Überwältigend
schön und vollkommen niederschmetternd. Vergleichbar vielleicht mit Bowies
"Blackstar": weiter kann Kunst kaum gehen. Ein YouTube-Kommentar,
stellvertretend: "Well, Goddamn. You haven't made
an album. You've made a religious experience."
Stellvertretend nicht unbedingt dafür, daß jeder "Ghosteen" als "religiöse Erfahrung" empfindet, beileibe nicht, wohl aber dafür, wie tief dieses Werk Menschen berührt. Dadurch, wie es den Schmerz fühlbar macht, wie es versucht, mit der Pein umzugehen. "Ghosteen" steht am Rande dessen, was Menschen artikulieren können.
Momente ernsthaftester Einfachheit. "They are parting the cities, those bright burning horses", all die Bilder einer persönlichen Apokalypse, und dann: "And I'm by your side and I'm holding your hand." Die sphärischen Klänge analoger Synthesizer erinnern an Enos Ambient-Serie der späten Siebziger. Cave bewegt sich in Regionen, die ähnlich weit entfernt von allem sind wie die Isolation des späten Scott Walker, aber "Ghosteen" ist seine Suche nach dem Weg zurück, und er ist dabei umgeben von "spirit guides" (Elizabeth Aubrey im NME). Die sind überall auf "Ghosteen", umschweben den Trauernden wie Traumfragmente. Trauer, schier endloses Leid, völlige Desorientiertheit, und dann, Momente ernsthaftester Einfachheit: mein Baby kommt nach Hause mit dem 17 Uhr 30-Zug. Liebe, sich festhalten, um des lieben Lebens willen.
"A star is just the memory of a star."
Was für ein Privileg, so ein Werk hören zu dürfen.
"I've
seen things you people wouldn't believe. Attack ships on fire off the shoulder
of Orion. I watched C-beams glitter in the dark near the Tannhauser gate. All
those moments will be lost in time... like tears in rain... Time to die."
- Batty / Blade Runner
"Das
Bild, das wir erzeugt haben, wird das Begleitbild meines Sterbens sein."
"I'm very much down to
earth. Just not this earth."
Scott Walker verließ diese Welt offenbar an meinem Geburtstag, am 22. März.
Murmel murmel Wir sind die verbannte Armee Gefallene Engel der Finsternis Unter eklig blühenden Wiesen Und wir kommen noch auf euch zurück, Ignorantes Pack!
Das Übernatürliche: die Religionsgeschichte kennt es als
das Göttliche oder als Wunder, der Okkultismus kennt es als das Übersinnliche,
die Filmwelt kennt es als Greta Garbo. Das, was wir das "Natürliche"
nennen, ist Teil eines Ganzen, das wir, würden wir es kennen, die
"wirkliche Welt" nennen dürften. "Übernatürlich" wäre dann
alles, was zwischen unserer "natürlichen" Welt und dem Ende der
"wirklichen" Welt webt und lebt. Das Wunderwerk Push The Sky Away ist mit diesem Raum vertraut.
Das 15. Studioalbum der Bad Seeds ist das erste ohne Mick
Harvey, und Nick Cave hat sich darauf besonnen, daß er seinen eigenen Eno hat,
nämlich Warren Ellis. Ein Mann, der den Klang von fallendem Schnee kennt. Und
Ellis sorgt als dominante Figur mit bewundernswertem Sinn für das präzis
Diffuse, mit ätherischen und schemenhaften
Klängen, mit seinen drones, mit
unheimlichen Flötentönen, Orgelwellen und anderweltlichen loops ganz maßgeblich dafür, daß die Songs auf Push The Sky Away spukhaft heimgesucht werden; daß ein Hauch des Übernatürlichen
über ihnen liegt.
Eine Textur, die Caves Lyrics auf diesem Werk virtuos
komplementiert, in denen hinter dechiffrierbarer Aktion immer wieder ein ganz
anderes Narrativ zu existieren scheint, oder, wenn man so will: ein Narrativ
des Ganz Anderen.
