"Die Sprache ist Delphi."
(Novalis 1943, 597)
Einen Zustand, für den die Brockhaus-Enzyklopädie mit "Schauder, Grausen, Abscheu" gängige Umschreibungen liefert, wird schon die Intuition als Grenzsituation wahrnehmen. Mit der Sprache als Delphi und der Etymologie als Wahr-Sagung läßt sich die Intuition in einem wahrscheinlich für sie selbst erstaunlichen Maße verifizieren. Der Zusammenhang zwischen Horror und Grenze ist weder zufällig noch artifiziell. Er ist in der Sprache fixiert.
Die Urbedeutung des lateinischen Verbs horrere ist "rauh sein" bzw. "von etw. rauh, uneben werden" (dann i.d.R. horrescere; Georges 1959, 3078 ff.). Nach Pokorny bedeutet horrere "rauh sein, starren; schaudern, sich entsetzen" (Pokorny 1959, 445). Als verbindlich gilt der Forschung die Zuordnung von horrere zum altindischen hársate bzw. hrsyati, "wird starr, sträubt sich, schaudert" (Walde/Hofmann 1965, 659), zu "skr. ghrsuh 'excité'" (Ernout/Meillet 1959, 300), zu "Sansc. hrish, to stand erect, to bristle" (Lewis/Short 1962, 864), zur Silbe HRS- "bristle, be glad" (Turner 1966, 818). Mayrhofer faßt als Verwandtes zusammen:
"hársate ist erregt, ist ungeduldig, freut sich (...) ('zu Berge stehen [der Haare, vor Freude oder Schreck], starren'), hrsyati freut sich (...) harsáy erregen, erfreuen (...) dazu ghrsúh, ghrsvi (...) Vgl. lat. Horrere starren, sich emporsträuben, schaudern (...) Der Anlaut hatte wohl primär Velar, da ghrsú-, ghrsvi- von hars- kaum zu trennen sind (...)" (Mayrhofer 1976, 583 ff.)
Starren und Sichsträuben, Zu-Berge-Stehen der Haare und Schaudern indizieren also schreckhafte ebenso wie freudig-lustbetonte Erregung. Schon hier wird Horror kenntlich als psychophysischer Erregungszustand, in den die Ambivalenz konsequent eingelagert ist. Derselbe Reflex, ein unwillkürliches Erigieren, ist Symptom für ein Zurückschrecken wie für eine lustvolle Hinwendung. Der Hinweis von Mayrhofer, der hars- bzw. hrs- als Variationen von ghrs- ansieht, führt zu einer weiteren Spur:
"ghrstih, ghrsvih m.Eber (...) nicht sicher gedeutet. Am ehesten noch (als sexuelle Benennung – oder als 'Stacheltier'?) zu *ghers- 'starren, steif sein', ai. hársate : vgl. harsa- 'Geilheit, Steifwerden' (...) zur selben Wurzel auch gr. χοίρος Ferkel, χήρ Igel (...)" (Mayrhofer 1956, 361).
Die Konnotationen sind deutlich: während die Borsten- oder Stacheltiere eher die abwehrende Aufrichtung repräsentieren, richtet die "freudige Erregung" nicht nur Haare auf, sie bewirkt auch die Aufwärtsbewegung der sexuellen Erektion, also Hinwendung. Zeigte schon Grassmann (1873, 1679) ghrs- als ursprüngliche Form von hrs- , bestätigt Pokorny horrere als Ableitung von *ghers:
"ĝhers- und z.T. ĝher- 'starren' (s.auch 3.gher-); ĝhēr-s 'Stacheltier'. Ai. hársatē, hrsyati, 'wird starr, sträubt sich, schaudert, ist erregt, freut sich' (...) χοίρος (<*ĝhorios) 'Ferkel' (als Borstentier) (...) lat. horreo (...)" (Pokorny 1959, 445).
Darüberhinaus kann ghers- oder ghres- die Bedeutung von "Widerwille, Abscheu, Ekel" (ebd.) annehmen. So ergibt sich unter Einbeziehung indogermanischer bzw. altindischer Sprachschichten als die archaische Semantik des Horrors: etwas starrt empor oder wird starr, sträubt sich oder richtet sich auf; die Erektion verrät extreme innere Bewegung, ist Indiz lustvoller Erregung oder schreckhafter Abwehrreflex, gibt ebenso Wollust kund wie Widerwillen, gilt einem unbezwinglich Attraktiven oder Furchterregenden, einem so Schrecklichen wie Faszinierenden. Es verbinden sich (Empor)Starren und Aufgestacheltsein, Aufrichtung und Erregung, Aufragen und Aufregen. Der Horrorschauer produziert nun tatsächlich Rauheit: durch Kontraktion der an den Haarbälgen liegenden Muskeln richten die Haare sich auf, die Haut wird durch den Schauder "rauh"; die "Gänsehaut" ist eine Form der Erektion.
