SPIEGEL ONLINE Forum "Literatur - Was lohnt es
noch, zu lesen?"
Juli / August 2009
Haio Forler.
Zitat von Aljoscha
der Idiot:
Ihre
Interpretation des "Übermenschen" jedenfalls ist aus Nietzsche heraus
NICHT zulässig.
Aljoscha, bitte; verrate nicht alles. Es soll und
muß spannend bleiben. ;)
ray05.
Zitat von Aljoscha
der Idiot:
[...] Kunst
/ Kultur / Kultivieren / Selbstkultivierung
als lebensdienliche Alternative zur "Wahrheit" [...]
Immer ist
Sichhin- und drangeben und Sichbewahren zugleich - nur selten zu gleichen
Teilen. :)
Ich würde da noch einen "Zacken
draufsetzen" [P. Lahm] und die Selbstkultivierung Nietzsches als Beispiel
für einen "bicklhoarten" [H. Krankl], fundamentalästhetischen
Selbstversuch sonderbezeichnen. Wenigstens ab dem Zeitpunkt der Arbeit am
"Zarathustra" durchmaß Nietzsche die Metamorphose vom
ressentimentgeladenen, höchstens desillusionierten, Kritiker zum
"Übermenschen" am eigenen Leib; sich allen gesundheitlichen / mentalen
Konsequenzen dieses Schrittes bewusst aussetzend.
Wenn Nietzsche schmerzgebeugt, aber triumphierend
und frohlockend den "Zarathustra" runterschreibt, ist das der Wille
zur Macht über sich selbst, der Wille zur fundamentalästhetischen Identität.
Das "gefährliche Denken" wird eins mit dem "gefährlichen
Leben" wird eins mit dem "gefährlichen Schreiben" = Stil, weil
Leben um des Lebens Willen im gleichen Maße gefährlich ist, wie Leben um des
Erlebnisses Willen ungefährlich und touristisch ist:
"Fundamentalästhetisch" bedeutet nichts anderes als das Leben in der
Tatsache, dass Stil gleich Ausübung von Macht und das Ziehen der Konsequenzen
daraus ist.
Aljoscha
der Idiot.
Ja. Man muß mit geradezu methodologischer Penetranz den
"Übermenschen" mißdeuten, um Nietzsche überhaupt als
"Schwächling" bezeichnen zu können. Man muß auch eine ziemlich
alberne Vorstellung davon haben, was Schreiben bedeutet. Was es in einem Leben
bedeuten kann. Was es darüberhinaus bedeutet, derart zu investieren, derartige
Opfer zu bringen. Sich derart vorzuwagen, sich derart auszusetzen wie
Nietzsche: das ist kein Scheitern im Vergleich zu einem von Nietzsche selbst
Postulierten, das ist punktgenaue Erfüllung.
oliver
twist aka maga.
Zitat von BerSie:
Was hat "Rope" mit Nietzsche zu tun? Das Motiv der beiden
Mörder war wohl so etwas wie spätpubertärer Größenwahn. War übrigens ein
Experiment - der Film. Hitch wollte den "echtzeitmäßig" in einem Take
aufnehmen. Ging allerdings damals noch nicht, da die Länge der Filmrollen nur
eine knappe halbe Stunde erlaubte...
Aber das hat nichts mit Nietzsche zu tun! ;)
Doch, es geht in dem Film um das von jeglicher
Moral, "jenseits von Gut und Böse" stehende
"Übermenschentum".
Aljoscha der Idiot.
Dear Oliver Twist,
nein, es geht um ein paar Leute, die Nietzsche mißverstehen. :)
Ihr Copperfield
oliver twist aka maga.
Dear Mr. Copperfield,
wahrscheinlich ist es nicht schwer, anhand des Nicks
meinen Lieblingsschriftsteller zu erraten. :-)
Natürlich haben die beiden Studenten Nietzsche
missverstanden. Der Übermensch ist ja nicht einfach ein ethisch schlecht
handelnder Mensch, sondern die Beurteilung seiner Taten entzieht sich
Kategorien wie gut und böse. Dennoch sollte man Nietzsche auch von seiner
Wirkungsgeschichte her sehen, genauso wie man es bei Marx und anderen
Philosophen / Literaten tun sollte. Und die Wirkungsgeschichte von Nietzsche
ist hochgradig problematisch, wenn man sich das 20. Jahrhundert vor Augen
führt.