The
tree don't care what the little bird sings
Daß der Song, der das Album mit sinistrer Mattigkeit
eröffnet, nicht "We Know Who You Are" heißt, sondern WE NO WHO U R,
Cave für den Titel die reduktionistische Schreibweise des Netzeitalters wählt,
gab Anlaß, bei the little bird an
Twitter zu denken. Schließlich hatte Cave ja auch erklärt, es fasziniere
ihn, "how on the internet profoundly significant events, momentary fads
and mystically-tinged absurdities sit side-by-side"; so fragen die Songs
auch danach, "how we might recognise and assign weight to what's genuinely
important". Vielleicht geht es um die Wirkkraft des Internet in WE NO
WHO U R, vielleicht deuten Lyrics wie "We know who you are / We know where
you live" auf die Invasion der Privatsphäre durch die virtuelle Sphäre. Das
Internet macht auch deshalb aus Menschen Furien, weil scheinbar allen alles
offen liegt. Tatsächlich irren wir im Internet auch nur durch einen dunklen
Wald.
Würde Clara WE NO WHO U R hören, es käme ihr ganz anderes in den Sinn.
Von Friedrich Schelling gibt es ein relativ unbekanntes
Fragment namens "Clara. Über den Zusammenhang der Natur mit der
Geisterwelt". Verfaßt wohl recht unmittelbar nach Caroline Schellings Tod
im Jahre 1809, wendet sich das philosophische Gespräch Clara den Dingen einer
anderen Welt zu, um festzustellen: die andere Welt beginnt in dieser Welt,
und diese Welt ist immer auch eine andere.
Clara, die Protagonistin, ist erfüllt von dem
"Gefühl eines namenlosen Schrecklichen in der Natur", von dem sie
sich "mit schauerlicher Lust bald vielleicht angezogen, bald wieder
abgestoßen" fühlt. Betrachtung der Natur ist für Clara mit Grauen
verbunden. Es grause ihr davor, wie in der Natur "alles Bezug hat auf den
Menschen". Die Natur scheine ein "geheimes verzehrendes Gift" in
sich zu haben, und würde nicht diesen "Schauern der Natur" eine
andere Macht in ihr das Gleichgewicht halten, sie müßte schier vergehen im
Gedanken an "dies ewig ringende, nie seiende Sein".
Clara fühlt, daß dieses Andere beständig auf sie
übergreift, beständig eine Grenze zu überschreiten sucht, und das Wort vom ringenden, aber nie seienden Sein
spricht als das Schreckliche der
Natur nicht das Undurchdringliche ihrer Beschaffenheit an; es handelt sich
vielmehr um die Ahnung, daß etwas in der Natur um eine andere Beschaffenheit ringt.
Der Zusammenhang des Menschen mit der Natur, den Clara
einen "magischen" nennen wird, werde wesentlich davon bestimmt,
"wie viel von dieser Sinnenwelt selbst ganz Unsinnliches ist".
Vielleicht sei dieses Unsinnliche ein unterschwelliges
Aufbegehren der Natur gegen die unaufhörliche Gewalt des Todes, die in ihr
herrscht. Vielleicht sehne sich die Natur danach, "von der Vergänglichkeit
erlöst zu werden. Eben dies, daß nichts dauert, diese innere Notwendigkeit,
nach der endlich alles zerstört wird, und die nur um so gräßlicher ist, je
stiller sie ist, eben diese ist das Ängstigende in der Natur."
Der Mensch als körperlich-geistiges Wesen ist Berührungs-
und Übergangspunkt zweier Welten, und das namenlose
Schreckliche in der Natur ist ihr Bestreben, diesen Übergangspunkt zu
erreichen. Das Sein ist deshalb nie einfach seiend, weil eine strebende Macht
in der Natur gleichsam ihrer Vorhut nacheilt, dem Menschen.
Als ob die Natur "wisse", daß sie vor der
Gegenwart des Menschen einen Abgrund von Vergangenheit darstellt, versucht sie
im Menschen ihre eigene Zukunft zu erreichen. Sie scheint ihn mit stummem
Seufzen anzuklagen oder stürzt sich auf ihn, richtet ihre Pfeile auf ihn,
verschlingt ihn, sie verwüstet und vernichtet. Die eingeschlossene Kraft in der
Natur, die sich "zu entwickeln bereit war", so empfindet es Clara,
teilt sich mit, weil sie, als noch bewußtloser, aber werdender Geist, ihr
Potential zu entfalten sucht; alles an ihr sucht den Menschen und will sich
seiner bemächtigen.
