Montag, 8. April 2013

Babel / Sanjuro
















SPIEGEL ONLINE Forum "Lieblingsfilme - Was ist großes Kino?"

Juli 2010 





ray05:
In Babel [2006] von Alejandro González Iñárritu, den ich mir gestern abend im WDR-TV ansah, wird die These durchdekliniert, dass es kein "globales Dorf" geben kann, das auf "Kommunikation" aufgebaut ist, weder Face-to-Face noch hochtechnisiert vermittelt, sondern nur eins, das die monadischen Individuen in einer Art "Umarmung im Schmerz" existenziell verbindet. Nicht mal der Vorteil einer gemeinsamen Sprache und schon gar nicht die Tatsache, dass wir heute in Quasi-Echtzeit zwischen Hamburg und München oder zwischen Tokio und LA irgendwie "kommunizieren" täuscht also darüber hinweg, sagt der Film, dass wir im Grunde immernoch die gleichen armen Schweine sind wie zu Kain & Abels und Hiobs Zeiten. Auf uns selbst zurückgeworfen und existenziell verlassen. :) Ein Verstehen des Anderen gibt es nur in der gemeinsamen Erfahrung der Not und des damit verbundenen Schmerzes, sagt der Film, der Rest ist Illusion.








Ja, so sagt der Film vielleicht. Vielleicht sagt er aber auch nur, daß alles, was uns auseinanderbringt, die Vorstellungen sind, die wir voneinander haben und übereinander hegen, Images, die so gut wie immer falsch sind und eine endlose Kette von Mißverständnissen produzieren.
 

Andererseits sagt der Film aber auch ganz nach Zizek und Erdmann *g* : alles mit allem verbinden, weil alles mit allem verbunden ist.
 

Wer nach diesem Film Brad Pitt als "primär Schönling, als Schauspieler nicht der Rede wert" qualifiziert, redet einfach Brölk. Kein Film, der mein "Lieblingsfilm" werden könnte. Aber einer, der einem elend unter die Haut geht, Szene für Szene. Weil er im Zeigen der Distanz zwischen den Menschen eine Nähe zu ihnen herstellt, die ihresgleichen sucht. Fühlst Du Dich nicht, als hättest Du Cate Blanchetts blut- und dreckverklebtes Haar berührt? 








Poppins, Mary: 
"Babel" ist wahrhaftig ein Film, wo wir alle klein werden angesichts der Ungerechtigkeit der Welt: Die Szene, eine von vielen, wo Pitt am Ende, wo sie gerettet werden, seinen Gastgebern und Helfern dankend Geld zustecken will und der Mann abwinkt, es nicht annimmt, hat mich irgendwie gerührt: denn wenn wir alle auf das Allzumenschliche zurückgeworfen werden, dann zeigt sich wahre menschliche Größe, ich glaube Schiller würde sagen "Der Adel großer Seele zeigt sich in der Not".

Sonst kann ich nur Aljoscha zustimmen (schön, "Sie" wieder zu lesen).
Liebe Grüße 








chevy57:
Zitat von Aljoscha der Idiot 
Andererseits sagt der Film aber auch ganz nach Zizek und Erdmann *g* : alles mit allem verbinden, weil alles mit allem verbunden ist. 

Hat die Kanzlerin nicht neulich etwas ganz ähnliches verlauten lassen? Euer Einfluss auf die Realpolitik scheint doch intensiver zu sein, als ich vermutet hätte. ;)








Keine Ahnung, höre grundsätzlich nie auf irgendwas, das die Kanzlerin verlauten läßt. Zeitverschwendung, man lebt schließlich nicht ewig. Kürzlich "Sanjuro" von Kurosawa gesehen. Aus der Serie "Ah fuck. I can't believe you've done this":

Ebenso epochal betont der Film auch Nylonstrümpfe als unverzichtbar. In einer ähnlich berühmten Szene dieser phantastisch photographierten Schwarzweißperle galt es, eine einzelne Blüte in einem strömenden Flüßchen zu filmen. Um die zu dirigieren, überlegte man, sie an Klavierdraht zu befestigen, aber die Gefahr bestand, daß das Licht auf dem Draht reflektiert. Eine Kostümdesignerin am Set kam dann auf die Idee, einen Nylonstrumpf zu opfern, um die Blüte am festen, im Film aber nicht sichtbaren Nylonfaden zu befestigen. Es funktionierte, und Kurosawa fühlte ein unbeschreibliches Glück darob. Zen.