Rauheit ist Abweichung von glatter Oberfläche und Resultat von Erregung - indem sich durch Ragen, Starren, Sträuben und Aufrichtung Erhebung bildet, indem sich das Erhabene bildet – auch in der Psyche: Horror ist quasi Erektion im Kopf. Rauheit ist gegenüber Glätte der unruhigere Zustand, genaugenommen ein Zustand zwischen Unruhe und äußerster Unruhe, je nach Rau[h]tiefe: diese technische Kenngröße (Rt) mißt den Abstand zwischen dem höchsten und dem niedrigsten Punkt der Rauheit. Auch Horror hat seine Rau[h]tiefe.
Die in den tiefsten Sprachschichten bereits angelegte Ambivalenz macht deutlich, daß es im Zustand Horror nicht um lustvolle Erregung oder reflexhaften Schrecken geht, sondern um das Zugleich beider Reaktionen. Durch die Simultaneität von extremer Hinwendung und extremer Abwehr, von extremer Anziehung und extremer Abstoßung erweist sich Horror als eine Art dialektischer Magnetismus. Im Tierreich oder in sogenannt primitiven Menschheitskulturen demonstriert der erigierte Penis nicht nur "Geilheit" und damit Hinwendung, sondern ist auch Abwehr- und Drohgebärde – also Grenzmarkierung. Sexualität und Grenze, Erektion und Horror zeigen sich in dieser Geste innig verbunden. Auch zur Aufrichtung des Fells kommt es bei Tieren gerade auch dann, wenn Territoriumsgrenzen bedroht sind.
Eros ist ein In-die-Höhe-Bringer, der Aufragen und Aufregen in eins setzt. Das Wort Eros leitet sich ab aus der Silbe "er- : or- : r-", die als indogermanische "Bewegungssilbe" bekannt ist: "(...) 'sich in Bewegung setzen, erregen [auch seelisch (...) reizen]; in die Höhe bringen (Erhebung, hochwachsen)" (Pokorny 1959, 326). Sie entwickelt sich in die griechische Stammform ΟΡΩ, aus der sich Phänomene des Emporragens und Emporsteigens, des sich Erhebenden ableiten, so auch das griechische Wort für Berg, ὄρος. Ein Berg ist mitnichten etwas Statisches. Bei einem Berg handelt es sich um eine Seinserregung und um einen für erregtes Sein prädestinierten Platz. Gigantische, massive, in himmlische Lichtregionen emporragende Berge erschienen zu allen Zeiten wie ein Signum höherer Mächte, haben immer schon zu religiösen Vorstellungen inspiriert, galten als Wohnsitz der Götter und waren, als deren Offenbarungsorte, bevorzugte Kultstätten. Schon die Höhe und Himmelsnähe der Berge hatte den Charakter des Sakralen. Oft wurde der "heilige Berg" als Weltmittelpunkt angesehen. "Der Berg, den Gott zur Wohnung sich erkoren" (Psalm 67) ist eine die Wahrnehmung auf sich fixierende Erhebung, eine Rauheit im Erlebnisfeld, etwas wesentlich Dynamisches also, das aufragend erregt und im übrigen die freie Entfaltung begrenzt. Der Berg ist berggewordener Eros, das Aufragende schlechthin, seine Erhebung ist Erregung (der Ebene) und bewirkt (heilige) Erregung, die wiederum erhebt.
Fast identisch mit ὄρος, Berg, ist das dem lateinischen horror klanglich sehr ähnliche altgriechische Wort für Grenze, ὅρος (gesprochen etwa "horros"). Berg wie Grenze sind Formen einer im Wahrnehmungsfeld entstehenden Rauheit. Und das Entscheidende ist nun: wie es das Begrenzende des Berges gibt, so ist die Grenze eine Erhebung.
