Posts mit dem Label Literatur werden angezeigt. Alle Posts anzeigen
Posts mit dem Label Literatur werden angezeigt. Alle Posts anzeigen

Montag, 24. Oktober 2022

Arthur Rimbaud, Charleville










Arthur Rimbaud, Zeichnung von Paul Verlaine





Jacques Rivière: das Schauspiel, zu dem Rimbauds "Illuminations" Zugang verschaffen, ist nicht irgendeine "andere Welt", auch keine innere des Dichters, sondern diese Welt im Zustand der Desorganisation durch eine andere. Durch welche? Durch die, die bestand, bevor Strategien des Logos (Postulat genuiner Erkennbarkeit von Welt, Postulat der Übereinstimmung von Wahrnehmung und Welt, Postulat kognitiver Beherrschbarkeit von Welt) wirksam wurden. Rimbaud zeige das Verschwinden der gewohnten Welt, bei dem sich ständig etwas an einen Platz schiebt, dessen Platz dies nicht war; eine Unordnung, die sich hinter dem Vorhang der unmittelbaren Realität regt, als wäre sie etwas Älteres und Wirklicheres als ihre Bestandteile. Die Welt in ihrer ursprünglichen Unverbundenheit: die Dinge erwachen wieder zu wirrer Ungeheuerlichkeit, zu dem Zustand, der nicht von uns erschaffen, nicht von uns begriffen wird. Eine geheimnisvolle Leere drängt sich zwischen die Dinge und hebt die Täuschung ihrer Zusammengehörigkeit auf. Ein unmerklicher Einbruch, ein Riß; Rivière behauptet, dies war das "Sehertum" Rimbauds, die Dinge in dem Augenblick zu "sehen", in dem sie vereinsamen und den Kontakt miteinander verlieren, in dem sich ein unheimliches Schweigen um sie ausbreitet.

"Genug erkannt. Augenblicke, in denen das Leben stillsteht." (Rimbaud)

Die "andere" Welt, in der Topographien und Dimensionen sich verschieben, in der sich die gedachte "Einheit" auflöst, eine Welt, zu der Rimbaud sich Zugang verschafft durch "Entregelung" der Sinne.

Rimbauds Genie: mit Beobachtungsgenauigkeit dem zuvor Undurchdringlichen etwas abtrotzen. Abstieg in den Abyss der Non-Kommunikabilität, und dort der unterschwelligen Verbindung der Bilder nachspüren.

Aber.

Im Winter werden wir in einem kleinen rosa Waggon mit blauen Polstern fahren. Dann gehts uns gut: ein Nest aus verrückten Küssen in allen samtweichen Winkeln. Du wirst das Auge schließen, um nicht mehr durch die vereisten Scheiben zu sehen, wie Nachtschatten grimassieren - verbissene Mißbilder, Kratzer schwarzer Dämonen und schwarzer Wölfe.
Dann spürst du ein Kratzen auf deiner Wange: ein zarter Kuß, wie eine überspannte Spinne, läuft über deinen Nacken... Und du sagst zu mir: "Such!", und neigst den Kopf, und wir eilen uns nicht, dieses Biest zu stellen, das so aufgekratzt am Stromern ist...

"Dem Winter zugeträumt". Diese kurzen Momente der Zärtlichkeit in den Höllen, die Rimbaud durchwandert, in den zu weit entfernten Welten, die er schaut, in den Verwüstungen, die sein Zorn hinterläßt.

"Kunst ist Artillerie." (Bob Dylan)

"... someplace along the line Suze had also introduced me to the poetry of French symbolist poet Arthur Rimbaud. That was a big deal, too. I came across one of his letters called 'Je est un autre,' which translates into 'I is someone else'. When I read those words the bells went off. It made perfect sense. I wished someone would have mentioned that to me earlier." (Dylan, Chronicles Vol. 1)






Der "Brief an den Direktor einer Schiffahrtslinie", von Rimbaud auf dem Sterbebett seiner Schwester Isabelle diktiert, wenige Stunden vor seinem Tod. 