Darum also sehen die Dinge so aus, als ob sie bereit
wären, "noch ganz andere Lebenszeichen von sich zu geben als die jetzt
bekannten". Das "Schreckliche" ist das Maß ihrer Regung als
Freiheitsdrang, die freie Reaktion der Dinge auf ihre Unfreiheit. Das
Schreckliche ist Reaktion eines Innen auf ein Innen im Außen.
The
trees will stand like pleading hands
We
go down with the dew in the morning light
Nick
Cave tat kund, zentrales Thema von "Push The Sky Away" sei "the
tension between the male and the female". Aber, sagt
Clara, es geht auch um das namenlose
Schreckliche in der Natur und seine Interaktion mit dem Menschen. The trees all stand like pleading hands.
Natur als Hieroglyphe für Geist, für das Eingeschlossensein einer sich
gleichwohl regenden Freiheit.
WE NO WHO U R: im Video (Regie: Gaspar Noé)
folgen wir einem Schatten durch einen spärlich und
unheimlich angeleuchteten Wald. Nichts geschieht. Grauen angedeutet, nichts
explizit. Wir wissen nichts, nur, daß etwas Schreckliches geschehen ist,
geschehen wird, geschehen muß. Daß wir ein Potential
durchschreiten, das sich unserer zu bemächtigen
sucht. Wer ist das "Wir", das sich mit dem Morgentau auf die Welt
senkt? Wer
weiß im "We know who you are",
und was? Gespenstisch und sphärisch die Klänge, eine weibliche
Stimme begleitet Cave durch seine ernste Ergebenheit wie in frühen Leonard
Cohen-Songs, aus dem Nichts schwirren fragile, melancholische Flötenklänge
heran, all das kündet von schwelender Bedrohung und ist doch von seltsam
verzauberter Schönheit, Caves Stimme auf unbegreifliche Weise tröstlich, zu Beginn dieser intensiven
Kommunikation zwischen Mensch und Mächten namens Push The Sky Away. Vielleicht spricht hier irgendwas mit einer
kosmischen Stimme, vielleicht brütet irgendwas auf Rache, vielleicht begegnen wir
auch einer Natur, die im Sinne Claras an Schönheit teilhaben möchte, es aber
noch nicht kann ("Tree don't care what the little bird sings"),
vielleicht ist die eingeschlossene Kraft
in der Natur aber auch Erlösung. There
is no need to forgive.
Bald werden uns die Bäume noch viel fremdere Zeichen
geben, als Clara jemals ahnen konnte.
You
wave at the sky with wide lovely eyes
WIDE LOVELY EYES klingt wie ein herzergreifendes,
zärtliches Liebeslied, aber wide lovely
eyes sind das, was jemand an einer Frau erkennt, die er aus der Ferne
beobachtet: "And me at the high window watching". Meerjungfrauen
hängen mit ihrem Haar von Straßenlaternen, aber vielleicht gehören die auch zum
Inventar des sicher Brighton-inspirierten "dismantled funfair", den
die Frau ebenso durchwandert wie einen Tunnel, der ans Meer führt. Und dort
löst sie ihre Schnürbänder, arrangiert sorgfältig ihre Schuhe auf den
Kieselsteinen und steigt ins Wasser, möglicherweise für immer ("You wave
and wave with wide lovely eyes / Distant waves and waves of distant love / You
wave and say goodbye"). Aber war sie nicht schon immer im Verbund mit
den Elementen? Wie sonst könnte sie dem Himmel zuwinken? Und wie sonst könnte der Himmel es verstehen, dieses Winken with wide
lovely eyes, wenn er nicht, wie Clara es ausdrückt, Bezug hätte auf den Menschen?
Gehören die crystal
waves und die waves of blue dem
Meer oder den Augen der Frau?