Der Zusammenhang läßt sich auch im Deutschen erahnen: die Schwelle heißt Schwelle, weil sie auch Schwellung ist, Erhebung. Das ahd. swella meint einen tragenden Balken, swelli kann Türschwelle bedeuten, Fußgestell oder Sockel. Das mhd. swellen bedeutet stauen, hemmen und ist Urform von "schwellen". Die stauende Schwelle (mhd. Swelle) bringt Wasser zum Anschwellen, ist aber als begrenzende Hemmschwelle zugleich selbst das Hervorgehobene. Vermutlich besteht auch (über *suel-) eine etymologische Verbindung zwischen Schwelle (als Grenze) und Säule (als Erhebung).
In Platons Nomoi ist die Rede vom Ζευς ‘ó ριος (842e), vom "grenzhüterischen Zeus" (Platon 1989, 208), dem als erstes Gesetz geweiht sei: niemand dürfe wissentlich einen Grenzstein verrücken. Die Grenze ist von jeher Heiliges und Heiligstes, von jeher gilt ihr erhöhte Wachsamkeit (Erregung), von jeher ist sie undenkbar ohne besondere Wächter und Hüter, und der höchste Gott der Griechen gilt auch als Schutzgott der Grenze, der das Antasten des Unantastbaren, die Verrückung des Sakrosankten verhindern soll: Grenzverletzung ist auch Frevel gegen das Göttliche. Und das eigentlich Unantastbare und Sakrosankte an der Grenze ist zunächst der sichtbar emporragende Grenzstein, die Grenzmarkierung als Erhebung und Erregung des zuvor Unimorphen, eine Erektion, die Horror – Rauheit – morphologisch produziert. Das Aufragen der Grenzmarkierung ist zugleich aber auch das reale Symbol der psychischen Erfahrung Grenze. Die Grenze ist Erregung (der morphé) und bewirkt Erregung (der psyché).
Für das Wort Horror gibt es in den lateinischen Texten drei Sinnkategorien: es beschreibt morphologisch Erregungszustände äußerer Formen und Formationen; es bezeichnet den Horrorschauer als physisches Phänomen (Aufrichten der Haare), es vermeldet psychologisch den extremen Erregungszustand der inneren Form – Horror als "innere Unebenheit". Im Grunde besteht aber jedes Horror-Erlebnis in Durchdringung dieser drei Ebenen, und was diese ständige Durchdringung bewirkt, ist das Phänomen oder die Erfahrung Grenze. Was den Horrorschauer auslöst, ist stets eine Art von "Rauheit" in der Wahrnehmung, eine "Erektion" des Seins, Erhebung und Erregung des "Natürlichen", ein plötzliches aufregendes Aufragen im Begegnenden, das den Charakter einer Grenzmarkierung hat. Es ist eine empfundene, erlebte Grenze, die Horror auslöst; etwas, das sich in Wahrnehmung und Bewußtsein bedrohlich aufrichtet, unabhängig davon, wie sichtbar, präsent oder existent es tatsächlich ist. Der physische Horror – der Schauder – veräußerlicht den Erregungszustand der inneren Form, der wiederum durch eine Art von "Seinserregung" evoziert ist: in der Begegnung mit dieser "an-schwellenden" Rauheit im Erlebnisfeld wird eine Grenze zugleich fühlbar und bedroht, an dieser Grenze kommt es zum "Erstarrtsein in höchster Aufregung", zum Zugleich von Attraktion und Repulsion, von Faszination und Fluchtimpuls.
Tatsächlich bedeutet ὅρος ursprünglich das sichtbar Aufragende und Aufgerichtete: Grenzstein, Grenzzeichen, Grenzpfahl, Grenzsäule, Grenzstelen an heiligem Gebiet, Marksteine auf gepfändetem Land. J.H.H. Schmidt zufolge ist die anschaulich emporragende Grenzmarkierung als sinnliche Urbedeutung von ὅρος zu verstehen: bei Homer findet sich οὔρος "in der Bedeutung eines Grenzsteines, in der nachhomerischen Sprache ὅρος in der Bedeutung Grenze, und zwar immer mit der Anschauung, nicht dass hiermit alles zu ende sei (...) sondern dass dahinter noch ein anderes Gebiet beginne." (Schmidt 1969, 507 ff.).
ὅρος beschreibt nichts, über das man nicht hinausgehen könnte, sondern setzt ein Anderes, Jenseitiges, warnt also vor der Überschreitung, dem Übertritt in das fremde Gebiet. Dieser warnende Charakter der Grenzmarkierung verbindet den Grenzübertritt mit gesteigerter Erregung, die sich zumal dann als Horror zeigt, wenn die Grenzsetzung ein Heiligtum, ein geweihtes Areal abtrennt, wie etwa durch die Ableitung ὅρίζειν beschrieben, die dem religiösen Charakter der Grenzziehung galt, genauer dem Gott, "dessen Cultus man dadurch einführt, dass man ihm einen Bezirk absteckt und weiht" (Passow 1852, 525).