EINE LAST / EIN ANTEIL / EIN SCHICKSAL: EIN ZAHN ALLEIN.
EINE LAST / EIN ANTEIL / EIN SCHICKSAL: ZWEI ZÄHNE.
EINE LAST / EIN ANTEIL / EIN SCHICKSAL: DREI ZÄHNE.
EINE LAST / EIN ANTEIL / EIN SCHICKSAL: VIER ZÄHNE.
EINE LAST / EIN ANTEIL / EIN SCHICKSAL: ZWEI ZÄHNE.

Geehrter Herr Direktor, ich möchte Sie fragen, ob ich nichts mehr auf Ihrem Konto stehen habe. Ich wünsche heute die Linie da zu wechseln, von der ich nicht einmal den Namen kenne, aber auf jeden Fall muß es die Linie nach Aphinar sein. Alle diese Linien sind überall vertreten, und ich, ohnmächtig und unglücklich, ich kann nichts finden, der erste beste Hund auf der Straße kann Ihnen das sagen.

Lassen Sie mich also den Fahrpreis der Verbindung von Aphinar nach Suez wissen. Ich bin vollständig gelähmt – ich wünsche daher rechtzeitig an Bord zu sein. Sagen Sie mir, um wieviel Uhr ich an Bord gebracht werden muß.

Arthur Rimbaud





Hector Zazou / David Sylvian: "To A Reason".

Von Hector Zazous "Sahara Blue"-Album, das Arthur Rimbaud gewidmet ist. Musik, die dich sofort in das Niemandsland versetzt, von dem aus du mit diesem einsamen weißen Edelstein dort am Himmel zu verhandeln anfängst über die Möglichkeit genuin anderen Verhaltens den Naturgesetzen gegenüber. Endet mit dem einsamsten Trombone, das man je hörte, und es klingt wie die Erinnerung an alles, was Rimbaud je gesehen hat, kurz vor der Grenze zur letzten aller anderen Seiten.




00:00 - 06:19



 


Your finger strikes the drum
Dispersing all its sounds
And new harmony begins.

Your step is the rise of new men, their setting out.

You turn away your head: new love!
You turn your head again: new love!

"Alter our fates, destroy our plagues, beginning with Time", sing the children.
They beg of you: "Make out of anything the stuff of our fortunes and desires."

Come from always, 
You will go away
Everywhere









SPIEGEL ONLINE Forum

01.03.2011


Die seltsame Entwicklungsbeschleunigung bei Rimbaud, das frühreife Genie mit dem Kindergesicht, dann ebenso frühzeitig das graue Haar und die verwitterten Züge, schon das wirkt so, als hätte schon der Körper dieses Menschen keinen Zu-stand überhaupt ertragen. Bevor er nach Afrika kommt, unternimmt er ja endlose, fast menschenunmögliche Wanderungen, manische Distanzgewinnung, manischer Protest gegen die Existenz von Still-stand überhaupt. Jeancolas vermutet in "Die Reisen des Arthur Rimbaud", daß diese Wanderungen mit seiner Dichtung schon doch noch manches gemeinsam haben, etwa: Raum und Zeit nicht wie in der Poesie überwinden, aber doch vergessen zu können. Raum und Zeit binden an einen Zustand, an ein Sosein, schon das empfindet Rimbaud als Zwang, den er nicht erträgt. Seine Gewaltmärsche, bei denen er sich verliert, bringen ihn mehrfach an die Grenzen völliger Erschöpfung. Aber er muß in Bewegung bleiben, er empfindet nur die Bewegung als mögliches Gleichgewicht.

