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"Literatur - was lohnt es noch, zu lesen?"
18.09.2006
BerSie:
Nennen Sie mir das aufregendste Buch, das Sie je gelesen haben!
"Literatur - was lohnt es noch, zu lesen?"
18.09.2006
BerSie:
Nennen Sie mir das aufregendste Buch, das Sie je gelesen haben!
Also, ich empfinde bei Filmen wie bei Büchern viel zu häufig "Das ist
das Beste, was ich je...", um die Frage wirklich beantworten zu können. Sehr
aufregend war aber, als ich mit 20 Rimbaud entdeckte, seine Werke in zwei Tagen
und zwei Nächten las, das Essen vergaß, direkt danach Enid Starkies
Rimbaud-Biographie "Das trunkene Schiff" aus der Bibliothek entlieh
und nicht mehr zurückgab ("Weiß nicht... muß mir jemand im Bus aus der
Tasche gezogen haben...") (später aber ein Exemplar legal erworben)
(Verbrechen aus Leidenschaft, schon die griechischen Götter haben da ein Auge
zugedrückt).
Sehr aufregend war auch die Lektüre von Stefan Zweigs "Ungeduld des
Herzens", weil ich sie mit durch hohes Fieber bedingte Visionen ergänzte.
Zwei andere Romane, deren Lektüre auch sehr intensiv für mich war, die aber
beide in eine Art goldenes Herbstlicht getaucht sind, in milde Septembersonne,
sind Jens Peter Jacobsens "Niels Lyhne" und Rilkes "Malte
Laurids Brigge". Sehr aufregend fand ich es auch, nach einem Film, durch
den ich den Tänzer Vaslav Nijinsky entdeckte, die Biographie zu lesen, die
seine Frau Romola verfaßt hat. Bulgakows "Der Meister und Margarita".
Nick Caves "And The Ass Saw The Angel", eben weil dieser von mir sehr
geliebte Sänger auch noch mit einem Roman daherkam, obendrein einem
großartigen. Sade, "Die Philosophie im Boudoir", aber wie gesagt, ich
bin leicht erregbar... also, es gibt sehr viele "aufregendste"
Bücher, aber wenn ich mich auf EINS beschränken soll: die Romane von
Dostojewskij.
09.07.2007
thedirtydozen:
Nicht zu vergessen die Sternstunden der Menschheit! Eine Sternstunde der deutschen
Literatur: ein Buch voller Lieblingssätze.
Wir sollten doch noch als Garcia & Cave tingeln, IN DER ERSTEN
ABTEILUNG nehmen wir uns gegenseitig die Sätze aus dem Mund, und dann sehen wir
weiter. Ähnlich erging es mir bei Zweigs Schriften über Hölderlin, Kleist,
Nietzsche / Dostojewski, Balzac, Dickens. Zweigs Ruf, ein "Frauenversteher"
zu sein, muß in den Hintergrund treten gegenüber der Tatsache, daß er ein
Alleversteher ist. Bei Dostojewskij wünsche ich mir immer, man könnte wie Wanja
in "Erniedrigte und Beleidigte" ständig von einer Romanfigur zur
anderen gehen, aber des Gesamtoeuvres; bei Zweigs Sprache ist es einfacher -
man möchte einfach ein Buch von Zweig sein.
fabi82:
Hätte man nicht besser sagen können.
05.09.2009
Siebziger:
Forschere
Seelen würden vielleicht "Sensibelchen" meckern (...) Jeder seiner
Sätze ist reif fürs Poesiealbum, und bei Stefan Zweig hat man nie das Gefühl,
daß das gekünstelt ist, es klingt alles wahrhaftig und originär, also
glaubwürdig.
Zitat von Siebziger:
Forschere Seelen würden vielleicht "Sensibelchen" meckern (...)
Dann hätte
man aber Stefan Zweig nicht nur als Mensch, sondern auch als Schriftsteller
nicht verstanden, denke ich. Alles, woran er je glaubte, und wovon jede seiner
Zeilen Zeugnis ablegt, ging im Inferno unter. Damit ist ja nicht allein die
sichtbare Zerstörung gemeint, nicht allein
"Wie
kann ich arbeiten, wenn ich las, daß über einer englischen Stadt soundsoviele
Bomben abgeworfen sind, daß im Atlantischen Ozean ein französischer Dampfer
torpediert wurde, der dann mit soundsovielen Passagieren unterging. Ich mag die
Zeitungen nicht mehr aufschlagen..." - "Wie kann ich atmen, schlafen,
essen, wie kann ich arbeiten, wenn ich weiß, daß diese sinnlose Zerstörung am
Werke ist, daß tausende und abertausende unschuldiger Menschen von ihr
dahingerafft werden."
Wir haben
von seinen Essays gesprochen – wie selbstlos hat er geistige Größe und
Schöpfertum bei anderen bewundert. Welch anderer
Schriftsteller war so sehr geistiger Kosmopolit, war so sehr von feiner, zarter,
einfühlsamer Empathie. Wie recht hat Zweig mit diesem Satz:
"Nie
hat eine Generation einen solchen moralischen Rückfall aus solcher geistigen
Höhe erlitten wie die unsere."
Auch wenn
es tausend historisch relevante Dinge dazu zu sagen gibt: das bleibt doch Teil
eines Unbegreiflichen auch für uns – wie war der Nationalsozialismus möglich
nach Thomas Mann, nach Stefan Zweig, nach Rilke, nach nehmen Sie, wen Sie
wollen, nach all diesen Büchern, die von Deutschen gelesen worden sind. Thomas
Mann war über Zweigs Suizid ungehalten, auch Werfel klagte, Zweig habe mit
dieser Tat dem Erzfeind zum Triumph verholfen. Aber man muß einfach sehen, von
wo aus gerade Zweig stürzte, wenn er sagte (zu Zuckmayer), die Welt, "die
wir geliebt haben, ist unwiederbringlich dahin".
Joseph
Roth hatte ihm, Zweig, schon 1933 geschrieben: "Inzwischen wird Ihnen klar
sein, dass wir großen Katastrophen zutreiben. Abgesehen von den privaten -
unsere literarische Existenz ist ja vernichtet - führt das Ganze zum neuen
Krieg. Ich gebe keinen Heller mehr für unser Leben. Es ist gelungen, die
Barbarei regieren zu lassen. Machen Sie sich keine Illusionen. Die Hölle
regiert." – Zweig hat das lange nicht glauben wollen. Dieses
Nichtwahrhabenwollen dessen, was da geschieht, ich kann es nachvollziehen bei
einem, der so sehr versuchte, die Höhe des Menschen für die Menschen
festzuhalten. Die Vernichtung von Humanität und Toleranz war die Vernichtung
seiner geistigen Heimat. Er muß gefühlt haben, daß sein ganzes Werk
durchgestrichen ist. Wer hätte ihm sagen können, dort in diesem Bungalow in
Petropolis, was er uns heute noch bedeutet.
26.07.2010
Meine Freundin saß mal im Café mit ihrem Buch, und ein Typ sprach sie an
mit: "Warum lesen SIE Stefan Zweig?"