Montag, 4. Mai 2020

Tourneur, Katzenmenschen. Teil 3







Simone Simon






Am nächsten Tag, im Büro. Oliver arbeitet mit Alice an einer Kalkulation und gibt durch falsche Angaben seinen Gemütszustand preis. "That's the third wrong figure you've given me this morning!" Alice schlägt eine Zigarettenpause vor, und am Wasser-Automaten stellt sie mit ihrer clever-girl-Stimme fest: "Something's on your mind!" Als Oliver zunächst ausweicht, insistiert sie: "Must be marriage." – "Well, in a way it is. I'm worried about Irena." – "But I thought she was going to Dr. Judd?" – "Yeah, that's what I thought." Aber Irena ist seit ihrem ersten Besuch nicht mehr bei Dr. Judd gewesen. "But you told me she seems so anxious to be cured." – "Apparently not", zerdrückt Oliver seinen Becher. "I'm sorry, Ollie. Must make you very unhappy." Ollie offenbart seine Unfähigkeit im Umgang mit Irena – Eindimensionalität und Seichtheit: "You know, it's a funny thing. I've never been unhappy before. Things have always gone swell for me. I had a grand time as a kid, lots of fun at school, here at the office with you and the Commodore and Doc. That's why I don't know what to do about all this. I've just never been unhappy..."

Alice beginnt zu schnüffeln; ihre Tränen sind effektvoll genug platziert, um selbst Oliver etwas mitzuteilen: "Hey... now wait a minute!" Er reicht ihr ein Kleenex und schiebt sie hinter ein Regal, für eine etwas intimere Situation. "I can't help it", erklärt Alice. "I just can't help it. I can't bear to see you unhappy. I love you too darn much, and I don't care if you do know it, Ollie. I love you. I'm sorry, forget it. There's Irena – you're in love with her." Aber Oliver ist ins Grübeln gekommen:

"I don't know. All this trouble has made me think... I don't know what love really is. I don't know even whether I'm in love with Irena." Und Alice nutzt die Gunst des Augenblicks für Worte, von denen sie sicher sein kann, daß sie in diesem Augenblick Oliver wie eine Verlockung erscheinen müssen: 

"I know what love is! It's understanding. It's you and me and let the rest of the world go by. It's just the two of us living our lives together, happily and proudly. No self-torture and no doubt. It's enduring and it's everlasting. Nothing can change it. Nothing can change us, Ollie. That's what I think love is."

"Well, that isn't the way I feel about Irena", entgegnet Oliver. "It's a different feeling. I'm drawn to her. There's a warmth from her that pulls at me. I have to watch her when she's in the room. I have to touch her when she's near. But I don't really know her. In many ways, we're strangers." Trotzdem ist Oliver Irena in diesem Augenblick näher als in ihrer Nähe. Um die Sprache zu vollenden, die der Americano versteht, nimmt Alice seine Hand: "You and I – we'll never be strangers!"

Mit Irena und Alice – die "seltsame Ausländerin" und das "ganz normale Mädchen" – stehen sich Welten gegenüber: undurchschaubare Erotik, das Fremdartige und der Hauch des Perversen einerseits; unkompliziertes Zusammenleben mit der Maxime: nothing can change us andererseits. Das Annehmen des Komplizierten gegen das Ausschließen des Komplizierten als "self-torture". Die magnetisch anziehende, "gefährliche" Frau, exotisch und mysteriös – und die Frau als "ungefährlicher" Kumpel. Eine Welt jenseits der Vorstellungen und eine übersichtlich geordnete Welt. Das den Film nun dominierende Thema der weiblichen Rivalität verschärft sich durch Olivers fortgesetzte Ignoranz; er bricht sein Versprechen an Irena, für ihr Glück alles zu tun (Handstände auf der Straße!), schon am nächsten Tag, indem er seine Nöte zu vertraulichen Mitteilungen an Alice macht. In seiner Ratlosigkeit über Irenas Zustand, mehr noch über seinen eigenen Zustand des ihm bislang unbekannten Unglücklichseins, sucht er Trost bei Alice. Diese nutzt den günstigen Augenblick und gesteht ihre Liebe zu Oliver. Die "gute" Alice, der gute Kumpel, such a good egg – all dies wird von Lewton und Tourneur unterhöhlt. Was tatsächlich geschieht und dazu beiträgt, daß es nicht gelingen will, Irena als "die Böse" zu betrachten, ist, daß Alice sich an einen verheirateten Mann heranmacht.