Anmerkung 1: Haben Sie als Nietzsche-Kenner die
Biographie von Safranski gelesen? Sie steht bei mir im Regal und "wartet"
darauf, gelesen zu werden.
Anmerkung 2: Mich wundert, dass wir uns hier mit
Nietzsche und Thomas v. Aquin beschäftigen und nicht mit dem Philosophen des 20. Jahrhunderts, Karl Popper. Wird Popper
unmodern? ;-)
Beste Grüße auch an Mr. Dick und Mr. Traddles
Ihr Maga
Aljoscha der Idiot.
Gelesen ja. Aber alles vergessen. :) Hatte es damals aus der Bibliothek,
auch rechtzeitige Rückgabe vergessen. Denn schließlich, "Ich hatte die
Fähigkeit, mich zu wundern, offenbar verloren. In der Welt des Stoffes gab es
nichts das Erstaunen wertes, außer Dora Spenlow." :)
Über die angebliche Vorläuferschaft zum Dritten Reich läßt sich Safranski
nicht groß aus, angenehm unvoreingenommen. Fasziniert ist Safranski vom "Zweikammersystem",
von dem Nietzsche in "Menschliches, Allzumenschliches" spricht, und die Passage kann ich zitieren. :)
"Zukunft der Wissenschaft. ... Deshalb muß eine höhere Kultur dem
Menschen ein Doppelgehirn, gleichsam zwei Hirnkammern geben, einmal um
Wissenschaft, sodann um Nicht-Wissenschaft zu empfinden: nebeneinanderliegend,
ohne Verwirrung, trennbar, abschließbar; es ist dies eine Forderung der
Gesundheit. Im einen Bereiche liegt die Kraftquelle, im anderen der Regulator:
mit Illusionen, Einseitigkeiten, Leidenschaften muß geheizt werden, mit Hilfe
der erkennenden Wissenschaft muß den bösartigen und gefährlichen Folgen einer Ueberheizung
vorgebeugt werden." (I / 251)
Nietzsche weiter: "Wird dieser Forderung einer höheren Kultur nicht
genügt, so ist der weitere Verlauf der menschlichen Entwicklung fast mit
Sicherheit vorherzusagen: das Interesse am Wahren hört auf, je weniger Lust es
gewährt; die Illusion, der Irrtum, die Phantastik erkämpfen sich Schritt für
Schritt, weil sie mit Lust verbunden sind, ihren ehemals behaupteten Boden: der
Ruin der Wissenschaften, das Zurücksinken in Barbarei ist die nächste Folge;
von neuem muß die Menschheit wieder anfangen, ihr Gewebe zu weben, nachdem sie
es, gleich Penelope, des Nachts zerstört hat. Aber wer bürgt uns dafür, daß sie
immer wieder die Kraft dazu findet?"
(Kann man nicht eigentlich aus dem Duktus schon einer solchen Passage
erkennen, was Nietzsche vom nationalsozialistischen Völkermord, aber auch von
der pseudowissenschaftlichen Rassenhetze, die diesen stützte, gehalten hätte?)
(Und auch von den Hitchcock-Studenten?). (Ich meine, schon.)
Safranskis Faszination für den Zweikammer-Begriff erinnere ich deshalb,
weil David Bowie vor langer Zeit mal in einem Interview ein Buch empfahl mit
dem Titel: "The Origin of Consciousness in the Breakdown of the Bicameral
Mind". Nie gelesen, aber Titel eingeätzt in den Bregen. :)
Ansonsten erinnere ich Safranski als sehr
gut lesbar; auch, wie er die besondere Bedeutung der Musik für Nietzsche hervorhebt,
fand ich sehr gut.