Während bei πέρας ein Endpunkt existiert, über den es kein Hinaus gibt, impliziert das durch ὅρος Bestimmte stets ein durch Bestimmung mitbestimmtes Anderes. Entsprechend bedeutete ὅρος später auch Definition (als Grenze eines Begriffes), ebenso Termin (als zeitliche Grenze); ὅρος grenzt ab in Diesseits und Jenseits.
Das Wort horrere geht, wie gesehen, zurück auf das altindische hársate bzw. hrsyati; das "etymologische Atom" dieser Bildungen ist die indogermanische Silbe gher- bzw. ĝher- , in der sich drei für den Horror-Kontext relevante Bedeutungsfelder auffinden lassen. Erstens:
"gher-, ghrē: ghrō (...) 'hervorstechen', von Pflanzentrieben oder -stacheln, Borsten, von Erderhebungen, Kanten usw. (...)" (Pokorny 1959, 440). Zu diesem Bedeutungsfeld, mit dem nach Pokorny horrere alliiert ist, gehört nun auch: "(...) slav. granj 'scharfe Ecke, Kante', z.B. in russ. granj f. 'Grenze; Markstein; Facette' (...)" (ebd.).
Die Erscheinung Grenze gehört also zur gher-Gruppe "hervorstechen, starren", die wiederum zu horrere führt. "Grenze" ist eines der wenigen Worte, die das Deutsche aus dem Slawischen übernommen hat: das mittelhochdeutsche graniza, graenizen, greniz stammt vom altpolnischen granica/granca, "Grenzzeichen, Grenzlinie". "Grenze" schrieb sich früher "Gränze", was die Nähe zur Granne offenbart:
"Granne f. 'borstenartige Spitze an Ähren, Gräsern', ahd. grana 'Barthaar, Schnurrbart' (8.Jhd.), mhd. gran(e) 'Spitze eines Haares, Barthaar, stachliges Haar, Ährenborste, Gräte', aengl. granu 'Schnurrbart', anord. gron 'Barthaar, Schnurrbart', auch 'Tanne' (eigentl. 'Nadel') sind verwandt mit den slaw. Formen aruss. granjъ 'Grenze, Grenzlinie', russ. gran‘ (гранъ) 'Grenze, Markstein, Abschnitt', tsch. hrana 'Grenze, Ecke'. apoln.poln. gran 'Ecke, Winkel, Grenze' (aus dessen Ableitung nhd. Grenze entlehnt ist). Sie alle führen (...) auf die Formen (...) der Wurzel ie. *gher- 'hervorstechen' (von Pflanzentrieben, Stacheln, Borsten, Erderhebungen, Kanten) (...)" (Pfeifer 1989, 595).
Das Wort horrere gilt bei den klassischen Autoren häufig dem Starren von Bart- oder Haupthaar oder beschreibt Phänomene wie das Emporstarren von Lanzenspitzen. Die ursprüngliche Bedeutung des russischen грань (Grenze) ist "wohl Spitze" (Vasmer 1953, 304) bzw. Spitze, spitzes Ende, spitzer Auslauf (vgl. Cyganenko 1970, 111 ff.).
Es bestätigt sich also durch die Urverwandtschaft von "Grenze" und "Spitze", wie die Grenze ursprünglich durch die aufgerichtete Grenzmarkierung repräsentiert wurde, durch eine Form der Erektion, die mit dem Symptom oder Phänomen Horror eng verwandt ist: es ließe sich auf psychologischer Ebene aber auch grundsätzlich vom Hervorstechen der Grenze sprechen. Umgekehrt gilt: an eine Grenze stößt, was auf die Spitze getrieben wird.
Ein zweiter Bedeutungskreis von gher- / ĝher- lautet:
"ĝher- 'greifen, fassen, umfassen, einfassen'; erweitert ĝher-dh (s.unten) : ĝhor-to-s 'eingezäunter Ort'. (...) gr. χóρτος m. 'eingelegter Platz, Hof, Weideplatz'; unsicher, ob hierher χορóς 'Tanzplatz, Chortanz' als ursprüngl. 'eingehegter Platz' (...) ĝherdh- und gherdh- 'umfassen, umzäunen, umgürten' (...) lat. hortus (...) Erweiterung von *ĝher- 'fassen'; ghordho-s 'Gehege' (...)“ (Pokorny 1959, 442 ff.).
