Montag, 18. Juli 2022

Rowland S. Howard






"Der Mann der Stunde war Nick Cave, ehedem Sänger der Birthday Party, einer Combo, die so klang wie der eiskalte Samen des Teufels sich anfühlen mußte. Cave zog durch seine Texte wie ein Wanderprediger mit Dreck am Stecken zwischen Sumpfland, Strumpfband und Altem Testament. Sein Spießgeselle war jetzt nicht mehr der seltsame Rowland S. Howard, der mit seinen weinenwollenden großen Augen wirkte wie ein im Cabinet des Dr. Caligari Vergessener und von dessen Gitarre Georg Büchner sagte, daß sie wie ein offenes Rasiermesser durch die Gegend lief (man schnitt sich an ihr), sondern Blixa Bargeld, dessen luziferisches Gebrodel über Caves Lieder kroch wie eine Tarantel übers Bett. Kicking Against The Pricks und Your Funeral, My Trial von Nick Cave schärften den Sinn für die manische Unschuld der Obsession."


"Vor etwa zwei Stunden hatte Aljoscha eine LP der Birthday Party neben einen Spiegel gestellt und sich selbst davor, um einen Haarschnitt vorzunehmen. Der Kopf des auf dem Cover abgebildeten Gitarristen Rowland S. Howard diente ihm als Vorbild. Hallo, ich bin Butch, und ich nenne diesen Schnitt Scheitel am Ende. Man trägt ein artiges weißes Hemd dazu. Es ist ein Scheitel, dessen Sachlichkeit zugleich betont und zerfetzt ist, verheert, zerwirbelt, verderbt. Die Wirrnis der Fasson. Der Formschnitt der Zerrüttung. Keine Strähne verschafft eine Ahnung, was zum Teufel all das bedeuten sollte, jeder Wirbel verweigert die Mitarbeit. Der Scheitel des Bösen. Aljoscha hatte aufgehört zu funktionieren. Er hatte aufgehört zu resignieren."


Christian Erdmann: Aljoscha der Idiot
 















Rowland war für mich immer ein entfernter Satellit, der an bedeutenden Punkten meines Lebens Signale sendet. Ich glaube, es war sein Gesicht, das mich zur Birthday Party brachte. Die Szenen in "Wings Of Desire", die sich einem ins Gedächtnis brannten. Im Winter unserer Durchgangsriten war er da mit "Wedding Hotel". "It's Still Living" neben meinem Spiegel, um mir den Scheitel des Bösen zu verpassen. These Immortal Souls live, damals, als Konzerte, die für 20:00 angesetzt waren, kurz vor Mitternacht begannen. Dann entdeckt man ihn als Entdecker der Lee Hazlewood / Nancy Sinatra-Größe, mit "Some Velvet Morning". Und dann kam "I'm Never Gonna Die Again" – "Crowned". Gott weiß wohin Genevieves Piano am Ende, das nochmal aus der Stille kommt, meine arme Seele schon geführt hat.
 
 
 
 
 

 








Über Rowland S. Howard @ SPIEGEL ONLINE Forum:




23.10.2007 

Kuechenchef: 
 
In der Tat habe ich gestern eine lange Crime & The City Solution- und Spätburgunder-Nacht veranstaltet. Angefangen mit der The Dolphins and the Sharks-EP ... bis Shine. Dabei ist mir folgendes Schätzchen in die Hände gefallen, dessen Existenz mir nicht mehr wirklich bewusst war, Nikki Sudden and Rowland S. Howard - Kiss You Kidnapped Charabanc. 







Und natürlich laufen bei alldem so viele Filme ab, daß ich auf den Spätburgunder lieber von vornherein verzichte, aber wie Lou Reed mal sagte, jeder Wirbelsturm hat ein Auge, und durch das muß man durch. Und auf der anderen Seite bleibt dann einfach, daß "Wedding Hotel" ein großer Song war, ist, und immer sein wird.











kpone: 
 
... Lydia & Rowland mit "Shotgun Wedding". Da läuft mir immer wieder ein Schauer über den Rücken.
Nicht immer zeugen viele Noten und Breaks für Qualität.