Mein Dickens-Favorit ist übrigens Sidney Carton, "A Tale of Two
Cities". Lektüre wird aber, Asche auf
mein Haupt, nicht unwesentlich durch die Verfilmung mit Dirk Bogarde, Dorothy
Tutin, Christopher Lee und Marie Versini (seufz) beeinflußt. :)
oliver twist aka maga.
Die "Tale of Two Cities" habe ich als sehr
schöne Ausgabe 1983 auf einer Klassenfahrt in Prag günstig erworben. Im
Ostblock hatten sie zum Teil sehr viel schönere Bücher als im
"Westen". Den Film kenne ich leider nicht. Mein Lieblingsbuch ist
tatsächlich Copperfield - ich wollte mir den Nick nicht geben, weil man mich
dann für einen Magier gehalten hätte :-) -, aber Dora Spenlow wie auch Agnes
Wickfield und zahlreiche andere Frauenfiguren, mit Ausnahme von Copperfields
Tante und Miss Murdstone, habe ich immer als eher schwach empfunden. Dickens
hatte m. E. kein Talent für interessante Frauengestalten.
Den Safranski sollte ich lesen. Ich denke auch, dass
Nietzsche eine komplexere Figur war, dass seine Religionskritik - im Gegensatz
zu der vieler anderer Kritiker - sehr bedenkenswerte Elemente in sich trägt und
dass man ihn natürlich nicht einfach als geistigen Vorläufer des Nazismus
brandmarken sollte. Dennoch ist er sowohl von seinem Ansatz her als auch
wirkungsgeschichtlich nicht unproblematisch. Zugleich ist Nietzsche zweifellos
eine imposante Figur und auch literarisch ein viel höherer Genuss als etwa ein
Kant, ein Hegel oder ein Heidegger. (Weiß der Himmel, warum deutsche
Philosophen oft meinen, sie müssten besonders unverständlich und scheußlich
schreiben, um ihre Gedanken kundzutun?).
Aljoscha der Idiot.
Ich habe meine "Tale of Two Cities"-Ausgabe (mit Illustrationen
von A. A. Dixon) aus Kopenhagen! Da gibt es einen "Booktrader" im
Universitätsviertel, bei dem ich im Laufe einiger Jahre fast einen Meter
englische Literatur through the ages in wunderschönen, alten, gebundenen
Ausgaben zusammengetragen habe, Chaucer von 1926, Robert Burns von 1856,
Wordsworth von 1914, Swinburne von 1873, Tennyson von 1906, Shelley von 1892,
die gesammelten Briefe von Shelley in zwei Bänden von 1914, Byron, Keats, die
ganze Bande, alles zu einem Spottpreis! Außerdem fand ich dort einmal ein 1972
erschienenes, französisches Buch mit Abbildungen von Werken des Malers Clovis
Trouille, den ich sehr liebe, sehr seltenes Exemplar, also ich kann einen
Besuch dort nur unbedingt empfehlen! Wie man -> hier sehen kann, war auch William
S. Burroughs mal da.
Das nur am Rande, zum Morgenkaffee! :)
ray05.
[an oliver twist aka maga]
Schau, es war ja gerade der, wie Du schreibst,
wissenschaftsgläubige, imperialistische Kontext, gegen den Nietzsche mit allem, was er hatte, ankämpfte. Und es war
darüberhinaus die "bürgerliche Gesellschaft" seiner Zeit mit ihrem
unausstehlichen Philistertum und ihren im Gewand der Moralhuberei daherkommenden
Ressentiments, gegen die Nietzsche
mit allem, was er hatte, anschrieb. Und es war der, ganz wichtig!, Untertanengeist
jener Zeit, gegen den Nietzsche mit
allem, was er hatte, anschrieb - jenen Untertanengeist, der ja in Heinrich
Manns Figur des "Diederich Heßling" fast schon zum Phänotypen wurde.
Nietzsche war OPPOSITION, mehr noch als das, was man
heute niedlich einen "Kulturkritiker" nennen würde; er lehnte all
das, was ein "monströses Weltbild" (Maga) als Zeit- oder
Epochensignet hätte sein können, FUNDAMENTAL AB. Er kann also gar nicht an diesem Weltbild, das Du als entscheidende
Beeinflussung der Nazi-Ideologie kennzeichnest, mitgewerkelt haben. ANDERE
haben da mitgewerkelt, diejenigen, gegen deren Auslegung seines Werkes sich
Nietzsche nicht mehr wehren konnte, weil er tot war ...