Harar, das Geld, die kapitalistischen Anwandlungen? Vielleicht der letzte verzweifelte Versuch, sich vorzumachen, ein Mensch wie die anderen werden zu können. Aber, an diesem unwirtlichen, unwirklichen Ort? Vielleicht eine Selbstverurteilung zu Verzicht, unerträglicher Einsamkeit, weil er einst das Feuer zu stehlen versuchte? Vielleicht die Fortsetzung seiner spirituellen Suche mit anderen, unbekannten Mitteln? Letztlich ist Rimbaud dort genau so kompromißlos weit draußen wie mit seiner Poesie. Mit der er sich unwiderruflich zu weit von den Menschen entfernt hat. 






18.09.2006


Sehr aufregend war aber, als ich mit 20 Rimbaud entdeckte, seine Werke in zwei Tagen und zwei Nächten las, das Essen vergaß, direkt danach Enid Starkies Rimbaud-Biographie Das trunkene Schiff aus der Bibliothek entlieh und nicht mehr zurückgab ("Weiß nicht... muß mir jemand im Bus aus der Tasche gezogen haben...") (später aber ein Exemplar legal erworben) (Verbrechen aus Leidenschaft, schon die griechischen Götter haben da ein Auge zugedrückt).











Charleville. Im Schaukelbus durch endlose Ardennenwälder, enge Kurven, steile Abhänge, Zweige klatschen ans Busfenster und der Fahrer ist Gott. In Sichtweite vom Place Ducale, einer jüngeren Kopie des Pariser Place des Vosges, und in der Nähe der Vieux Moulin, befindet sich die Straße, die jetzt Quai Rimbaud heißt, in der dunklen no. 7 verbrachte Rimbaud einen Teil seines literarischen Lebens, es war die Wohnung von Mme. Rimbaud zwischen 1869 und 1875.

Im Museum: Tausendmal geflickte Decken Rimbauds und der Becher, den er in Harar benutzte. Ein Zettel mit ENGLISH EXPRESSIONS, ohne Ordnung, dadurch fast poetisch; Sätze, Satzteile, Worte, in lediglich alphabetischer Reihung. Rimbauds Koffer. 











"1870 hat es einen sehr jungen Rimbaud gegeben, einen schüchternen, unordentlichen, von tausend Wünschen besessenen Rimbaud, der verzweifelnd durch diese Gassen ohne Hoffnung und ohne Liebe strich, der sich mit dieser endlosen Langeweile nicht abfinden wollte, nicht wahrhaben wollte, daß jede Zukunft, jede Möglichkeit, an den Toren des Bahnhofs ausgelöscht war, unter der Bahnhofsuhr, die die Stunden zerfetzte, vor diesem hoffnungslosen Bahnhof, der nur zu anderen, ähnlichen Bahnhöfen führte. Er weigerte sich, wie seine kleine Schwester Vitalie, mangels realer Erlebnisse, die Bäume an den Straßen zu zählen. 'Hundertundelf Kastanienbäume auf der Allee, dreiundsechzig rings um die Bahnhofspromenade', vermerkt jene Vitalie, die bald sterben wird, in ihr Tagebuch 'Mémorial'." - Yves Bonnefoy






Lipstick Traces







Photo CE




















Donnerstag, 9. Juli 2020

Barbey d'Aurevilly













SPIEGEL ONLINE Forum

"Literatur – Was lohnt es noch, zu lesen?"

08/2010



BerSie:
Schon einen Roman von Jim Thompson gelesen? :) 



Noch nicht, lese gerade die "Diabolischen Geschichten" von Jules A. Barbey d'Aurevilly. Allzu diabolisch wirken sie nicht mehr, fasziniert "von dem Ungeheuerlichen an ihnen" frönt Barbey der Faszination an mysteriösen Frauenfiguren - die hoheitsvolle Teilnahmslosigkeit eines Mädchens namens Albertine in der Geschichte "Der rote Vorhang", umschlagend in die "unglaubwürdige Kaltblütigkeit" und "gelassene Selbstbeherrschung beim Tun des Ungeheuren" ... oder Hauteclaire Stassin, Tochter des "Aufspießers", die in Erscheinung tritt, als sie vor dem berühmten Käfig im Jardin des Plantes eine Pantherin mit ihrem Handschuh reizt: "Aha!" flüsterte der Doktor mir ins Ohr. "Pantherin wider Pantherin!"

