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02.12.2008
02.12.2008
Goldfrapp - Seventh Tree
Wie immer machen Goldfrapp nichts so wie zuvor, der
Disco-Glam mit perversem Unterton ist verschwunden zugunsten von Cocteau Twins
mit perversem Unterton. Denkt man zuerst. Und dann wird die Platte mit jedem Hören
gewaltiger und am Ende steht man wieder mit offenem Mund vor dieser völlig
einzigartigen Band und fragt sich, woran einen das nur erinnert. Jedenfalls
nicht, bei aller neuen Wärme und allen Akustikgitarren, an Treehugging. An gar
nichts, außer daß Alison Goldfrapp das ewige Mädchen ist, das immer da und
immer unerreichbar ist. Die seltsam vollkommene und seltsam irreale Erscheinung
in einem Puppenhaus, die darauf wartet, daß ihr eine Seele eingehaucht wird.
Die Attraktion in einem schäbigen Stripteaseclub, mit ihrem Blick des eisigen
Verzichts und überlegener Verachtung, Göttin der einsamen Tränen, die nur der
Spiegel sehen darf.
Ladytron - Velocifero
Helen Marnie, Mira Aroyo und ihre 2 Mitstreiter haben den
distanziert-erotischen Elektro-Minimalismus ausgebaut in eine betörende
Vielschichtigkeit, in der sich Synth-Lagen übereinander türmen und ein
"Speed Of Life"-artig verzerrt polterndes Schlagzeug Bass und
Gitarren in den Electroclash zieht. Wie Goldfrapp eine sonderbare Mischung
jetzt aus warm und kühl, nach wie vor paßt aber der gelegentliche Song in
Bulgarisch bestens zur gertenschlanken Hineingestelltheit dieser beiden
irgendwie exoterrestrisch wirkenden Damen in Situationen, in denen der
schreckende Übergang von Sex zu großem Gefühl zum Rücksturz mit dem Kubrickschen
Raumgleiter verführt ("I'm not scared to go home"). Wenn diese immer
etwas verhallten, unterkühlten Stimmen "They gave you a heart"
konstatieren, klingt das immer noch wie die leicht verwunderte Selbstreflexion
von Roboterpuppen, noch immer paart sich "Venus sucht den Superstar"
mit der sozialistischen Strenge eines völlig unbegründet optimistischen
Aufbruchs, aber im Video werden jetzt schon mal pelzige Nager gehalten, auch
wenn der energische Schritt nirgendwohin führt. Botschaften wie Lautsprecherdurchsagen
in Metropolis: "I wrote a protest song about you." Hudson Astrolook +
Melancholie, die beiden müssen herzzerreißend schöne Melodien, die zugleich von
enormer Traurigkeit sind, im Kühlschrank lagern, der letzte Song,
"Versus", ist schon fast unerträglich genial. Like a
kitten versus rain.
Nine Inch Nails - Ghosts I-IV
Eine Schiffsladung Geister, die so unerwartete Dinge wie
Steelgitarre, Banjo und Dulcimer mitbringt, daß Reznor sich mit
glasscherbenscharfen Satie- oder Debussyklängen auskennt, wußte man ja. 36
dunkle Träume, während Eno ein Nickerchen macht. Während Eno im Studio zur
Inspiration gern Kärtchen mit kryptischen Texten verteilt, war für jedes Stück
von "Ghosts" irgendeine visuelle Referenz der Ausgangspunkt,
imaginierte Orte, Szenarios, die dann mit Sound und Textur bekleidet wurden,
akustische Gemälde, Einladung zur Verstörung wie immer inklusive.
Gutter Twins - Saturnalia
Mark Lanegan und Greg Dulli hausen in dem Keller, in dem
Rowland S. Howard mit These Immortal Souls hauste. Düsterer, rauher, weißer
Blues, voll der hundertmal zerfledderten Zärtlichkeit, die man nur auf
verbrannter Erde fühlen kann. "All Misery/Flowers" fängt mit dem
Drumbeat an, der auch U2's "Trip Through Your Wires" eröffnet, dann
kommt Lanegans Stimme und macht daraus Stadionrock für Satans Stadion, nach der
ersten Strophe ein Sound wie von einem riesigen prähistorischen Vogel, weit da
oben, aber nicht mehr lange. Eine Million Zigaretten später nagelt dich
"Idle Hands" ans Kreuz, und von da aus siehst du zu, wie hier alles
ominös aus irgendeinem Dunkel kriecht, um Oden an den Herzbruch zu veredeln.
Beste Platte, wenn du von Bruder, Schwester, Vater, Mutter, der Liebsten und
schließlich allen guten Geistern verlassen bist. In dieser
Reihenfolge.