Nochwas, ein weiteres Mißverständnis scheint bei der
Beurteilung Nietzsches hinsichtlich "Nihilismus" und "Gott ist
tot" zu bestehen. "Nihilismus" KONSTATIERT Nietzsche als Folge
der Tatsache, daß wir Gott abgeschafft haben. Nietzsche hat Gott NICHT
abgeschafft ... :)
Nein, Nietzsche ist derjenige Denker, der uns Menschen
das Allerhöchste ZUTRAUT. In diesem Punkt ist er der Höhepunkt des Idealismus.
Er traut jedem einzelnen von uns zu, in einer gewaltigen Willens- und
Lebensleistung über uns hinauszuwachsen, unsere "Sklavenmoral"
zugunsten der "Herrenmoral" zu überwinden, also FREI zu werden. Fast
schon eine frohe Botschaft, oder. :)
oliver twist aka maga.
Ray, ich bin ja kein vehementer Anti-Nietzscheaner, wenngleich
ich ihn kritisch sehe. Was Du über ihn schreibst, ist in meinen Augen alles
richtig. Auch habe ich nicht behauptet, Nietzsche habe Gott abgeschafft. Was
ich als Christ als sehr problematisch ansehe, ist der innere Zusammenhang
zwischen der Abschaffung Gottes und der Überwindung der
"Sklavenmoral". Auch verhält es sich mit Nietzsche ähnlich wie mit
Marx. Auf Marx, der vom Absterben des Staates schrieb, beriefen sich jene, die
ein nie wieder erreichtes Maß an Staatsallmacht herbeigeführt haben. Zur Rezeptionsgeschichte,
erst recht zur Wirkungsgeschichte, gehören eben auch die falschen Rezeptionen.
Ein weiterer Punkt: Mich würde interessieren, wie
Nietzsche in unserer Zeit schreiben würde. Das Philistertum ist geblieben, nur
hat es inzwischen viele verschiedenen Facetten - das unterscheidet es vom
damaligen Philistertum. "Moralhuberei" - die Kritik daran ist auch
für einen Christen richtig, denn Christentum ist eben kein Moralismus - und
Untertanengeist existieren in allen politischen Lagern, in vielen Schichten.
Und der Diederich Hessling lebt ebenfalls weiter, wenn auch in veränderter
Form. Auch der in Dickens "Edwin Drood" beschriebene Philantrop, der
eigentlich ein Misanthrop ist. Warum ich bei der Figur immer an Michael Moore
denken muss? Jedenfalls glaube ich, dass Nietzsche die Heuchler schnell
entlarven würde.
Aljoscha der Idiot.
Zitat von hans-werner
degen:
Der Übermensch war
die Speerspitze dieser Bewegung
-> Sozialdarwinismus
Und an der
Diskussion nahmen alle bekannten Philosophen, Literaten und Wissenschaftler
Anteil.
Und ausgerechnet der
Professor Nietzsche soll davon nix gewußt haben... soll nicht gewußt haben,
dass der Begriff der Eugenik entstammt?
Treffer "Nietzsche" im Wikipedia-Artikel
"Sozialdarwinismus": 0
Treffer "Übermensch" im Wikipedia-Artikel "Sozialdarwinismus":
0
Aber, doch, Nietzsche hat eine Menge Dinge deutlich gesehen. Zum Beispiel,
1878:
"Beiläufig: das ganze Problem der Juden ist nur innerhalb der
nationalen Staaten vorhanden, insofern hier überall ihre Tatkräftigkeit und
höhere Intelligenz, ihr in langer Leidensschule von Geschlecht zu Geschlecht
angehäuftes Geistes- und Willens-Kapital in einem neid- und haßerweckenden Maße
zum Übergewicht kommen muß, so daß die literarische Unart fast in allen
jetzigen Nationen überhand nimmt – und zwar je mehr diese sich wieder national
gebärden -, die Juden als Sündenböcke aller möglichen öffentlichen und inneren
Übelstände zur Schlachtbank zu führen."