Barbey selbst bleibt auch mysteriös, ständig scheint er verborgenen Beweggründen nachzuspüren, aber man weiß nie, ob er sie eigentlich gefunden hat. Am Ende bleibt, wie so oft, Bewunderung für und Genuß an der Sprache und ihren Möglichkeiten, Barbey hat Sprachkünstler wie Proust und Henry James zu beeindrucken und zu inspirieren gewußt.

Manchmal bizarr, immer interessant. Seine Essays und Aphorismensammlungen haben offenbar einen etwas dubiosen Ruf begründet, der in D durch die Veröffentlichungen bei Matthes & Seitz ggf. Korrekturen erfahren darf - Fundstück:

"Von dieser Sammlung von Aphorismen geht etwas Bezwingendes aus: Man liest, hält inne. Betrachtet Ideen wie kostbare Bilder, darin eröffnen sich neue Welten, glasklar. Es gelang ihm vortrefflich, die Menschen zu schockieren, nur eines blieb ihm, zum Glück, verwehrt: 'Das schönste Schicksal: Genie haben und unbekannt sein.'" (Susanne Mayer, Zeit, 3. April 2008)

Bei Matthes & Seitz finden sich zwei Aussagen zu Barbey:

"Seine Bizarrerien waren nie gemein. Er war exzentrisch und hatte doch ein ausgeglichenes Naturell. (...) Barbey d'Aurevillys Stil hat mich stets verblüfft. Er ist ungestüm, feinsinnig und brutal. (...) Er betonte bei jeder Gelegenheit seinen Glauben, bekannte ihn aber am liebsten durch Lästerung." (Anatol France in seinem Nachruf)

"Die ambivalente Poetik des Jules Barbey d'Aurevilly besteht aus der skeptischen Ferne zum politischen Menschen einerseits und der fiebrigen Neugier auf Abgründe des kreatürlichen und spirituellen Menschen andererseits. Aber gerade in diesem zweiten Punkt liegt die ungeheure Modernität Barbeys." (Neue Zürcher Zeitung, November 2008)

Aber ich nähere mich "A Hell Of A Woman" an, versprochen. :)






d'extraits admirables




Das Wachen eines menschlichen Wesens - und sei es auch nur ein Wachtposten -, wenn alle andern Lebewesen in jene Betäubung versunken sind, wie sie der erschöpften Kreatur eigen ist, hat stets etwas Ehrfurchtgebietendes. Aber daß man nicht weiß, warum irgend jemand hinter den geschlossenen Vorhängen eines Fensters wacht, wo die Lampe von Leben und Denken kündet, gesellt zu der Poesie des Traumes die Poesie der Wirklichkeit. Ich jedenfalls habe niemals in einer Stadt, durch die ich fuhr, ein zur Nachtzeit erleuchtetes Fenster sehen können, ohne an diesen Lichtrahmen eine ganze Welt von Gedanken zu heften, ohne zu meinen, hinter jenen Vorhängen geschähen Liebkosungen und Tragödien...


Der Mund öffnete sich ein wenig... doch die schwarzen, die unergründlich schwarzen Augen, deren lange Wimpern fast an die meinen rührten, schlossen sich keineswegs, sie zuckten nicht einmal; aber in ihrer Tiefe, wie über Albertes Mund, sah ich den Wahnsinn huschen!


Ich begriff das Glück derer, die sich verbergen. Ich begriff den Genuß eines Geheimnisses zu zweit, das, auch wenn keinerlei Hoffnung auf Gelingen besteht, unverbesserliche Verschworene schafft.