Irena, die Oliver zugetan und dankbar ist, hatte niemals vor, die Büchse der Pandora zu öffnen und das "Böse" in ihr auf die Welt loszulassen; sie wird dazu getrieben. Das Dämonische antwortet auf seine Dämonisierung als es selbst, hätte aber ohne seine Dämonisierung vielleicht geschwiegen. Oliver ist besorgt, aber mehr um sich selbst. Jenes Andere, das Irena repräsentiert, mag bezaubern, betören, hypnotische Faszination ausüben; letztlich wird doch von ihm erwartet, daß es sich durchschauen, einordnen und auf die Ebene der Normalität bringen läßt. Da dies nicht gelingt, wird ihm sein ursprünglich hilfesuchender und vertrauensvoller Kontakt mit dem Normalen als bedrohlicher Übergriff gespiegelt: immer deutlicher wird Irena zu verstehen gegeben, daß sie ein unerwünschter Eindringling ist. So wird das "Böse" gezwungen, sich zu sich selbst zu bekennen, obwohl dieses Andere gewillt war, sein dunkles Wesen im Zaum zu halten. Lewton und Tourneur stellen sich, indem sie diesen Prozeß erkennbar machen, auf Irenas Seite. 

Newman nennt Alices Konfessionen "the film's worst speech", jedoch:

"This flatly-shot, rather prosily-written scene is curiously affecting: Smith and Randolph sense that they have a moment on screen without competition from Simon, and struggle for the meaning in their lines as their characters struggle with a world beyond their comprehension. Given that the scare stuff in the rest of the film depends upon an audience empathising with Alice, who is the possible victim in two famous stalking sequences, this scene is also supposed to make us to some extent write off our sympathy for Irena and think more fondly of Alice. If Irena is the monster then Alice is, after all, the heroine. Though the fright scenes work, demonstrating that it's possible for audiences to be unnerved on behalf of an unsympathetic character, nothing could make us really like the calculating Alice or the cloddish Oliver. Is it possible that square audiences of the time identified with these limited 'Americanos' and were repulsed by the sinisterly foreign Irena? If so, it's a bizarre effect for a film directed and produced by immigrants, a Frenchman and a Russian" (Newman, 39 ff.)

Ebenso äußert sich Dyson: Alice erscheint als Version des "good clean all-American girl, in contrast to Irena's European neuroticism"; jedoch sei auffällig, "and not surprising, given Lewton's lineage, (...) that whereas one might expect our sympathies to extend to Oliver, they remain increasingly with Irena." (Dyson, 112). – Alice wiederum zielt am Punkt vorbei, wenn sie zu Oliver sagt: "You and I, we'll never be strangers", just in dem Augenblick, als Oliver seine Faszination für Irena beschrieben hat. So unzulänglich er für dieses Wesen ist und bleiben wird, so sehr erweist er sich in diesem Augenblick auch als tragischer Charakter. Auch wenn im Film nicht unbedingt sichtbar wird, was er in diesen Sätzen äußert: er hat etwas ganz Besonderes wahrgenommen, das er nicht versteht. Andere nehmen das Außerordentliche noch nicht einmal wahr.

Die nächste Szene, wieder im Central Park-Zoo. Während das Liedchen zu hören ist, das der Zoowärter singt, geht Irena an den Käfigen vorbei. Sie bemerkt, daß der Zoowärter den Schlüssel zum Käfig des schwarzen Panthers im Schloß vergessen hat. Sie öffnet das kleine Tor, das den direkten Zugang zu den Käfigen erlaubt, läßt den Zuschauer für einen Moment im Ungewissen, zieht den Schlüssel auch tatsächlich aus dem Schloß, folgt aber dem Wärter (wobei der Panther sie laut anfaucht): "You forgot your key!" – "Aww, I'm always forgettin' it!" – Aber das sei nicht weiter schlimm: "Nobody'd want to steal one of them critters!" – Lächelnd wendet sich Irena zum Gehen, doch sie muß feststellen, daß jemand sie beobachtet hat: Dr. Judd, der sich a) gedacht hat, wo sie zu finden ist und b) ein intensives Interesse daran hatte, sie zu finden. Er spricht sie an: "You resist temptation admirably." – "Temptation?" fragt Irena scharf und frostig zurück. "The, uh... key." Er zeigt mit seinem ominösen walking stick in Richtung Käfigschloß. – "Oh. Why would I want it?" – "For many reasons. There is in some cases a psychic need to loose evil upon the world, and we all of us carry within us a desire for death. You fear the panther, yet you're drawn to him, again and again. Couldn't you turn to him as an instrument of death?" Irena blickt ihn kurz an, als fühle sie sich ertappt. 