"The night expands / I am expanding": der
magische Zusammenhang des Menschen mit der Natur, im vom Nick Cave
abgestempelten Lyricsheet gar ohne /. Die zurückhaltende Gitarre, strummed throughout, schürt Spannung und
klingt wie ablaufende Zeit. Und der Refrain klingt wie Wellen, unendlich
sanfte Wellen.
All
of you young girls where do you hide?
Down
by the water and the restless tide
Das Wasserthema, bzw. das Thema Frau & Wasser, setzt
sich fort in WATER'S EDGE. Mädchen kommen aus der Großstadt, um die local boys mit erblühender Laszivität um
den Verstand zu bringen, nicht irgendwo, sondern on the water's edge. Way down
where the stones meet the sea. Rastlos pulsierender, voluminöser Bass und
ominöse, mysteriöse Viola, dunkel und bedrohlich anschwellend, wie Wellen, die
an den Strand schlagen. Die Mädchen with
white strings flowing from their ears, vermutlich iPod, und a bible of tricks they do with their legs,
aber alles in geisterhafter Atmosphäre, aus Caves voyeuristischer Perspektive. Vom will of love zum thrill of
love zum chill of love: Warnung,
während die Violinen ängstlich werden. Übergangsritus, erotisches Spiel mit dem
Feuer, das Suchen nach einer Sprache, am Ende - auch wenn der Bass throb immer nur so tut, als käme
gleich die Detonation - Bilder, die eine rape
scene andeuten könnten, vielleicht kennt sich der Beobachter auch nur zu
gut aus mit beflecktem Eros.
Dem a girl named
Bee ausgeliefert war. Thema einer Schiffsladung von Nick Cave-Songs ist,
daß Frauen zur Obsession werden können. Thema vieler Nick-Cave-Songs ist, daß es nicht immer ein gutes Ende
nimmt. JUBILEE STREET spielt nach dem Mord an einer Prostituierten, aus der
Perspektive eines Freiers, wohl des Mörders, der vom Red Light District,
in dem Bee "a 10 ton catastrophe on a 60 pound chain" anzog, nicht
loskommt. Während die Akkordfolge des Songs immer intensiver wird, bewegt
sich der Mann, dessen Name auf jeder Seite ihres kleinen schwarzen Buches
stand, zwischen Scham und Euphorie, schließlich in eine übernatürliche Transformation: "I am alone now. I am
beyond recriminations. The curtains are shut. The furniture is gone. I'm
transforming. I'm vibrating. I'm glowing. I'm flying. Look at me now. I'm flying." Und er entschwindet in ein Crescendo, das die
hypnotischen Linien von Ellis' wehmütig klagender Violine in einen
majestätischen Streicherhimmel wandelt, ein unheimlicher Chor begleitet die
Himmelfahrt.
"Niemand sonst steht mit so viel Eleganz und Stil im
nebligen Eingang eines Bordells wie Nick Cave. [...] "I got love in my tummy
/ And a tiny little pain" singt er da, im Neonröhrenlicht, und es ist so
zwielichtig, so gefährlich, so brutal, wie nichts anderes auf der Welt. Das
Video der sinistren Vorabsingle 'Jubilee Street', durch das Cave so herrlich
großkotzig schlendert, ist keine sechzig Sekunden alt, da blickt man dem
Abgrund auch schon ins Gesicht." [plattentests.de]
For
I have seen your face
On
the floor of the ocean
Auf dem Cover von Push
The Sky Away wirkt Susie Cave, née Bick, wie eine langbeinige Meerjungfrau [Pirates of the Caribbean: On Stranger Tides
hat gerade kanonisiert, daß MERMAIDS sich an Land mit Beinen versehen], die
sich in das lichtdurchflutete Schlafzimmer verirrt hat und noch auf Zehenspitzen menschlichen Gang
ausprobiert, erste vorsichtige Schritte auf festem Grund. Cave öffnet gerade
die shutters, um Licht auf das zu
werfen, was da erscheint. Doch, es ist tatsächlich seine Frau.
"Hey!
Ho! / Oh baby don't you go / All supernatural on me", warnte Cave 2004 auf
Abattoir Blues / The Lyre Of Orpheus.