Bezeichnet sind Akte des Einfassens und Einzäunens, also Akte des Abgrenzens. Wie die Grenzziehung an sich heiliger Akt ist, so gilt sie dem heiligen Ort und läßt den heiligen Raum entstehen: χóρτος meinte auch den abgegrenzten Platz um den Opferaltar. Neben dem unmittelbaren Zusammenhang von Horror und dem aufragend-hervorstechenden Charakter der Grenze gibt es einen ebenso unmittelbaren Zusammenhang von Horror und dem abgegrenzten heiligen Bezirk. Ein schönes Symbol dafür ist der von Horaz horridus (hier: struppig, stachelig, 'gestrüppig') genannte altitalische Waldgott Silvanus, der zugleich ein Grenzgott ist ('tutor finium', Epoden 2,22), ein Beschützer der Felder und der Grundstücksgrenzen. Silvanus genoß immense Verehrung: jedes Grundstück besaß einen eigenen Silvanus domesticus, und Kaiser Hadrian gab ein Medaillon heraus, das Silvanus beim Betreten eines heiligen Bezirkes (mit Tempel und Altarfeuer) zeigt.
Ein abgegrenzter Bezirk ist auch das horreum: die Etymologie des dem horror so verwandt scheinenden Wortes für "Vorratskammer, Scheune, Magazin, steinerner Speicher" gilt als "unbekannt" (Walde/Hofmann 1965, 659 ff.). Aber nach dem sakral abgegrenzten Raum ist die Vorratskammer in alter Zeit der heilige Raum schlechthin; so sehr, daß im alten Ägypten die Katze ihre Verehrung als heiliges Tier nicht zuletzt dadurch errang, daß sie die Kornvorräte gegen Mäuse und Schädlinge schützte und sogar darauf dressiert war, menschliche Diebe anzuspringen. Der japanische Ise-Schrein, das wichtigste Heiligtum des Shintoismus, ist ein Tempel, dessen Urform "eine einfache Waldhütte ist, der Getreidespeicher, das Zentrum einer agrarischen Gesellschaft. Der höhergelegene Fußboden sollte das Getreide vor Feuchtigkeit und Ratten schützen" (Paglia 1993, 155). Das lateinische Wort für den Getreidespeicher, horreum, verweist - wie das Wort horror - auf eine heilige Grenze. Dem würde entsprechen, daß Saturn im archaischen Rom sowohl als Wächter des aerarium, des Staatsschatzes, als auch des Aufgangs zum Jupiter Capitolinus, dem wichtigsten römischen Tempel galt, also ein Hüter von Schwelle, Grenze und Durchgang zum Heiligen war [1]; daß Saturnus aber, bevor er Kronos gleichgesetzt wurde, Varro zufolge ein altitalischer Gott der Aussaat und des Ackerbaus gewesen sein soll, mit Sichel (Erntegerät) dargestellt (und das Verb horrere auch die emporstarrende Saat bezeichnen konnte).
Was bedeutet nun der auf verborgenen Wegen der Sprache plötzlich so unmittelbar erscheinende Zusammenhang der Worte horror und ὅρος für den Schrecken, der die Haare sträubt? Zum einen betont er die Korrespondenz jener äußeren "Erhebung" und "Seinserregung", die als Grenze wahrgenommen wird, mit einer physiologischen Reaktion der Aufrichtung ebenso wie mit extremer "psychischer Unebenheit"; zum anderen ließe sich aber auch sagen, daß der Schauer der "Gänsehaut" im Horror nur das Sekundärphänomen ist – gegenüber dem Erleben von "Grenzhaftigkeit".
James B. Twitchell stellt von der "rippling sensation" des Horrors fest, sie habe "self-defense as its biological purpose" (Twitchell 1987, 42). Gewiß ist die menschliche "Gänsehaut" des Horrors ein Rudiment tierischen Abwehrverhaltens, des Aufstellens von Fell oder Stacheln zum Schutz gegen eine plötzliche Bedrohung. Aber diese Reaktion wäre überflüssig, wenn nicht schon irgend etwas bewirkt hätte, daß das betreffende Lebewesen erstarrt ist. Irgendeine Art von Grenz-Erlebnis friert das Lebewesen ein, unterbricht seine Bewegung, wirkt intermittierend in seinen Lebensabläufen. Primär ist dieses Starrwerden, das ein Erstarren vor etwas ist; aus dieser Erstarrung entlädt sich der Schauer, und dieses Etwas hat den Charakter einer Grenze. Der Löwe begrenzt die freie Entfaltung der Hyäne, die Spinne begrenzt die freie Entfaltung des Phobikers.