"Ah! Ich bin Ihnen nicht deutlich genug?" fragte Ravila mit einem Anflug von Spott. "Ja, sie war brünett, das heißt: ihr Haar war schwarzbraun bis tiefschwarz wie spiegelndes Ebenholz: nie wieder habe ich dergleichen sich wollüstig über einem Frauenkopf wölben sehen; doch ihre Gesichtsfarbe war die einer Blonden - und es kommt auf die Gesichtsfarbe und nicht auf die des Haares an, wenn man entscheiden will, ob eine Frau dunkel oder blond sei", fügte der große Beobachter hinzu, der die Frauen nicht nur studiert hatte, um ihre Bildnisse zu entwerfen. - "Sie war eine Blonde mit schwarzem Haar."


"Sie war wie eine Löwin unbekannter Gattung, die da meint, Klauen zu haben, und die, wenn sie sie brauchen will, erkennt, daß sie nichts als unbewaffnete Samtpfötchen hat. Sie versuchte mit Samt zu kratzen."


Was ihre Augen betrifft, so konnte ich sie nicht beurteilen, da sie starr auf die Pantherin gerichtet waren, auf die dadurch zweifellos ein magnetischer und ihr unangenehmer Einfluß ausgeübt wurde; denn obwohl sie an sich schon reglos dalag, schien sie noch desto tiefer in starre Unbeweglichkeit zu versinken, je länger die Frau, die hergekommen war, um sie sich anzuschauen, sie anstarrte; und - wie alle Katzen angesichts eines sie blendenden Lichtes - ließ die Pantherin, ohne den Kopf auch nur um Haaresbreite zu bewegen, ohne daß die feinen Spitzen ihrer Schnurrhaare auch nur gebebt hätten, nachdem sie eine Zeitlang geblinzelt hatte, langsam die beiden grünen Augensterne hinter den Kulissen der Lider verschwinden. Das Tier schloß sich ab gegen alles.


"Aha!" flüsterte der Doktor mir ins Ohr. "Pantherin wider Pantherin! Aber die Seide ist stärker als der Samt!"


Und er hatte richtig gesehen, der Doktor! Schwarz, geschmeidig, von ebenso starkem Gliederbau, ebenso königlicher Haltung; die Dame, die Unbekannte, war in ihrer Art genauso schön und von einem noch beunruhigenderen Zauber erfüllt, sie war eine menschliche Pantherin, die vor der tierischen Pantherin stand und ihr überlegen war; und das hatte das Tier sicherlich gespürt, als es die Augen schloß. Aber die Frau begnügte sich nicht mit diesem Triumph, sofern es einer war. Es fehlte ihr an Edelmut. Sie wollte, daß die Rivalin sehe, wer sie demütigte, und daß sie die Augen wieder öffne, um es zu sehen. Daher nestelte sie stumm das Dutzend Knöpfe ihres violetten Handschuhs auf, der ihren herrlichen Unterarm voll zur Geltung brachte, steckte waghalsig die Hand zwischen zwei Käfigstäben hindurch und schlug mit dem Handschuh die Pantherin auf das Maul, die nur eine einzige Bewegung machte... aber was für eine Bewegung! ... und zuschnappte, blitzschnell! ... Ein Aufschrei gellte aus der Gruppe: wir alle hatten nichts anders gemeint, als daß die Hand verloren sei: aber nur der Handschuh war es. Die Pantherin hatte ihn verschlungen.


Ich hatte bereits gemerkt, daß glückliche Menschen ernst zu sein pflegen.


Die Liebe beherrschte alles, erfüllte alles, tötete alles in ihnen, das Moralgefühl und das Gewissen - wie ihr es nennt; und wenn ich sie mir ansah, diese beiden Glücklichen, dann begriff ich den Ernst im Scherzwort meines alten Freundes Broussais, wenn er vom Gewissen behauptete: 'Seit dreißig Jahren stehe ich am Seziertisch, und nicht einmal das Ohr dieses Tierchens habe ich entdeckt'.