Andernfalls hole er den Grinderman.
"Übernatürlich" dort also Synonym für Unantastbarkeit, das erotisch Unerreichbare,
"supernatural" als Zustand verhinderter Erotik. Mittlerweile hat er
ihr Antlitz jedoch wieder auf dem Meeresgrund gesehen ("Die Vagina als
Eingang in den Ozean, als Teil aller Ozeane ..." - Theweleit), verbindet in
der Metapher das Sexuelle mit dem Übernatürlichen, was konfessionell in den
Glauben an the Rapture mündet. Man
kann an Gott, Meerjungfrauen oder 72 Jungfrauen an einer Kette glauben, why not why not. Außerdem sind sie
unübersehbar da, die Nixen.
"Fired from her crotch", also aus dem Ozean der Einen, fällt Cave vornüber ins Narrativ des Ganz Anderen und kontempliert die Schönheit der Meerjungfrauen. Sie
sonnen sich auf Felsen, unerreichbar für den Verstoßenen, sie winken und
gleiten zurück ins Wasser.
Die Musik behauptet einfach, daß Cave den lockenden und
gefährlichen Wasserfrauen tatsächlich zusieht. Eine schimmernd plätschernde
Gitarre, so wie es nur in mythischen Welten plätschern und sprudeln kann.
Blind, wer nicht das Sonnenlicht auf geheimnisvollem Wasser tanzen sieht. Ein
klagender, sehnsüchtiger Klang ganz am Rande des Songs, vom numinosen Ende der
wirklichen Welt. So ein Liebeslied, so einen Verschmelzungswunsch muß man
erstmal schreiben können, betört von den erotischen Reizen der Nixen, also vom Ganz Anderen. Das Beste an beiden Welten
ist, daß sie nur eine sind.
"I
mean she's so present within the record anyway. I think she's walking in and
out of that record all the time." - Nick Cave
Ein schabender Bass pocht bedrohlich auf einer einzigen
Note, tief und mit niederträchtiger Beharrlichkeit. Flirrende, unheimliche
Violinenklänge. Melancholisch funkelnde Pianospritzer. Im Keller des Songs,
kaum hörbar, rumpelt ein wenig Percussion. Und Cave spricht wie zu sich selbst.
Was das ergibt? Eine qualvoll schöne Ballade. Sie heißt WE REAL COOL (wie das
Gedicht von Gwendolyn Brooks von 1959) und verachtet das Coole. Sie steht
allein im Geisterhaften und will doch Ode sein an die Frau, mit der zusammen
das Ende der wirklichen Welt erreichbar ist. Oder wäre. Wenn sie nur wüßte, was
sie wissen müßte, nach all der Zeit, o Jesus. "The tension
between the male and the female" in Form eines bittersüßen Wer war es, der...? "Wrote you a book
you never read" - who was it? Yeah,
you know.
"Who
measured the distance from the planets / Right down to your big blue spinning
world". Der Liebende, der verzweifelt an cooler Gleichgültigkeit
gegenüber Bedeutungen, die man in Herzschlägen und Tränen maß. "I
hope you're listening", warnt Cave. "Who chased your shadow running out
behind / Clinging to your high-flying heels / Who was it? / Yeah you know, we
real cool."
Real cool, die Bedeutungen zu negieren, ihnen gegenüber achtlos zu
sein. Der Liebende kennt die Entfernung zu den Sternen, wie nur der Liebende
sich in der wirklichen Welt auskennt,
und warnt: nimm mir nicht das Wesen meines Wissens. Sonst bleiben nur die
Faktoide der natürlichen Welt:
"Sirius is eight-point-six light years away / Arcturus is
thirty-seven". Und "Wikipedia is heaven / When you don't want to
remember no more". Wenn einem die Erinnerung genommen wird, an das Entfernungsmessen in der besten aller
möglichen Welten.