Was die Breaks angeht... im Nachhinein betrachtet... "Hee-Haw" hat zuweilen sehr vertrackte Rhythmen, diese seltsame Art von Beautiful Losers-Jazz, der Rhythmus als Strafaktion, und halb hält Howard genau das in der Hand, halb schneidet er mit dem Rasiermesser hinein.

Gerade auf der zweiten These Immortal Souls-Platte ("I'm Never Gonna Die Again") bindet er sich dann aber mal richtig die spitzen Schuhe zu, Stücke von ungeahnter Stringenz, und das etwa 10 Minuten lange "Crowned" - über das, was passiert, wenn man sich über längere Zeit hinweg über den Schlaf (und ein paar andere Dinge) erhebt - ist vielleicht das beste, was er je gemacht hat, die Beats, die Epic Soundtracks auf diesem Stück auf der Snare hinterläßt, kann kein Sterblicher zählen, und während sich das Ganze am Ende selbst manisch in den Boden dreht, entlarvt diese wunderbare Piano-Melodie von Genevieve McGuckin, die erstmal gegen die neun Höllenkreise ankämpft und dann aus der Stille nochmal wiederkommt, einen wie Howard ("I've been crowned in black, now I abdicate") als letztlich heillosen Romantiker. Ganz, ganz groß.










 


18.03.2008 

"Exit Everything" flattert hier seit Tagen mit schwarzen Engelsflügeln herum und sprüht "Das Herz ist eine Kampfzone" an die Wand.


















07.07.2008  

Hatte ich Dir eigentlich seinerzeit erzählt, daß es in dem nicht so berauschenden "Queen of the Damned" eine kurze Szene gibt, in der eine "Vampir-Combo" aufspielt, bestehend aus Aimee Nash, Robin Casinader, dem wunderbaren, Dir ja nun auch bekannten Hugo Race und *drumroll* Rowland S. Howard, ex-The Birthday Party, ex-Crime & The City Solution, ex-These Immortal Souls, ex-Lydia Lunch-Kumpan, ex-everything (Song seines Soloalbums "Teenage Snuff Film": "Exit Everything"), ex-Konsument-von-allem. Wie Du weißt, kann man ihn auch als "im Cabinet des Dr. Caligari Vergessener" bezeichnen, aber es war einfach schlagend, wie das natürliche unnatürliche Aussehen dieses Mannes ihn vampirhafter erscheinen ließ als den ganzen Rest der Filmvampire!











07.09.2008

"Exit Everything" ist so richtig, daß es fast schon falsch ist, erinnert daran, daß Gott ein passiv-aggressiver Profilneurotiker ist, und bleibt dabei cool wie eine tiefgefrorene Gurke.










09.02.2009

Fad Gadget, "Ad Nauseam" von "Gag" (1984). Verstörender als 3 Death Metal-Bands auf 1 Pferd, Gitarre Rowland S. Howard.












12.02.2009

Eine der vielen guten Taten Rowland S. Howards: in einer Zeit, in der sich niemand darum kümmerte, auf die Klasse der Hazlewood / Sinatra-Songs zu verweisen, genau wie Nick Cave mit "Kicking Against The Pricks" Traditionslinien betonte. Die slightly demented Lunch / Howard-Version ist Geschmackssache, ich finde sie wunderbar.
 













09.07.2009

Von Alex Chilton hat Rowland S. Howard mit seinen These Immortal Souls mal "Hey! Little Child" gecovert. Der kann überhaupt gut covern.
















30.10.2009


Es gibt eine neue Platte von Rowland S. Howard (The Birthday Party, Crime & The City Solution, These Immortal Souls), "Pop Crimes".
 
Seine erste Soloplatte, "Teenage Snuff Film" von 1999, gehört zum Besten, das je aus Australien kam.

Und jeder sollte ihm Glück wünschen. "Basically I got liver cancer, I'm waiting for a transfer, if I don't get it things might not go so well... so..."