Herr Degen, Nietzsches "Der Starke" hat nichts mit irgendeinem
darwinistisch gedachten "Stärkeren" zu tun. Nietzsches "Der
Starke" meint Souveränität, nicht: Angewiesensein auf Demonstration der
Stärke. Ich glaube fest daran, daß dieser Unterschied auch in einem
fundamentalchristlichen Schädel ankommen kann. I have a dream.
KLMO.
Nach dem letzten Satz selten so gelacht...
chevy57.
Dem
kann ich mich nur unumwunden anschließen. Die Hoffnung stirbt zwar bekanntlich
zuletzt, aber in diesem speziellen Fall auf Einsicht bezüglich der eigenen
Voreingenommenheit, Ideologie-Hörigkeit und schlichter Unkenntnis zu hoffen ist
denn doch schon SEHR optimistisch.
hans-werner degen.
In Sozialdarwinismus
gefunden:
Eine besonders krasse, inhumane Variante des Denkens des
Sozialdarwinismus, die verbunden ist mit einer Verkennung der neuen höheren
Qualität des Menschen, ist die Philosophie Nietzsches. Eine besonders krasse
und praktizierte Form des Sozialdarwinismus ist der rassistische Faschismus,
besonders in seiner deutschen Variante mit der millionenfachen Vernichtung von
(angeblich) rassisch minderwertigen und kranken Menschen.
Im Ikonenmagazin
gefunden (3. Link)
Wer sich ernsthaft mit einer Ethik und Theorie des
Sozialdarwinismus auseinandersetzen möchte, ist mit Redbeard - vor allem aber
mit den eigentlichen Quellen dieser Strömung (etwa Nietzsche) - erheblich
besser bedient.
Den Faschismus auf Antisemitismus zu verengen, nur um
Nietzsche zu helfen, find ich impertinent.
Und hierauf keine Reaktion, nur Schweigen:
Auszüge aus "Der Antichrist"
"Es steht niemandem frei, Christ zu werden: man wird
nicht zum Christentum »bekehrt«, - man muss krank genug dazu sein."
"Die Schwachen und Missratnen sollen zu Grunde
gehen: erster Satz unserer Menschenliebe. Und man soll ihnen noch dazu
helfen."
Das ist Faschismus, der Faschismus des Nietzsche
Verehrers Duce... der Antisemitismus ist deutsche Beigabe eines unmenschliche
Konzepts.
river runner.
Zitat von Aljoscha
der Idiot:
Herr Degen, Nietzsches "Der
Starke" hat nichts mit irgendeinem darwinistisch gedachten
"Stärkeren" zu tun. Nietzsches "Der Starke" meint
Souveränität, nicht: Angewiesensein auf Demonstration der Stärke. Ich glaube
fest daran, daß dieser Unterschied auch in einem fundamentalchristlichen
Schädel ankommen kann. I have a dream.
Ich sehe, dass Herr Degen sich gegen Ihre Ausführungen
wehrt. Wenn Sie versuchen, einem alten Katholiken einen Autor als
empfehlenswert zu verkaufen, der Cesare Borgia als den letzten Papst sehen
wollte, konnte das nicht sofort den ersehnten missionarischen Erfolg haben.
Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, 61:
"Cesare Borgia als Papst ... Versteht man mich? ... Wohlan, das wäre der
Sieg gewesen, nach dem ich heute allein verlange -: damit war das Christentum
abgeschafft!"
Aljoscha der Idiot.