Horror ist die abrupte Unterbrechung jeder Fort-Bewegung, zugleich aber auf ein Höchstmaß intensivierte innere Bewegung. Die Spinne ist die "ontologische Rauheit" in der Wahrnehmung des Phobikers, das aufgerichtete Grenzzeichen, die Erregung im zuvor Unimorphen, die Erhebung im "Normalen" und "Natürlichen", die ihn stocken, erstarren und zurückprallen läßt. Dann erst sträuben sich ihm die Haare vor dem Bedrohlichen, Anderen, Fremden, Unheimlichen. Horror entsteht also an der Grenze, auf der Grenze und durch die Grenze: Horror zu thematisieren heißt die Grenze zu thematisieren.
Aber der Horror auf der Stelle ist auch Horror auf der Schwelle, und es gibt noch eine dritte für diesen Zustand relevante Bedeutungsebene der Silbe gher-/ĝher-, die ursprünglich "eine heftige Gemütsbewegung überhaupt" (Walde/Hofmann 1965, 658) bezeichnete, nämlich:
"ĝher- 'begehren, gern haben' (...) Ai. háryati 'findet Gefallen, begehrt'; av. zara- m. 'Streben, Ziel'; gr. χαίρω (...) 'sich freuen' (...) χάρμα n. 'Freude, Vergnügen' (...) lat. horior,-iri 'antreiben, ermuntern' (...) Air. gor 'fromm', goire 'Frömmigkeit, Pietät' (...) ahd. ger 'begehrend', gerōn 'begehren' (...)" (Pokorny 1959, 440 ff.)
Hier bezeichnet die Silbe also angetriebenes, ermuntertes, in Streben übergehendes Begehren, und strebendes Begehren ist auch Aufrichtung, Erreichenwollen, Erektion (Eros als In-die-Höhe-Bringer, der Aufregen und Aufragen in eins setzt). Begehren ist Überschreitung, und Überschreitung gibt es erst, wenn eine Grenze fühlbar ist. Es gibt Begehren, weil es eine Grenze gibt, die Grenze zum Anderen, Begehrten. Und diese ĝher-Komponente ist in ihren Ableitungen auf bemerkenswerte Weise aufgeladen mit der den Horror konstituierenden Ambivalenz. Wie in der Typologie gezeigt, beschreibt das lateinische Wort horror zuvorderst den ehrfürchtigen Schrecken, das Erschauern vor dem Numinosen, die heilige Scheu, wie sie durch die ĝher-Ableitungen "fromm", "Frömmigkeit" angedeutet wird. Die religiöse Ehrfurcht steht – oder besteht - in der Ambivalenz der expandierenden Bewegung des Begehrens/Erreichenwollens und der hemmenden schreckhaften Erstarrung, und diese Ambivalenz wird ausgelöst durch ein spezifisches Grenz-Erlebnis.
Die hier betrachteten Dimensionen der indogermanischen Silbe gher-/ĝher-, auf die sich (über hársate/hrsyati) sowohl das Wort horror als auch die Erscheinung Grenze zurückführen lassen, nämlich: a) Begehren; b) Hervorstechen, Aufragen, von der Granne bis zur Grenze (bzw. ihren Markierungen); sowie c) abgegrenzter Raum, verweisen auf einen im Zustand Horror wirksamen Zusammenhang von Erhebung - begehrender, aber gehemmter Erregung - Begrenzung.
Von Anfang an also ist der psychophysische Erregungszustand Horror verbunden mit Ambivalenz und mit der Erfahrung einer Grenze: als Grenzerfahrung am Anderen, Fremden, Unheimlichen, Bedrohlichen; an einer empfundenen Grenze (etwa zum Numinosen, Übernatürlichen oder "Nicht-Natürlichen"), an einer konkreten Grenze (etwa zum heiligen, abgegrenzten Raum), oder an einer konkreten Grenze, die über Gebühr empfunden wird (die Spinne für den Phobiker).