30.12.2009 

Heute morgen ist Rowland S. Howard gestorben.













30.12.2009 

Als Fad Gadget starb, war ich neu im Internet. Ich fand eine Art Kondolenzbuch auf seiner Website, und trug etwas ein. Aus den 80ern hatte ich noch so einen Artikel über ihn. Der war begleitet von einer Bilderserie; Frank Tovey (sein richtiger Name) und seine damals vielleicht 3jährige Tochter veranstalten eine Tortenschlacht. Sehr niedliche Bilder, sehr im Kontrast zu der damals gefährlich und diabolisch wirkenden Bühnenfigur Fad Gadget - der gerade das Album "Gag" veröffentlicht hatte; auf einem Stück davon spielt übrigens Rowland S. Howard Gitarre. – In meinem Eintrag also erwähnte ich diese Bilder. Kurze Zeit darauf stand folgender Eintrag online:

"Thank you for all of your messages. I'm still reading them so please keep writing. Thank you to Christian for the message about the photo shoot with me and dad and the cake. I still have one of the photos from that shoot framed in my bedroom, it's one of my most treasured possessions. Thanks and love to you all, Morgan."

Das, und zu lesen, wie viele Menschen around the world die Kunst dieses Mannes schätzten und liebten, ließ mich denken, das Internet ist womöglich keine schlechte Sache.

Ja, es hat ihm wehgetan, daß sein Werk nicht die Würdigung fand, die es verdient hätte. Ich finde es ebenfalls schmerzlich, wie manche, die ganze Heerscharen von Epigonen zu hoffnungsloser Mittelmäßigkeit verurteilen, so langsam im Nebel verschwinden. Auf der anderen Seite ist es immer eine Wohltat, auf YT, wie mir gerade bei Siouxsie & The Banshees wieder geschehen, zu lesen, wie 17jährige diese Musik entdecken und ihnen die Kinnlade runterfällt darob, daß es sowas mal gegeben hat.

Warum ich das alles erzähle, weiß der Himmel – vielleicht weil ich heute morgen diese Nachricht bekam: "I woke up this morning and someone told me Rowland died. I'm crying like a child."

Rowland S. Howard – The Birthday Party, Crime & The City Solution, These Immortal Souls, zwei gloriose Soloalben, massenhaft Kollaborationen. So einflußreich und innovativ, es bräuchte einen eigenen Museumsflügel für ihn. Im Grunde auch der Mann, der für die Postpunk-Generation das Interesse an Lee Hazlewood wiederbelebte, als dieser völlig aus dem Fokus war, mit "Some Velvet Morning", Duett mit Lydia Lunch.

Ein Nachruf:

-> Rowland S. Howard hangs up his guitar for keeps 

"I think that the most important thing about music should be that it expresses some kind of humanity and it should express the personality of the person who is playing it."







04.01.2010

Zum Tode Rowland S. Howards:

-> Geier unter Starkstrom 








05.01.2010

kpone: 
 
RIP 
"I think that the most important thing about music should be that it expresses some kind of humanity and it should express the personality of the person who is playing it." 

Sorry, Christian, hab' ich grad mal bei Dir rauskopiert. Natürlich war Howard kein "Supergitarrist" à la Malmsteen, Satriani, Moore und wie die ganzen Griffbrettmasturbanten alle heißen. Aber da wo Gefühl und Akzentuierung gefragt waren, da hat er sein Metier beherrscht wie kein Zweiter. Allein auf der kompletten LP "Shotgun Wedding" mit Lydia Lunch zeigen einzelne Töne zur richtigen Zeit, langsame Melodiefolgen einzelner Töne mit kurzem komplett Anschlag eines Akkords über drei Saiten, dass weniger meistens mehr ist.

Feeling für Strukturen, Harmonien (bei Birthday Party meist Disharmonien) und Riffs, die einen bis ins Mark treffen und Schauer über den Rücken jagen, müssen nicht immer technisch perfekt sein oder bis in jede 32tel Triole zu analysieren sein.