Pupertär
Du sollst nicht lügen, Herr Degen. Das steht nicht im Wikipedia-Artikel
"Sozialdarwinismus", sondern in Ihrem "Schul-Wiki"-link, in
unmittelbarer Nähe dieser Passage:
"Was bei einer solchen Übertragung vergessen bzw. nicht erkannt wird,
ist die neue, höhere Qualität, die der Mensch als bewusstes, vernunftbegabtes
Wesen (alle Schüler des Gk 12???) der übrigen Natur gegenüber darstellt. Wenn
auch die natürlichen Evolutionsgesetze im Verhalten des Menschen und in der
menschlichen Gesellschaft eine Rolle spielen, so müssen sie doch nicht das
Geschehen dominieren. (z.B. Balzverhalten und Trinkrituale am Oktoberfest;
militärisch, pupertäres Auftreten, Prestigedenken und ritualisierte
Machtdemonstrationen ...)"
Zitat von hans-werner
degen:
Den
Faschismus auf Antisemitismus zu verengen nur um Nietzsche zu helfen find ich
impertinent.
Man hat, um jene Teile der Hl. Schrift, in denen
Ressentiment sich verbal austobt, überhaupt als annehmbar zu rechtfertigen,
genau von dem auszugehen, was Taureck über Nietzsche sagt: Bilder. Entweder
das, oder man hat in der Bibel ein
Buch, das, "logisch", Haß und Gewalt rechtfertigt. Mit zweierlei Maß
messen kann man jedenfalls nicht. Sie können nicht Nietzsche beim Wort nehmen,
wo es Ihnen paßt, und bei einem anderen, Ihnen liebwerten großen Poesiebuch die
Augen zukneifen. Nur einige Beispiele: die Juden sind, laut Paulus,
Gottesmörder und "allen Menschen zuwider" (1 Thessaloniker 2,15). Im
Titusbrief (1,10 ff.) fordert Paulus, man müsse den Juden "das Maul
stopfen", sie sind "freche, unnütze Schwätzer und Verführer".
Nietzsches Meinung über Paulus ist bekannt, lassen wir
den mal weg, der hatte auch konkrete Gründe für Römerbrief 13, die wir ihm
zugutehalten müssen, wenn wir nicht in eine Diskussion verfallen wollen
darüber, ob er da, "protofaschistisch", theoretisch, auch
Naziherrschaft und Drittes Reich legitimiert.
Das Unkraut soll brennen, erklärt Jesus (Matthäus 13,
24-40), gemeint sind die "Kinder der Bosheit" (Matthäus 13,38), die
im "Feuerofen" (Matthäus 13,42) landen werden. Lukas 19,27: "Doch
jene meine Feinde, die nicht wollten, daß ich über sie herrschen sollte, bringet
her und erwürget sie vor mir!"
Aufrufe zum Massenmord an Andersdenkenden finden Sie
bei Nietzsche nicht. Wann immer bei Jesus die Rede ist von "Ich bin nicht
gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert", hat man, um die
ständigen Vernichtungsphantasien überhaupt irgendwie zu rechtfertigen, davon
auszugehen, daß es um den Anbruch der Heilszeit, das Reich Gottes geht, das
sich aber schon konkret als aktives Erdenhandeln darstellt und in das Jesus
sich einbezogen sieht. Daran kann man dann auch 2000 Jahre danach noch glauben
oder es als Beleidigung menschlichen Geistes ansehen, als Beginn der
selbstverschuldeten Unmündigkeit, daß die lang zurückliegenden internen Fehden
eines kleinen Häufleins von Piepel auf einem Fleckchen dieses Globus noch immer
maßgeblich sind. Spielt aber keine Rolle jetzt. Entscheidend ist, daß Jesus wie
Nietzsche, offensichtlich, für ihr Anliegen Bilder benutzen.
Aljoscha der Idiot.
Zitat von river
runner:
Wenn Sie versuchen,
einem alten Katholiken einen Autor als empfehlenswert zu verkaufen, ...
I wo, nur ein bißchen justice for Nietzsche, und...
... Tucholsky schrieb ja in seinem Essay zu Panizza, das
"Liebeskonzil" sei ein "grandioses Drama". D'accord. Wohl
solle man die religiösen Gefühle seiner Mitbürger schonen. D'accord.
Schließlich hat man selber welche. Aber: es wäre eine Anmaßung der Mitbürger,
zu verlangen, "... wir sollten im selben Tempo fühlen wie sie und im selben Rhythmus
leben wie sie. Ihr Lachen ist nicht unser Lachen, und ihr Schmelzpathos ist uns
keines." D'accord.
ray05.