Zitat von Poppins, Mary 
Sonst kann ich nur Aljoscha zustimmen (schön, "Sie" wieder zu lesen).
Liebe Grüße
 

Eh, arigato :)






















Dienstag, 26. Februar 2013

Anna Domino






"The Hunter Gets Captured By The Game ging ihm im Kopf herum, die russische Weise vom Tölpel, der sieben Tölpel übertölpelt, in der Version von Anna Domino, der subtilen Chanteuse. Während er sich also dem Hauptgebäude näherte und voluminöse Wassertropfen von den Zweigen der schon blätterlosen Bäume auf sein Haar fielen, stand im Säulenportal des Hauptgebäudes eine Frau, die ihren Schirm aufspannte. Dann trat sie hinaus in den Regen."


Christian Erdmann, Aljoscha der Idiot




 


Around the time of Cat People. In einem Szene-Magazin fand ich diesen Text:


Erwachen. Orientierungslosigkeit. Unter der Bettdecke die Hitze des Orients. Eiswürfel in den Mund. Der Körper wird steif - Autobie. Der Zug Hamburg - Paris nähert sich Brüssel. Geduckte Häuser wie bei Lovecraft. Am Bahnsteig stehen einige niedere Chargen aus dem NATO-Hauptquartier, ein verruchtes Wochenende in (Tout)rist-Paris steht ihnen bevor. Ich denke an den 4.4.49 und setze den Walkman auf - Sixteen Tons von Anna Domino - und pfeife auf Paris und verlasse den Zug und suche Anna Domino. Hier in ihrer Stadt, hier in Brüssel. You sent a signal / strong and true enough / love rose up from its sleep ... diese Stimme macht süchtig. In einer Fritten-Bude bewirtet mich ein alter Japaner. Tiere im Taxi. Er kannte sie noch als kleines Gör in Tokyo. Vielleicht sei sie ja auch mit Karl Roßmann in New York und entwerfe wieder Kostüme für Rock-Videos. Im übrigen sollte ich doch die Depro-Men von Tuxedomoon oder zumindest Blaine Reininger aufsuchen, die wüßten Bescheid. Dann fragte er mich, ob ich den Witz kennen würde von dem Belgier, der auf dem Eiffelturm die Rue Stalingrad suchte. Den Witz kannte ich nicht. Alle Gäste lachten, und einer fragte mich, ob ich den Witz von dem Deutschen kennen würde, der in Brüssel in einer Schnell-Fresse stand. Anna Domino, am 21.4. um 21 Uhr im Kir_____________







Kein Hinweis auf den Verfasser. Kein Bild. Der Text stand rätselhaft auf Seite 125, auf einer ansonsten weißen Seite. Viel Weiß. Weiß war der Staub, den ich einmal auf einer Zugfahrt durch Belgien auf einer alten Fabrik liegen sah, und als der Zug daran vorbeirollte, dachte ich: wie bei Lovecraft. Wenn es also zwei Menschen gab, die bei Zugfahrten durch Belgien an Lovecraft dachten, und einer davon war ich, dann gab es guten Grund, dem anderen zu trauen. Erst recht, wenn er in einem Promotext Karl Roßmann unterbringt.

Während der mysteriöse Text mit "Erwachen" begann, fiel ich, nachdem ich ihn gelesen hatte, in Schlaf. Es gab kein Internet, keine Möglichkeit, sofort mehr über Anna Domino zu erfahren. Stattdessen träumte ich, daß ich in einer Bar sitze und ein Szene-Magazin durchblättere. Auf dem Barhocker neben mir sitzt eine vollkommen zauberhafte Frau, die mich anspricht, schon nah bei mir: "Darf ich sehen?", sie meint das Titelbild, sie schaut es sich an, ich schaue es mir an, wir schauen uns an, das Funkeln in ihren Augen, sie sitzt sehr aufrecht auf ihrem Barhocker, und ich vergleiche ihr wunderschönes Gesicht mit dem Gesicht auf dem Titelbild, denn es ist dasselbe Gesicht, und wir ertrinken in Verlangen, als ich ihr das Magazin aus der Hand nehme. Sie hat ihre Hand wie zum Gruß erhoben, meine Hand liegt an ihrer, unsere Finger spielen miteinander, die ganze Zeit, während wir uns in die Augen sehen, das Schicksal sagt: es liegt in deiner Hand. Sie hat lange und kurze Haare zugleich, sehr kunstvoll. Dann sehe ich, daß an ihrer anderen Hand zwei Finger verbunden sind.
"Wie ist das passiert?"
"Ich habe bei einer Geburt geholfen. Oh, arme Elise. Es war furchtbar anstrengend für sie. Ich habe sieben Tote herausholen müssen vorher."
Es war die Vega-Bar.

Am nächsten Tag besaß ich "Anna Domino" von Anna Domino. Und die subtile Chanteuse half Aljoscha bei einer Geburt mit sieben Toten.