R.S. Howard war einer der ganz Großen.



 




Sorry, Christian, hab' ich grad mal bei Dir rauskopiert. 

Gern. Doch noch schön, das alles zu lesen hier; hatte heute morgen schon dem Herrn Buß mein Mitgefühl aussprechen wollen dafür, daß er den deutschen Kulturseppl nahezu todesmutig doch noch mal an etwas Spannendes und Bedeutendes erinnern wollte, bei einer 90:10-Wahrscheinlichkeit von "Rowland wer?". In jedem englischsprachigen Nachruf findet sich das Wort "influential", gern mit einem "most" davor und einem "komma, inventive" dahinter. Daß Rowland S. Howard in Deutschland vergleichsweise "einflußlos" war, würde ich gar nicht unbedingt bestreiten; eben daß Gitarristen dieses Kalibers – der Mann hatte einen Stil, den man 10 Meilen gegen den Wind erkennen konnte, präzise, schneidend, durchdringend, aber mit einem phantastischen Sinn für Klang, Struktur und Nuancen – vergleichsweise "einflußlos" geblieben sind, ist ein Teil der Erklärung dafür, daß deutsche Musik so grottenlangweilig ist.

RSH hatte eine Lone-Ranger-Stimme von düsterer Determiniertheit, die immer etwas Unheimliches hatte, aber eine Stimme, die selbst schon mehr erzählte als tausend in Verbindlichkeitsakkorden absaufende Wischiwaschitexte. Wer sich mit den Texten wirklich beschäftigt, erkennt darin natürlich kleine poetische Sprengköpfe allerorten, RSH hat immer literarische Einflüsse zugegeben, von denen er meinte, daß er sie noch durch einen vielleicht nicht immer leicht verständlichen, spezifisch australischen Humor filtert, der mit dem vermeintlich Morbiden ganz gut umgehen kann. Großer Mann des dunkelromantischen weißen Blues, der ein genieförmiges Loch in der Kultur hinterläßt. 

Aus einem Review zu "Pop Crimes":

"And it's a revelation. Howard comes across as an intriguing blend of world-weary cynic and romantic, with that oddly puritanical streak you often get in lifelong 'outsiders,' with a deliciously rich vein of black humour to bring it all to life. His cavernous voice sounds like it has smoked a forest of cigarettes but conversely has that rare power which comes from a sense of having really lived."






 
 
 
 
 
 
01.07.2010

Einer, der gehen mußte: von Rowland S. Howards nun erschienener "Pop Crimes".













10.12.2010

kpone: 
 
Der hat sich einfach die Zeit genommen, Emotionen in Musik zu packen & Töne auch mal stehen zulassen, um damit zu korrespondieren & kommunizieren. Demnächst jährt sich sein erster Todestag. R.I.P., Rowland. Never got the chance to see you on stage.







Thx. Ja, man möchte pathetisch werden, und warum auch nicht, ich danke den Göttern, die zwischen den Atomen sitzen und kichern, daß sie uns Diesen Unsterblichen Seelen zuführten, damals, als bestimmte Konzerte aus bekannten Gründen ca. 3 Stunden später begannen als angekündigt. Hager, ausgemergelt, als wäre Sonne ihm nur vom Hörensagen bekannt, schien er mehr Wesen als Mensch, später, in "Queen of the Damned", bei seinem erstaunlichen Cameo, war er wohl der einzige, den man nicht eigens zum Vampir hinschminken mußte. Seine Art, sich zu bewegen, beeindruckte mich zutiefst. Eben die Art eines sehr schlanken, sehr großen Mannes, der ein Messer gegessen hatte. Die wunderbare Jutta Koether schrieb mal, These Immortal Souls stanzen in kostbarer Düsternis Blumen in schwarzes Glanzpapier. Und das ist natürlich das genaue Gegenteil von "depressiv". Er liebte James Ellroy und verriet immer so interessante Dinge wie etwa, daß Blixa Bargeld eine Schuhputzmaschine besäße. Die drei besten "Wedding"-Songs: das "White Wedding"-Cover der Queens of the Stone Age, "Wedding Dress" von Mark Lanegan, und "Wedding Hotel" von Rowland S. Howard und Nikki Sudden.