Wohl die früheste rein menschliche Grenzerfahrung, die Horror auslöst, ist das Erschauern vor dem Numinosen, das ehrfürchtige Zurückschrecken vor dem Heiligen, die konsternierte Erregung auf der Schwelle zwischen "natürlich" und "übernatürlich", der Grenzgang zwischen Zurückweichen und fasziniertem, begehrendem Übertreten. Sehr früh lagert sich in die Sprache der ursprüngliche Bezug des Horrors auch zum heiligen Raum ein. Der Zustand Horror als Grenzerfahrung am numinos erlebten und abgegrenzten Bezirk führt zu Abgrenzung des Heiligen als einem - dem - genuinen Akt der Strukturierung menschlicher "Welt" überhaupt.
Horror läßt sich also zunächst beschreiben als Grenzerfahrung, als Begegnung an einer Grenze – mit dem, was durch seine Andersheit und Fremdheit bedroht, das verändernd und entfremdend wirken könnte, käme es zu der Zufügung, die durch diesen Einfluß, diesen Eindruck, diese konkrete Gefahr droht; der Horrorschauer, scheinbar eine Abwehrreaktion, enthält auch eine Komponente der begehrenden Hinwendung, und auf psychologischer Ebene gibt es eine analoge Ambivalenz. Bei einer Hyäne gilt die Fixierung und extreme Hinwendung auf den Löwen lediglich der drohenden Gefahr; erst im menschlichen Horror entfaltet diese Seite der Ambivalenz sich auch als begehrende Faszination. Für Hyäne wie Mensch gilt, daß Horror der eingefrorene Moment zwischen Hinwendung und Flucht ist. Etwas bedroht oder überschreitet im Zustand Horror die Grenze, die souveräne und "gesicherte" Wahrnehmung gewährleistet - oder aber der Wahrnehmungsvollzug begibt sich an die Grenze, hinter welcher die Realität oder die Einbildungskraft eine Zufügung bereithält, die einen Reflex der Repulsion ebenso provoziert wie die Lust, sich dieser Zufügung auszuliefern. Horror macht immobil, weil er aus kontradiktorischen Affekten besteht - Repulsion und Attraktion –, und weil das Bedrohliche zugleich etwas Verführerisches hat. Der Schrecken, der die Haare sträubt, erregt auf so ambivalente Weise, daß sich in ihm zuweilen auch noch anderes erhebt; von der sexuellen Erregung im Zusammenhang mit Furcht, Angst und Horror wird noch zu reden sein.
Im Altindischen gibt es Worte, die mit horror wie mit ὅρος über die genannten Verbindungen etymologisch wie semantisch korrespondieren, so ghoratā, "Schrecklichkeit / horribleness" (Mayrhofer 1956, 362) und ghoráh, "grausig, schrecklich, ehrfurchtgebietend / dreadful, horrible, awe-inspiring" (ebd.), bzw. "furchtbar, grausam, böse (...) unheimliche Gewalt, Zaubermacht" (Walde 1930, 636). Das attische òρρωδέω entspricht dem lateinischen horrere in der Bedeutung von fürchten, scheuen, schaudern; òρρωδία bedeutet Schrecken. Griechisches Pendant zum Horror ist φρίξ bzw. φρίκη; φρίσσω mit den Bedeutungen "1. Rauh oder starr sein, starren, emporstarren, emporstehen, sich emporsträuben (...) 2. (vor Kälte) schaudern, zusammenschauern (...) übertr. (vor Furcht) starr werden, schaudern, erschrecken, sich entsetzen" (Menge/Güthling 1910, 613) entspricht dem lateinischen horrere und kehrt wieder im französischen frissoner. Der frisson betont die physiologische Komponente, während horreur die psychologische Bandbreite des Horrors wiedergibt und ins Repulsive wendet: Grauen, Entsetzen, Abscheu, Greuel, das Schauerliche, Gräßliche. Das englische to bristle geht auf φρίσσω zurück, dessen indogermanische Wurzel wiederum die Grundsilbe bher- ist; "emporstehn, Kante, Borste" (Walde 1927, 201) bzw. "hervorstehn, eine Spitze oder scharfe Kante bilden; Kante, Ecke, Spitze" (Walde 1927, 162), ähnlich der Silbe gher-, die zum Phänomen Grenze leitet.