I wanna step out of the shade of a place
That's half aware but never truly wakes
I know there is
More to love than this
I know courageous stranger places
Every movement forward must be right
The process is the purpose








I know the station
I go there every night
Dreaming of leaving








Chosen by the dealer's hand
Answering a higher call
A hint to us of bigger plans
Sudden rise and early fall
Emotions are the facts
The real world sorely lacks
With the agents of a promise above them
And the precipes in view
And the place of the chosen ones
Is in the safety of the tower


















 Half of myself would sell my soul
Everything else says wait / control
Half of myself speaking and the
Other half goes on dreaming










 








Faszinierende Melange aus Coolness und Verletzlichkeit, out of step with the rest of the world.


Frank Lähnemann traf Anna Domino für die spex, irgendwann vor "This Time". Auszüge: 

"Das Leben beginnt mit einem gebrochenen Herzen", weiß Anna Domino, die zierlich-zerbrechliche Interpretin spannungsgeladener Nachtgesänge aus Brüssel, auch allein. Nachtmenschen scheuen nicht nur das Licht, sondern auch das Leben in aktiver Form. Wenn die Dunkelheit hereinbricht, dann beginnt dafür ihr Gehirn auf Hochtouren zu arbeiten. Nachtmenschen betätigen sich als stille Beobachter und bereiten sich auf diese Weise auf den Tag vor, den sie so fürchten. Das Leben spüren sie aus der Distanz. Für diese Spezies ist Anna Domino - "Watch The World At Night / Edge Up Against The Lives" - ein klassisches Beispiel. [...] Nervös fingert sie an ihren Zigaretten, ehe der Redeschwall auf mich niederprasselt. Manchmal hält sie abrupt inne, gibt eine Kostprobe ihres trockenen Humors, lacht sympathisch schüchtern und sucht verzweifelt nach den richtigen Worten, ein häufig erfolgloses Unterfangen. Anna Domino kämpft, und keiner merkt's.

"Jeder hat eine Haltung, nur wenn du schüchtern bist, dann behältst du sie eher für dich. Es ist aber nicht so, daß du keine hast, das denken nur die anderen. Meine erste Platte war viel furchtsamer als meine letzte, und die Leute hielten mich für sensibel. Aber in Wirklichkeit war das alles sehr kalt."

Coolness? Distanz? Reduktion? Irgendwann hatte ich über meine Gesprächspartnerin mal gelesen, daß sie sich eine Band wünsche, in der jeder so wenig wie möglich spielt. Die Musik ist bei ihr, genau wie das Vokabular (und sind noch so verletzte Gefühle das Thema), auf ein Minimum beschränkt. Eiswürfel, die Flammen entfachen.

[...] Natürlich wird man nicht als Anna Domino geboren. Auch nicht in Tokio. Eher schon als Anna Taylor. Von Japan kam sie nach Kalifornien und Detroit, ging danach mit ihrer Mutter nach Italien, landete dann in Norwegen... ach, so genau weiß sie es auch nicht mehr. Jedenfalls besuchte sie irgendwann eine Art School in Kanada, wechselte nach New York, bis sie ein Flugticket, spendiert vom Chef des Labels "Les Disques du Crépuscule", nach Brüssel beförderte. Zum Gesang kam sie erst sehr spät. Mit 12 Jahren traktierte sie ihre erste E-Gitarre, spielte in etlichen kleinen Combos und nahm für sich selbst Tausende von Tapes auf.

[...] Erwarten tun insbesondere die Kritiker eine Frau, die zwar nicht unbedingt die personifizierte Laszivität ist (...), aber doch jede Menge Erotik ausstrahlt. Während des Soundchecks fiel mein Blick kurz auf den Oszillographen. Was sich dort abzeichnete, war alles andere als abgehackt, es waren wohlig vor sich hin wogende Wellen, die ich dort erspähte.

"Wenn die Leute sich den Text von 'My Man' durchlesen, sagen sie meist: 'Aha, du liebst es, geschlagen zu werden.' Nein, das habe ich nicht gemeint. Das Stück ist über eine Liebe, an die man so stark glaubt, daß man sich ihr ganz unterwirft, egal, ob es nun die Liebe zu einem anderen Menschen, zu einem Land, zu einem Idol oder einer Band ist. Man verliert die Kontrolle, das ist wie eine Art Religion. (...) Die Welt ist sehr intolerant und realistisch in bezug auf exzessives Verhalten. Was ja ein sehr emotionelles Verhalten ist. Künstler leben diese Emotionen zum Nutzen der gesamten Menschheit, stellvertretend für die anderen. (...) Es geht um den Gedanken, daß man auf der einen Seite ein wahres Genie und auf der anderen Seite ein kompletter Idiot ist. (...) Du weißt von früher Kindheit an, daß du nicht fähig bist, dich mit allen Tatsachen dieser Welt abzufinden, weil du vielleicht eine andere Sprache sprichst."