Ein paar Platten, die der Mann todsicher zuhause hatte: die großen, großen Shangri-Las. Wenn der nicht auch a crush on Mary Weiss (Capricorn, weiß man schon, bevor man es nachliest) hatte, will ich einen Besen fressen.






 
 
 
 
 
 
 
 
"Worte und Sounds lange nach Mitternacht. Winter-Pop. Was kümmert uns der schmutzige Schnee? Behende eilen die Immortal Souls spitzschuhig darüber hinweg." - Jutta Koether











"Autoluminescent" Movie Trailer













The Birthday Party "Junkyard" on Gotterdammerung










The Birthday Party












"Rowland S Howard (the "W" in Rowland and the "S" in the middle were not negotiable) was one of this world's most ridiculously singular and charismatic individuals. He was himself to the nth degree. He was beautiful, extraordinary, intelligent, funny, wickedly talented, wickedly human, affectionate, warm loving and always entertaining to the precious people in his life. He was as dapper as the devil, at times as shabby as an aristocrat who'd fallen on hard times.

He felt things in a wholly unimpeded way, there were no walls between his heart and his mouth, his skin was thin. When he loved he loved with all his heart, soul and mind, he could break hearts and did. He railed and writhed in agony when his own heart was broken. He devoured life and books and films and music and pop culture with a curiosity and zest for new information that was astonishing. He was a popular criminal. He was great and he was flawed, and life tested him again and again, but he arose from times of gloom and adversity to charm and amuse and spark and spin and produce songs and music that came straight from the centre of his being with an honesty and intensity that was bone-deep. He didn't suffer fools gladly, if at all, yet he was always a gentleman.

His life was 50 years long, different periods of friends, cities, bands. So much happened it would be impossible to cover or do justice to them all. This is a eulogy, not a biography.

I'll miss his blue eyes, his face, his downturned smirk, his raised eyebrow, his fount of information, his devilish humour, the sound of his voice. His compassion and empathy, his loyalty, his chuckle, his mocking laugh, his huge vocabulary. I'll miss him telling me exactly what to read and see. I'll miss his presence, the light he shed on those around him, his music, his singing, his words that made us cry, and watching and hearing him skip and strut and swing that guitar like a screechy demon, wringing the most bone shatteringly beautiful noises out of the ether while he sang his heart out all over the place. It all came from the most profound regions of his soul. It was how he expressed himself.

Through everything Rowland, you were the best friend of my life. I couldn't have asked for more." 

Genevieve McGuckin
 
 









 
 
 
"Rowland's quest is to banish banality from the kingdom." - Harry Howard



















Donnerstag, 10. Februar 2022

Zeit macht nur vor dem Teufel halt

 

 

 



 
 
 

SPIEGEL ONLINE Forum 

"Schlager vor dem Comeback?"

 

19.07.2007

 

Parzival v. d. Dräuen: 

Ich halte Schlager für einen gewinnorientierten Ausdruck der Musikindustrie, um an die niedersten Instinkte des Menschen zu appellieren. Das kann ich als Verfechter der Aufklärung und als übergeordnet legitimierter Erzieher des Menschen so nicht hinnehmen.
So werde ich weder Schlager noch seichte Kinderlieder in meinem Haushalt absegnen können, da ich mich in der Pflicht sehe, die abendländischen Kulturwerte zu verteidigen.
Es sind auditive Reize, die den Menschen zur asozialen Vereinzelung zwingen. Der Schlager, als Gattungsbegriff der hörbaren Vereinsamung, lebt der Welt eine Vereinfachung und emotionsüberhöhende simplizistische Seinsentfremdung vor; das autistische Glücksbeharren hedonistisch agierender Selbstverfremdung entgrenzt den Menschen seiner musikalischen Möglichkeiten. Bildungspolitisch sehen wir also eine Verantwortung, die sich nicht nur dem bloßen Wünschen ergeben sollte.

