ein magischer Sog. Dreyer gibt uns mit unorthodoxen, brillanten Effekten das Gefühl, dem Abenteuer Grays nicht nur beizuwohnen, sondern es von innen her zu erleben. Virtuos läßt Dreyer den Zuschauer fühlen, was Gray fühlen müßte, würde er fühlen. Die Kamera folgt verwirrenden Regeln, die das unheimliche Gefühl verstärken, man selbst wäre nur ein wandernder Traumcharakter.

Mit Allan Gray bewegt man sich zwischen dem Horror völliger Desorientierung und der Gabe, Dinge zu erkennen, die für gewöhnlich der Wahrnehmung nicht zugänglich sind: Frieda Grafe sprach von Dreyers Fähigkeit, etwas zu  Realität zu verdichten, das sich der Darstellung sonst entzieht. Sobald uns, wie Dreyer selbst formulierte, irgendein Geschehnis in einen Zustand hochgespannter Aufmerksamkeit versetzt, schreiben wir den Dingen, die uns umgeben, andere Bedeutungen zu.

Es bleibt offen, ob sie diese Bedeutungen haben. Allan Gray ist der Katalysator seines eigenen strange adventure. Es ist, als hätte Gray den Durchgang zu einem Paralleluniversum gefunden, als bliebe aber die Schwelle bei jedem Schritt unter seinen Füßen: nie ganz ausgeschlossen, nie ganz involviert streift er durch das Zwischenreich der Wirklichkeit des Unwirklichen. Der unter dem Pseudonym Julian West agierende Darsteller des Allan Gray, Baron Nicolas de Gunzburg, war ein junger Filmenthusiast, der gleichzeitig als Finanzier des Films dafür sorgte, daß Dreyer über jeden Aspekt der Produktion vollständige Kontrolle hatte und genau den Film machen konnte, den er wollte. Dem jungen Baron wird zuweilen ungeschickte Schauspielkunst zur Last gelegt, was vollständig neben der Sache ist. Wenn er quasi somnambul durch diesen Film läuft, mit ausdruckslosem Erstaunen in den großen, aber merkwürdig leeren Augen, ohne jedes Mienenspiel, flach und kontrastarm wirkend, dann ist das nur logisch und richtig: Expression? Man sieht sich selbst nicht im Traum.

Nur Sybille Schmitz (Léone) und Maurice Schutz (der Schloßherr) waren professionelle Schauspieler. Rena Mandel, die Darstellerin der ätherisch-keuschen Gisèle, arbeitete als Aktmodell für einen Pariser Photographen. Sie berichtete, daß Dreyer ihr während der Dreharbeiten Bilder von Goya zu zeigen pflegte. Den Doktor fand Ralph Holm, ein Assistent Dreyers, eines Nachts in Paris in der letzten Metro - als heruntergekommenes Individuum mit einem Hutfilz auf wirrem Haar, vogelähnlichen, ruckartigen Kopfbewegungen, und merkwürdig stechenden Augen, die hinter den Brillengläsern böse zu funkeln schienen; wie sich herausstellt, handelt es sich um den polnischen Poeten Jan Hieronimko, der einige Tage später an der Sorbonne geehrt wird. Die Darstellerin der Marguerite Chopin, eine respektable Witwe, war die Mutter einer Schauspielerin, von Holm entdeckt, als er eigentlich die Tochter besuchen wollte. Das seltsam Unstete der Bewegungen und das leicht verschlagen Wirkende der Mimik des Doktors, die unheimlich gleitende Präsenz der Vampirin: Dreyer nutzt die Eigenheiten seiner Darsteller konsequent, ohne ihnen Schauspiel im eigentlichen Sinne oder Nuancierung psychologischer Details abzuverlangen, und verleiht ihnen gleichzeitig die schemenhafte Präsenz von Traumgestalten. Die madonnenbleichen Schwestern mit ihrem stummen Entsetzen sind das Schöne als der Beginn des Schrecklichen.

Die Darsteller wirken selbstversonnen, körperfremd, matt, eingeschlossen und versunken in etwas, das nur halb explizit wird: es sind sonderbare, unheimliche performances, bei denen Bewegungen und Blicke aus einem narrativen Grund der Bilder zu kommen scheinen, der sich entzieht. Das gesamte Sounddesign ist verstörend. Die kryptischen Sätze und fragmentarischen Gesprächsfetzen wie Echos aus einer nicht zugänglichen Welt, die einen frösteln lassen, nicht selten am Rande des Unverständlichen; die Overdubs mit den seltsam ausdruckslosen Stimmen, der fremdartigen Aussprache (angeblich bestand Dreyer darauf, daß alle Darsteller sich selbst in allen drei Sprachen nachsynchronisieren, unabhängig davon, ob sie die Sprache verstanden oder nicht), all das wirkt, als hätte das Jenseits von diesen Charakteren so vollständig Besitz ergriffen, sie so sehr durchdrungen, daß sie im Bewußtsein befristeter Zeit nicht mehr so sprechen, als wäre das, was sie sagen, noch unbedingt für irdische Ohren bestimmt. Flüchtige Stimmen, die aus unendlicher Entfernung zu kommen scheinen, aus einer opaken Schicht der Wirklichkeit, gebannt von Worten wie "Blut" und "sterben". Oft wirken die Figuren so, als wollten sie Bedeutendes sagen, doch dann schweigen sie, und die Stille wird ohrenbetäubend. 