And
the sky will devour the children
FINISHING JUBILEE STREET beschreibt zunächst Poesie als
die Macht von Bildern, neue Bilder zu beschwören. Ein Song, der davon handelt,
wie sich nach dem Schreiben eines Songs eine Obsession in eine andere
transformiert. "I had just finished writing Jubilee Street", als er,
Nicholas Edward Cave, in tiefen Schlaf fällt und beim Aufwachen davon überzeugt
ist, daß er im Traum ein sehr junges Mädchen namens Mary Stanford zu seiner
Braut gemacht hat. Und dann handelt der Song davon, wie die Traum-Information
die Wirklichkeit verändert. Wieder schleicht sich ein Ganz Anderes ein, um die Instabilität der "natürlichen"
Welt zu dokumentieren. Die mädchenhafte Braut zieht Blitze aus dem Himmel, und
Nicholas Edward Cave sucht Mary Stanford ("I said Hey little girl where do
you hide?") in einer surreal gewordenen Wirklichkeit, die das Mädchen als
numinose Macht zu durchweben scheint, irrationale Ängste auslösend. Der Himmel
wird die Kinder verschlingen. Die Natur scheine ein "geheimes,
verzehrendes Gift" in sich zu haben, fand Clara. "Last night
your shadow scampered up the wall / It flied and leaped like a black spider
between your legs / And cried / 'My children! My children! They are lost to
us!' All of this in her dark hair! O Lord!" Der
unheimliche spoken-word account löst sich ab mit einem Refrain - "See that
girl / Coming on down / Coming on down / Coming on down" - auf die
unfaßbar schönste, perplex machende Melodie, die je auf Erden zu hören war, vocals von Martha Skye Murphy. "Und
von dieser phlegmatischen Frauenstimme, die sich da im Refrain ausbreitet, wird
man nachts noch träumen" [plattentests.de]. Und beim Aufwachen davon
überzeugt sein, daß man im Traum...
HIGGS BOSON BLUES kennt keine andere Welt mehr als die
surreale. "Can't remember anything at all" - ein halluzinatorischer road trip auf dem Lost Highway, unterwegs nach Geneva
[Genf -> CERN], lange schwarze Straße, schwüle schwarze Nacht, am Kreuzweg
Robert Johnson mit seiner 10-Dollar-Gitarre, und Luzifer, Johnsons
Geschäftspartner, "a 100 black babies running from his genocidal
jaw". Robert
Johnson und der Teufel, Mann, "Don't know who is gonna rip off who". Bäume stehen in Flammen. Im Lorraine Motel predigt ein Mann "in a
language that's completely new". Ein Schuß, und alle bluten. Der da
unterwegs ist mit dem Higgs Boson Blues, er will begraben werden mit einer
mumifizierten Katze. Die Regenzeit ist nur noch simuliert. Miley Cyrus
vollendet das Thema Frau & Wasser, sie treibt in einem kalifornischen
Swimming-Pool. Tot oder lebendig. Es gibt nichts mehr zu erinnern außer: you're the best girl I ever had.
Regentage machen einen immer so traurig.
Freud bemerkt in seiner Studie zur Psychopathologie des
Alltagslebens, daß Cave auf dem Textblatt nicht Miley Cyrus schreibt, sondern Mylie
Cyrus (vgl. Kylie). Wie genau treibt das Starlet im Pool? Und warum?
"Well,
I don't know that she's face down," sagt Cave. "Maybe she's on a
lilo. In some ways, if she is lying on a lilo then it's even more of a
devastating image, considering the nature of the song and the absolute
spiritual collapse that's happening all around her. No, let's say she's just on
a lilo. Let me just say: I've got nothing particular against Miley Cyrus. The
whole thing came about because I was in Madame Tussauds with my kids and they
were hugging Miley Cyrus's waxwork. Elizabeth Taylor as Cleopatra was in the
next room. They were groping Miley Cyrus, and I'm going, well, hang on a
second, you've got Elizabeth Taylor here. 'Who?' And that had some impact on
me, and that's why she's floating in the pool."
Absolute spiritual collapse. Der da unterwegs
ist, weiß nicht mehr, wohin noch und was tun; Geneva liegt am Ende eines Weges quer durch Zeit und Raum, irgendwo
auf dem Weg epidemieverbreitende Missionare, im Lorraine Motel wurde Martin
Luther King ermordet.