 

 

 


 

ET MOI ET MOI ET MOI:

Die Zeit. Die trennt nicht nur für immer Tanz und Tänzer. Die Zeit. Die trennt auch jeden Sänger und sein Lied. Denn die Zeit ist das, was bald geschieht. Die Zeit. Die trennt nicht nur für immer Traum und Träumer. Die Zeit. Die trennt auch jeden Dichter und sein Wort. Denn die Zeit läuft vor sich selber fort. Zeit macht nur vor dem Teufel halt. Denn er wird niemals alt. Die Hölle wird nicht kalt. Zeit macht nur vor dem Teufel halt. Heute ist schon beinah' morgen. Die Zeit. Die trennt nicht nur für immer Sohn und Vater. Die Zeit. Die trennt auch eines Tages Dich und mich. Denn die Zeit, die zieht den längsten Strich. Zeit macht nur vor dem Teufel halt. Denn er wird niemals alt. Die Hölle wird nicht kalt. Zeit macht nur vor dem Teufel halt. Heute ist schon beinah' morgen. Die Zeit alle Zeit Ewigkeit. Zeit macht nur vor dem Teufel halt.

Die hörbare Vereinsamung, die Zeit im Zeitalter ihrer BarryRyanisierung, da geht ein Mann die Gleise entlang -> in Baden-Oos und im autistischen Glücksbeharren, durch den kalten Nebel der Selbstverfremdung, und der Supptext stellt bohrende, entgretzte Fragen. Wenn heute schon beinahe morgen ist, weil durch die vor sich selbst fortlaufende Zeit ein Loch entsteht, kann Henri Bergson durch das Loch kommen? Was macht den Teufel alterslos? Die Zeit, die zieht den längsten Strich, oder wie Ryan auch formuliert: "Schtrick". Wo ist dieser Strcikc, auf dem wir alle gehen, auf den wir zugehen, auf dem Strich dem Strich entgegen, dem längst gezogenen? "Ich habe verstanden, daß man contemporary sein muß, das future-Denken haben muß." (Jil Sander). Oder, um Jil Sander zu zitieren: Der problembewußte Mensch von heute kann diese Sachen, diese refined Qualitäten mit spirit eben auch appreciaten. Aber ist der problembewußte Mensch von heute der problembewußte Mensch von heute oder von beinahe morgen? Das eben fragt uns Barry Ryan, dieser Eulenspiegel der Selbstentfremdung, dieser Selbstbespiegler der entfremdeten Eulen, diese, um mit Heidegger zu raunen, Butter in einem Idiotensandwich.

 


 

 

21.07.2007

 

Wenn schon deutscher Schlager, entdecke ich halt lieber die 60er. Ricky Shaynes "Ich sprenge alle Ketten" ist so viel unterhaltender als jedes Stück von, ich weiß nicht, werden Juli und Silbermond auch unter deutscher Schlager verbucht? Marion Maerz hat damals mit "Er ist wieder da" ein Stück abgeliefert, bei dem auch Phil Spector die Pistole in der Tasche gelassen hätte und an dem es nichts zu mäkeln gibt, selbst wenn man das verobjektivierte Trauma, daß da gerade keiner bei Marion anruft, mittlerweile durch den Shakespeare'schen Lyrics-Kosmos eines Peter Hammill ersetzt haben mag.

 

 

 

 

 

25.07.2007

 

Die "CDs der Woche" feiern gerade gebührend die Wiederaufstehung des Marc Almond, nach einem Motorradunfall dem Tod von der Schippe gesprungener Gänsehautverursacher seit 25 Jahren, und bei der Gelegenheit fällt einem auf, daß es diese Tradition in Deutschland, im deutschen Schlager eben einfach nicht gibt, mit extremer äußerer Künstlichkeit extreme Authentizität zu produzieren, den torch song a la Marc Almond, in dem sich die Seele bloßlegt. "Seele" wird im deutschen Schlager nur gespielt, und das neuerdings sehr gruselig.