Die Phasen furchterregender Stille, die eigenartigen, befremdlichen Übergänge im Ablauf, all das verstärkt die bedrohliche Atmosphäre des Films, die Undurchdringlichkeit des Geschehens, das Gefühl des Schlafwandelns. Der Text des Vampirbuches, das der Vater von Léone und Gisèle Allan Gray überbringt, ist zwar wie eine guideline durch den Film, aber es bleibt das Gefühl, daß die Erklärungen nichts wirklich erklären.

Gedreht wurde bevorzugt im Morgengrauen, und die ungewöhnliche visuelle Qualität der Außenaufnahmen mit ihren immateriell wirkenden Landschaften erreichten Dreyer und Kameramann Rudolph Maté durch bewußte Wiederholung eines Mißgeschicks: bei der ersten Ansicht der rushes bemerkten sie, daß einer der takes grau war. Sie fanden die Ursache (versehentlich auf die Linse projiziertes Licht) und arrangierten nun für jeden take dieses "falsche Licht": schwarzer Tüll zwischen der Kamera und einem auf die Kamera gerichteten Scheinwerfer ließ bei den Aufnahmen jene bleiche, diffuse Helligkeit entstehen, die nicht im Tag, nicht in der Nacht zuhause ist.

Ebbe Neergaard, ein Schriftsteller und Freund Dreyers, sprach von weißem Unbehagen: Beklommenheit, die durch Licht ausgelöst wird. Gefühle also, die sonst eher durch Dunkelheit hervorgerufen werden. Das weiße Unbehagen trägt zur Desorientierung bei, zum Aufheben des Aufgehobenseins in der Realität, wie wir sie kennen. Dieses Licht, das kein Licht ist, schenkt kein Vertrauen. Die Lawine weißen Mehls, die den Doktor begräbt, vollendet das weiße Unbehagen.

Dieser Film, der die Realität auf so intensive Weise unwirklich und traumgleich erscheinen läßt, wurde ausschließlich an real existierenden Schauplätzen gedreht, die Dreyer in der Nähe von Paris gefunden hatte: das alte, dunkle, verfallene Château von Courtempierre, moderig von Feuchtigkeit, voller Ratten; eine alte Gipsfabrik, ein Pfarrhaus, eine stillgelegte Eisfabrik, ein Landgasthaus.

Der Film erlebte seine Uraufführung in Berlin im Mai 1932. Zischen, Buhen, Hurrarufe. In Wien kam es zu einem veritablen Skandal, aufgebrachte Zuschauer verlangten ihr Geld zurück, Polizei stellte die Ordnung mit Schlagstöcken wieder her. Dänische Zeitungen berichten von einem hochinteressierten Publikum. In den USA erfuhr der Film offenbar keine kommerzielle Aufführung, 16mm-Kopien kursierten im Untergrund. Die Familie de Gunzburg verlor mit "Vampyr" fast ihr ganzes Geld.

Subtiler Horror, so alptraumhaft wie traumhaft schön, voller Andeutungen und Symbole, voller Unerklärlichkeiten, innovativ, suggestiv, mit einem Leichnam hinter der Tür - aber wir wissen nicht, hinter welcher Tür.

Diese Beschreibung zerstört sich selbst in 20 Minuten. Denn "Vampyr" ist unbeschreiblich.
 
 
 
 

Rena Mandel





Zitate aus:
William K. Everson, Klassiker des Horrorfilms, München 1979
Tom Milne, Vampyr, in: "The Cinema of Carl Dreyer", published by A. Zwemmer, Ltd. 1971.
David Pirie, Vampir Filmkult, Gütersloh 1977
Georg Seeßlen u. Claudius Weil, Kino des Phantastischen. Geschichte und Mythologie des Horror-Films, Reinbek bei Hamburg 1980
David Soren, The Rise and Fall of the Horror Film, Second Printing (revised), Baltimore, Maryland 1995 (First Edition: 1977).














[erstveröffentlicht / first published 10.05.2011]