 









"The voice of the erotic, tense, despairing, Peggy Lee-meets-Nico, thinking woman - i.e., postmodern platinum." (Smart Magazine)




I can't say why, I won't say when
I'll ever find my place inside this race to win
There's nothing new in this dirty old town
My friends are all off somewhere else when I'm around














These things we feel they threaten to betray us










My favourite, von "Colouring In The Edge And The Outline". 

Lost in imaginary mystery
Away, a view that has no end
I'm alone without laws of time or gravity
And I can dream where reality can bend
And the light shimmers all around
And bolts of electricity release
Everywhere
Will wonders never cease?
And no-one comes here at all
Clouds roll back and the angels in the sky
Hover overhead about to fall
And radiant and terrified
Sending showers of sparks
They see it all
Reflected in my eyes
One thing leads to another and
Daylight into dark
This must be the way the world began
Before it lost the spark







"Mysteries of America":














Nach "Mysteries of America" schien Anna Domino zu den spurlos Verschwundenen zu zählen. 1999 war sie dann mit Michel Delory plötzlich zurück in der Welt; zwei Alben des Duos Snakefarm sind bisher erschienen, "Songs From My Funeral" und, 12 Jahre später, im Oktober 2011, "My Halo At Half-Light".













Und zwischendurch war sie noch einmal in der Vega-Bar. 2010 nahm Anna Domino den Song "Blood Makes Noise" auf. Er ist von Suzanne Vega.

Und noch ein Geheimnis: auf dem Tribute "Kerouac: Kicks Joy Darkness" von 1997 gibt es drei phantastische Momente: Johnny Depp liest "Madroad Driving", John Cale vertont "The Moon" - und Anna Domino mit Kerouacs "Pome on Doctor Sax".



























Sonntag, 24. Februar 2013

Iggy Pop: Home in Berlin

















Home in Berlin

I had a real home once. It was Berlin. I lived there for two years, well really just over that. I had a residence for two years with a girl named Esther. A lot of people don't know Berlin is a special city. There are just a few children and hardly any people in the middle ages. It is mostly young people and old people - old and young - and very little in between.

Music movements have been springing up there. That was very nice. It's like a fairy land. I found a whole deserted city. When the Germans lost the war, the Russians came in and all industry vanished, practically overnight, from Berlin. What remained was a whole city of beautifully constructed factory buildings - though smaller than what we would think of as a factory today. These were huge loft spaces - all built in the twenties and thirties, right? They had such wonderful designers. It's all free space, and that's why artists have flocked there.

When we practiced for The Idiot tour, David, I, the Sales boys and all the rest had an entire screening room in the old UFA studios, where they made all the movie greats - you know, like Metropolis. Fritz Lang worked there before the Nazis took it over. Many, many great films were made at UFA. They still had all these wonderful German Expressionist films just sitting in cans rotting, because they still can't figure out the politics of who should get them. You could smell the film slowly going bad.

I guess that's why I loved it: it was like being in a ghost town, but with all the advantages. As far as the police there, because it is a four power zone they have a totally laissez-faire attitude toward, shall we say, "cult behavior." And it's such an alcoholic city: someone is always swaying down the street. They also don't really care about drug traffic. Many laws are not enforced, and they have a very "Yes Sir, No Sir" attitude there. The local police were very polite and very sensible in the way they enforced the law. I shouldn't say that they don't care about drug traffic, rather they don't care about people having fun. And the city is open 24 hours a day. It's a tradition of Berlin, something left over from the swinging Berlin days. When one brace of clubs is closing the next brace is opening up. And this goes on around the clock.

Just in West Berlin alone, there are at least seven lakes, most of them connected by waterways - nice place to sail and swim; many nice places to sail and swim. There are also these villages you can go out to that are part of West Berlin - a very large area, very beautiful, just vast, vast areas of rinky dink villages full of strange old German people. We used to get lost; I like to go and get lost and be in places made of wood, just to totally wash every shred of America off, just to wash it all off. Taking a walk was like taking a shower, you know, just washing all the filth that my upbringing put into me. It can only be obvious to anybody who can find it - a ghost town of some size far away. It was a fascinating experience.











what does he see







"Home in Berlin" is an excerpt from: Iggy Pop w/ Anne Wehrer: I Need More, New York 1982, p. 95 ff.
Photo by Esther Friedman p. 97