"Ach!" entgegnete Doktor Torty. "Sie meinen, da sei die Fehlstelle, die Rache des Schicksals, und das, was Sie die göttliche Vergeltung oder Gerechtigkeit nennen? Nein, sie haben niemals Kinder gehabt. Erinnern Sie sich? Einmal war mir eingefallen, daß sie nie welche haben würden. Sie lieben sich zu leidenschaftlich ... Das Feuer, das verzehrt und vernichtet, bringt nichts hervor."


An einem Abend des vergangenen Sommers war ich bei der Baronin de Mascranny, einer jener Pariserinnen, die den Geist, wie er früher gepflegt wurde, über alles schätzen und dem wenigen, was heutzutage noch davon übrig ist, beide Flügel - einer würde genügen - ihrer Salontür öffnen. Hat sich der Geist nicht unlängst in eine anspruchsvolle Bestie verwandelt, die den Namen "Intelligenz" führt?


Von Romanen sprechen bedeutet dasselbe, als erzähle jedermann aus seinem eigenen Leben.


Was man nicht weiß, verstärkt den Eindruck dessen, was man weiß, um vieles.


"Ich bin überzeugt, daß für gewisse Seelen im Betrügen Genuß liegt. Es liegt eine furchtbare, aber berauschende Glückseligkeit in dem Gedanken, daß man lügt und betrügt; in dem Gedanken, daß einzig man selbst um sich weiß und daß man der Gesellschaft eine Komödie vorspielt, durch die sie genarrt wird und deren Inszenierungskosten man durch alle Wollüste der Verachtung wieder hereinholt."


"Wenn die Worte 'teuflisch' oder 'göttlich' zur Bezeichnung der Intensität der Genüsse gebraucht werden, so drücken sie das gleiche aus, nämlich Empfindungen, die ans Übernatürliche grenzen."


"Das eben ist die Phantastik des Wirklichen", sagte ernst der Arzt.


Sie glichen jener Neapolitanerin, die zu sagen pflegte, ihr Sorbet sei zwar gut, aber er würde ihr noch besser schmecken, wenn sein Genuß eine Sünde wäre.


Ganz allgemein kann man sagen, daß alle Herrenessen, bei denen nicht der harmonische Geist einer Hausherrin den Vorsitz führt, bei denen nicht der beschwichtigende Einfluß einer ihre Anmut verschwendenden Frau sich wie ein Zauberstab auf die plumpen Eitelkeiten, die herausgeschrienen Ansprüche, den blutigen und blöden Zorn auswirkt, wozu sich selbst Leute von Geist hinreißen lassen, wenn Männer unter sich bei Tisch sitzen - daß fast alle Herrenessen eine schreckliche Ansammlung von Persönlichkeiten sind, und dazu neigen, auszugehen wie das Gelage der Lapithen und Kentauren, an dem wahrscheinlich ebenfalls keine Frau teilgenommen hat. Der Egoismus, der "nicht zu verbannende" Egoismus, den unter liebenswürdigen Formen zu verhüllen die Kunst der Gesellschaft ausmacht, stemmt nur zu bald die Ellbogen auf den Tisch und wartet darauf, sie einem über kurz oder lang in die Rippen zu stoßen.


... und selbst am Rande des offenen Grabes sind sie stets bereit, ihre Schnauzen in den Fraß der Selbstgefälligkeit zu stecken!


In wahrhaft starken Persönlichkeiten lebt etwas, und sei es auch nur ein Atom, das sich der Umwelt entzieht und ihrem allmächtigen Wirken Widerstand leistet.


Sicherlich hatte eben jener Teufel in einem Wahnsinnsanfall auch Rosalba geschaffen [...] Rosalba war genauso schamhaft, wie sie wollüstig war, und das Sonderbare ist, daß sie beides gleichzeitig war.