 

 

 

 

 

 

 

29.07.2007

 

Francoise Hardy. Von mir aus könnte sie auch das Telefonbuch singen.
Francoise Hardy war als BRAVO-Girl und mit diversen Songs in Deutsch Teil der hiesigen Schlagerszene, die damals wiederum, wenn auch mit teilweise sehr kruden Resultaten, Teil der internationalen Schlagerszene war. Marion Maerz aber hat einen Song von Ray Davies (The Kinks) singen können, und das ganz wunderbar.

 

 


 

Ich habe vor einer Weile eine Udo Jürgens-Platte aus den 60ern in die Hände bekommen, und es ist sehr vergnüglich, mitanzuhören, wie er die steifen und praktisch in jeder Zeile zu langen Texte immer noch so gerade um die Ecke kriegt.

 

 


 

 

Jedenfalls, irgendwann fing der deutsche Schlager an, nurmehr in der eigenen Suppe herumzudrögeln. Der "internationale" Touch mutierte für eine Weile noch zur Mischung aus deutscher Tümeligkeit und deutschem Fernweh, dann war der Ofen aus. Währenddessen hat Francoise Hardy, beispielsweise, Mitte der 90er mit einer Rockband ein erstklassiges Album aufgenommen ("Le Danger"), singt so en passant mal ein Duett mit Iggy Pop (das sehr zauberhafte "I'll Be Seeing You" auf dem Sampler "Jazz at Saint Germain") und macht kontinuierlich weiter gute Platten.

Insgesamt sind Schlager hierzulande, statt etwas über das wirkliche Leben zu erzählen, einfach zu sehr Kompensationsangebote für sehr bestimmte Zielgruppen. Es fehlt nach wie vor völlig die Komponente Charisma, Authentizität, was auch immer, die über den Song hinausgeht, die auch das Genre transzendiert. Wenn Johnny Cash den Mund aufmachte, war die Kategorie "Country" weggewischt.

 

 

 

Muffin Man:

... das hat in der Tat noch eine gewisse Ähnlichkeit mit dem frz. Chanson, dessen Liedgut gewissermaßen das Schattendasein der Gosse auf der Bühne thematisiert - ähnlich dem Brecht'schen Theater. Es würde einen langen Dialog über das Showbiz im allgemeinen und Unterhaltung der frühen Nachkriegszeit im besonderen erfordern, hier alle nennenswerten Aspekte zu ergründen...

Das hierbei vermittelte Frauenbild ist jedoch, daß die Frau ob ihrer Rolle als Opfer der Verhältnisse sich betrübt und wehmütig Ausdruck verschaffen darf (...)

 

 


Francoise Hardy ist nun sicher ein Spezialfall französischer weiblicher Melancholie, aber warum zum Beispiel war Emma Peel in den 60ern so populär? Ich vertrete ja die These, daß es im popkulturellen Diskurs eine Kombination von betont femininer Weiblichkeit und Stärke gab, die sich zu behaupten wußte. Sicher reden wir da nicht vornehmlich von Deutschland, in Frankreich kann man eine Reihe von Frauen entdecken, die sehr eigene bis eigenwillige Vorstellungen künstlerisch umgesetzt haben, die hatten einfach ihren eigenen Plan; sie haben mindestens genau das Bild vermittelt, das sie selbst vermitteln wollten.

Das Seltsame ist, daß die Proklamierer selbst das Proklamierte, das zuvor durchaus existent war, abschaffen. Die "Girl Power" proklamierenden Spice Girls haben genau das getan: als bloßes Marketingtool sozusagen die Girl Power der Sixties abgeschafft. Auch diese immer weitere Verschiebung zur Pose spricht eigentlich dafür, daß in den Erscheinungsformen, die Sie wahrscheinlich mit dem "vermittelten Frauenbild" meinen, vielfach sehr viel mehr Subjekthaftigkeit als Objekthaftigkeit lag.

Sich in den Songs zum Subjekt über die eigene Geschichte machen
– das ist, was man im deutschen Schlager halt vergeblich sucht.