Joseph Lykken, am CMS-Experiment des Large Hadron
Collider beteiligter Physiker, hat anhand der im Juli 2012 veröffentlichten
Daten über das Higgs-Boson errechnet, daß das Universum instabil ist. Beim
Jahrestreffen der AAAS (American Association for the Advancement of Science)
faßte er seine Ergebnisse zusammen und formulierte dabei den Satz:
"The
universe wants to be in a different state, so eventually to realize that, a
little bubble of what you might think of as an alternate universe will appear
somewhere, and it will spread out and destroy us."
Woran erinnert der Satz, daß
das Universum einen anderen Zustand annehmen will? Right. Lykken weiß
aber wohl nichts von Claras Ahnung, daß etwas in der Natur um eine ganz
andere Beschaffenheit ringt.
Die Odyssee durch die
grotesken Szenen der spirituellen Katastrophe, der phantasmagorische und
immer deliriösere trip, auf dem zwangsläufig alles durcheinanderwirbelt,
erklärt nicht, warum Materie Masse hat. Aber wenn in der Erosion aller
Wahrheiten deutlich wird, was der Welt Gewicht verleiht ("you're
the best girl I ever had"), bleibt nur eins.
PUSH THE SKY AWAY. You've gotta just keep on
pushing / Keep on pushing / Push the sky away.
"... assertion of
self-belief in the face of uncertainty" (Andy Gill). Nie war der psychosexuelle Feuer-und-Schwefel-Sermon so fern wie hier, wenn Nick Cave über diesem komplett anderweltlichen
orgelartigen Klang mit einer der beseeltesten vocal performances seines Sängerdaseins schließlich sich selbst
entsendet in den offenen Raum jenseits des Himmels.
Ein wunderschöner
Anblick.
Alles Bekannte wandelt sich auf Push The Sky Away, etwas Ungreifbares, Traumgleiches verfremdet die
Bilder, alles Ausgesprochene verweist auf Unausgesprochenes, seltsam schwerelos
und schwebend bewegt sich alles hier, und so wie Mary Stanford Blitze aus dem
Himmel zieht, so zieht Warren Ellis Klänge aus der Unergründlichkeit.
"Well, if I were to use that threadbare
metaphor of albums being like children, then Push The Sky Away is the
ghost-baby in the incubator and Warren's loops are its tiny, trembling
heart-beat." - Nick Cave
Und ich schäme mich dessen nicht! "Die Frau in Weiß" überfiel
mich, als ich 15 war, seitdem beneide ich, neben Pferdeknechten an australischen
Mädchenpensionaten um 1900 (aber das ist jetzt "Picknick am
Valentinstag"), englische Zeichenlehrer. Damals schien mir die Gestalt des
Conte Fosco extrem unheimlich – trotz beleibter Präsenz völlige Ungreifbarkeit,
genial, dunkel, böse, brillant. In einer Verfilmung von 1948 wird Fosco von
Sydney Greenstreet gespielt, Marian Halcombe von Alexis Smith und Laura Fairlie
/ Anne Catherick von Eleanor Parker – wird dem komplexen Buch natürlich nicht
gerecht, ist als Film jedoch sehr spannend und sehr schön besetzt, Curt Bois
erscheint als der arme Louis, special Blitzableiter für das exzentrische Leiden
Frederick Fairlies, der sein zerrüttetes Nervenkostüm rhetorisch ziseliert zur
Schau stellt. Gerade dieser Film löst das seltsame Dreiecksverhältnis zwischen
Walter, Marian und Laura überraschend auf - indem er es eben nicht auflöst, und
die Schlußszene erinnere ich, gerade wegen ihrer lächelnden Harmonie, als
durchaus gewagt. Ein Buch, das ich immer lieben werde, genau wie Stokers
"Dracula", das ja ähnlicher Erzähltechnik frönt. Kommen wir jetzt zu
Charles Dickens?
"Ich hatte die Fähigkeit, mich zu wundern, offenbar verloren. In der
Welt des Stoffes gab es nichts das Erstaunen wertes, außer Dora Spenlow."