Zitat von oliver
twist aka maga:
Auch die Schriften von Philosophen werden ausgelegt. [...] Lässt man die
Rezeptionsgeschichte einmal beiseite und konzentriert sich nur auf den Autor,
bleibt ihre Philosophie dennoch sehr problematisch. Bei dem einen sind es die
Unterscheidung von Über- und Unterbau und die Vergötterung der Geschichte, bei
dem anderen die Unterscheidung von Herren- und Sklavenmoral und die
Vergötterung des Übermenschen.
Hallo Maga. Deiner Logik folgend, wäre die einzig
UNproblematische Philosophie eine Philosophie, die sich einer Auslegung
verschlösse bzw. die keiner Auslegung bedürfe. Eine solche Philosophie kann es
für meine Begriffe aber nicht geben. Wenn wir uns in der (politischen)
Philosophiegeschichte umschauen, entdecken wir ausschließlich Theoriebildungen,
die "problematisch" sind - aus der heutigen Sicht des aufgeklärten
Bürgers der westlichen Hemisphäre wohlgemerkt: Platons Primat der staatlichen
Kinderaufzucht [sic!] oder nimm gleich ganz sein Modell der
"Philosophenherrschaft" - problematisch! Nimm Aristoteles' Herren-
und Sklavenmodell - problematisch! Nimm Machiavellis System des "Zweck heiligt
jedes politisches Mittel" - problematisch! Nimm Hobbes' funktionalistisches
Staatsmodell des "Leviathan" als notwendige Überwindung des
"Naturzustandes" - problematisch! Nimm Hegels "sittlichen Vernunftstaat"
als ultima ratio des "Geistes" - problematisch! Marx - problematisch!
Max Weber und Carl Schmitt - problematisch! Jeder Theorie über den Menschen und
der zu beschreibenden Beschaffenheit seiner (Sozial)Verbände liegt EINE
entscheidende Grundprämisse zugrunde, die SELBST problematisch ist: Mein
ureigenes "subjektives" Bild des Menschen, das als Ausgangspunkt
jeder Betrachtung bzw. System- oder Theoriebildung wirkmächtig einfließt. Das
Problem der problematischen Theoriebildung ist der problematische Mensch
selbst. (Unter anderem dies meinte Nietzsche mit dem Satz: Der Wille zur
Systematik ist ein Mangel an Redlichkeit.)
Gruß, Ray
oliver twist aka maga.
[...]
Die Verachtung von Systematik dürfte aber ein Grundzug des Denkens Nietzsches
gewesen sein, der ja keine etwa Hegel vergleichbare Systematik entwickelt hat,
sondern eher genialisch im Ungefähren, im Nebeneinander Stehenden geblieben
ist. Insofern ist bei ihm die Auslegung noch notwendiger und je nach Standpunkt
des Betrachters noch unterschiedlicher. Und insofern mag in seinem Satz auch
etwas wie Rechtfertigung mitschwingen. [...]
ray05.
Du meinst, aus Unfähigkeit oder Unlust, ein
systematisches Lehrgebäude zu errichten, zieh er, sich dadurch rechtfertigend,
einfach die Schulwissenschaft der Unredlichkeit? :)
Nein. Nietzsches
"Methode" ist DEZIDIERT künstlerisch. Sein Denken und Schreiben in
teils sehr mächtigen Bildern ist der Überzeugung geschuldet, daß das
"Logosgemäße", in Modelle "wissenschaftlich"
Zusammenkausalisierte und -systematisierte KEINESFALLS wahr oder wahrhaftig
ist, weder noch. Alle jene, die ein "logosgemäßes" Zustandekommen von
"Wahrheit" dennoch behaupteten, z. B. Marx, bezeichnete Nietzsche
deshalb als "unredlich". Dem "Wahren" komme man stattdessen
einzig auf dem Weg subjektiver, ästhetischer bzw. künstlerischer Betrachtung
bzw. im ästhetisch-künstlerischen LEBEN und Schaffen wahrhaftig nah.