Für Pokorny unsicher, für Walde hingegen gesichert (Walde 1930, 603) ist der Anschluß von χορóς, Tanzplatz, Chortanz, als ursprünglich "eingehegter Platz" an ĝher- "greifen, fassen, umfassen, einfassen"; die etymologische Diskussion kreist letztlich darum, ob nun "Reigentanz" oder "Tanzplatz" die ursprüngliche Bedeutung von χορóς sei (vgl. Frisk 1970, 1112 ff.) Ein Streit um des Kaisers Bart, Tanzplatz und Reigen lassen sich nicht voneinander trennen, wenn mit dem Reigentanz der Tanzplatz entsteht, in ursprünglicher Einheit: durch χορενειν, Bilden des Reigens, Fassen der Hände, entsteht "Einfassung", der Tanzplatz, abgegrenzter Raum. Will sagen: bestimmte Arten von Erregung akzentuieren den Raum. Auch der Zusammenhang von Grenze und Horror bedeutet Strukturierung des Raums.
Literatur
Cyganenko, C. P.: Etimologičeskij slovar‘ russkogo jazyka, Kiev 1970.
Ernout, A. / Meillet, A.: Dictionnaire Etymologique de la Langue Latine, Paris 1959 (-60).
Frisk, H.: Griechisches etymologisches Wörterbuch, Band II, Heidelberg 1970.
Georges, H. / Georges, K. E.: Ausführliches Lateinisch-Deutsches Wörterbuch (10. Aufl.),
Erster Band, Hannover 1959.
Erster Band, Hannover 1959.
Grassmann, H.: Wörterbuch zum Rig-Veda, Leipzig 1873.
Horaz: Oden und Epoden, Zürich und München 1981.
Lewis, C. T. / Short, C.: A Latin Dictionary, Oxford 1962 (First Ed. 1879).
Mayrhofer, M.: Kurzgefaßtes etymologisches Wörterbuch des Altindischen, Band I, Heidelberg 1956.
Mayrhofer, M.: Kurzgefaßtes etymologisches Wörterbuch des Altindischen, Band III, Heidelberg 1976.
Menge, H. / Güthling, O.: Griechisch-Deutsches und Deutsch-Griechisches Hand- und Schulwörterbuch, Teil I, (Griechisch-Deutsch)
von H. Menge, Berlin 1910.
von H. Menge, Berlin 1910.
Novalis, Die Enzyklopädie, VI. Abteilung, in: Briefe und Werke, Dritter Band, Die Fragmente, Berlin 1943.
Paglia, Camille: Der Krieg der Geschlechter. Sex, Kunst und Medienkultur, Berlin 1993.
Passow, F.: Handwörterbuch der Griechischen Sprache, Zweiter Band, Erste Abteilung, Leipzig 1852.
Pfeifer, W. (als Leiter eines "Autorenkollektivs"): Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, A-G, Ostberlin 1989.
Platon: Sämtliche Werke 6, Hamburg 1989.
Pokorny, J.: Indogermanisches Etymologisches Wörterbuch, Band 1/1, Bern und München 1959.
Schmidt, J. H. H.: Synonymik der Griechischen Sprache, Vierter Band, Amsterdam 1969 (Erste Aufl. 1886).
Turner, R. L.: A Comparative Dictionary of the Indo-Arian Languages, London 1966.
Twitchell, James B.: Forbidden Partners: The Incest Taboo in Modern Culture, New York 1987.
Vasmer, M.: Russisches etymologisches Wörterbuch, Erster Band, Heidelberg 1953.
Walde, A.: Vergleichendes Wörterbuch der Indogermanischen Sprachen, 1. Band, hrsg. u. bearb. v. J. Pokorny, Berlin und Leipzig 1930.
Walde, A.: Vergleichendes Wörterbuch der Indogermanischen Sprachen, 2. Band, hrsg. u. bearb. v. J. Pokorny, Berlin und Leipzig 1927.
Walde, A. (bearb. Hofmann, J. B.): Lateinisches etymologisches Wörterbuch (4. Aufl.), Erster Band, Heidelberg 1965.
[1] Das Janusheiligtum repräsentierte als sakrale Konzentration alle Türen und Tore Roms. Der doppelgesichtige Janus war der Gott und Wächter des Durchgangs (der Name Janus hängt zusammen mit der lateinischen Bezeichnung der Tür, ianua.). Saturnus wurde schon in den Liedern der bis in das früheste Rom zurückreichenden Tanzpriesterschaft der Salii verehrt; der Sage nach ist Saturnus von Janus an der Stätte des späteren Rom aufgenommen worden. Janus und Saturnus sind custodes der Tür und der Schwelle.