Man wurde ihrer nicht überdrüssig. In das Gefühl, das seine Grenzen hat, wie die Philosophen in ihrem infamen Kauderwelsch sagen, brachte sie das Unbegrenzte, das Unendliche! Nein, wenn ich von ihr gegangen bin, so ist es aus einer Art moralischen Ekels heraus geschehen, aus Stolz, was mich, aus Verachtung, was sie betrifft, sie, die mich auf dem Höhepunkt ihrer wahnwitzigsten Liebesbezeigungen nie dahin gebracht hat, zu glauben, daß sie mich liebe...


Sahen diese Atheisten endlich ein, daß, wenn die Kirche einzig dazu da wäre, Herzen zu empfangen - tote oder lebendige -, mit denen man nichts mehr anzufangen wüßte: daß das bereits etwas hinlänglich Schönes wäre?


Die übersteigerte Zivilisation beraubt das Verbrechen seiner erschreckenden Romantik und gestattet dem Schriftsteller nicht, sie ihm wieder zu verleihen. Das wäre zu gräßlich, sagen die Seelen, die alles, selbst das Grauenhafte, verniedlichen wollen.


Tressignies, der der Meinung war, sie werde in die Rue de la Chausée-d'Antin einbiegen, die im Glanze ihrer tausend Gaslampen strahlte, gewahrte zu seiner Überraschung, daß dieser gespreizt einherschreitende Kurtisanenluxus, diese schamlose Hoffart einer von sich selbst und ihren Seidenkleidern berauschten Dirne, sich in die Rue Basse-du-Rempart verlor, die damals der Schandfleck des Boulevards war!


Und Mesnilgrand schnippte ein Stück Orangenschale auf das Sims, gerade über den Kopf des Volksrepräsentanten Le Carpentier hinweg, der den des Königs hatte abschlagen lassen.


Sie war so radikal wie nur möglich verschwunden.













(erstveröffentlicht / first published 27.06.2011)

Fotos und Bearbeitung C.E.














Freitag, 11. Oktober 2019

Die Frau in Weiss













SPIEGEL ONLINE Forum

"Literatur - Was lohnt es noch, zu lesen?"

August 2006 





V.G.E.:
Wilkie Collins, irgendjemand???





Und ich schäme mich dessen nicht! "Die Frau in Weiß" überfiel mich, als ich 15 war, seitdem beneide ich, neben Pferdeknechten an australischen Mädchenpensionaten um 1900 (aber das ist jetzt "Picknick am Valentinstag"), englische Zeichenlehrer. Damals schien mir die Gestalt des Conte Fosco extrem unheimlich – trotz beleibter Präsenz völlige Ungreifbarkeit, genial, dunkel, böse, brillant. In einer Verfilmung von 1948 wird Fosco von Sydney Greenstreet gespielt, Marian Halcombe von Alexis Smith und Laura Fairlie / Anne Catherick von Eleanor Parker – wird dem komplexen Buch natürlich nicht gerecht, ist als Film jedoch sehr spannend und sehr schön besetzt, Curt Bois erscheint als der arme Louis, special Blitzableiter für das exzentrische Leiden Frederick Fairlies, der sein zerrüttetes Nervenkostüm rhetorisch ziseliert zur Schau stellt. Gerade dieser Film löst das seltsame Dreiecksverhältnis zwischen Walter, Marian und Laura überraschend auf - indem er es eben nicht auflöst, und die Schlußszene erinnere ich, gerade wegen ihrer lächelnden Harmonie, als durchaus gewagt. Ein Buch, das ich immer lieben werde, genau wie Stokers "Dracula", das ja ähnlicher Erzähltechnik frönt. Kommen wir jetzt zu Charles Dickens?
"Ich hatte die Fähigkeit, mich zu wundern, offenbar verloren. In der Welt des Stoffes gab es nichts das Erstaunen wertes, außer Dora Spenlow."