"You didn't come back to see me Friday. I've had to come to you!", erklärt Dr. Judd. – "How did you know where to find me?" – "You told me many things", lächelt der Durchtriebene. "Why didn't you come back?" – Irena erklärt ihm offen, daß er auf dem Holzweg sei, wenn er ihre Angst einem mentalen Problem zuschreibe: "I don't feel you can help me. You're very wise, you know a great deal, yet when you speak of the soul, you mean the mind, and it is not my mind that is troubled." – "What a clever girl", antwortet der selbstgefällige Doktor. "All the psychologists have tried for years to find that subtle difference between mind and soul, and you've found it." – "It does seem presumptuous of me, doesn't it? Goodbye, doctor."

An diesem Abend ist es Oliver, der unruhig auf und ab schleicht, während Irena ihre Malutensilien reinigt. Schließlich beginnt er: "Irena... I'm worried. What's happening to us?" – "I love you, Oliver." – "I know, but... people can love and people can still drift apart, and that's what I feel is happening to us. We don't talk together openly. You're not frank with me." Oliver beklagt eine Entfremdung, ohne daß er wahre Annäherung versucht hätte.

Irena antwortet auf den Vorwurf, sie sei nicht offen, mit einer gewissen Gereiztheit und der Versicherung ihrer Wahrhaftigkeit: "I've never lied to you." Als Oliver sie damit konfrontiert, daß er Dr. Judd getroffen habe, erklärt sie es auch ihm: "He can not help me." Oliver behauptet, sie wolle sich nicht helfen lassen: "You won't let him help you. You won't let me help you. You won't even help yourself. It's what I said to Alice this afternoon, you're content to go on – " 

Bei der Erwähnung des Namens jener Frau, mit der Oliver sich offenbar so leicht und gut verständigt, blitzen Irenas Augen auf, und sie wiederholt den Namen als Peitschenknall: "Alice!" Fünf Sekunden Stille. "I... I promised you we'd never quarrel", murmelt Oliver. Irena schluckt. Er sagt: "Let's calm down a bit. I go back to the office. I've got some work to do."

Dies ist ein entscheidender Moment, "because the thing that was not supposed to happen has happened and Irena has lost her temper. And it's no coincidence that at this point (...) Tourneur begins to become a more visible presence. Up until now it's really been Lewton's show, but when it comes to the evocation of fear Tourneur proves himself to be the maestro. From now until the film's climax we are treated to a number of sequences of escalating tension, all based around a teasing is it real?/is it imagined? structure" (Dyson, 113). 

Um also nicht Irenas Eifersucht und Zorn durch einen Streit anzufachen – oder weil er hofft, Alice dort zu treffen -, verläßt Oliver das Apartment in Richtung Büro. Als er das Gebäude erreicht, stutzt er, denn die Drehtür bewegt sich – ein phantastischer Effekt bei völliger Stille. Wir wissen, daß Irena kurz die Kontrolle über sich verloren hat. Wir wissen nicht, was dann passiert ist. Ist jemand, oder etwas, vor Oliver in dem Gebäude angekommen? Wartet es auf ihn in dem dunklen Gebäude? Oliver sieht, was der Zuschauer erst nach einigen Sekunden als Entwarnung erfährt: wie sich nämlich eine Putzfrau bei der Arbeit aus dem Inneren des Gebäudes durch die Drehtür robbt. Die Putzfrau ist eine der Nebenfiguren, denen durch ein signifikantes Detail Authentizität verliehen wird: sie wischt ständig imaginäre Zigarettenasche von der Bluse. Diese kleinen Details erhöhen den Glaubwürdigkeitsfaktor einer Geschichte, die übernatürlich enden wird; sie gehören zur Grundierung für den Riß im Universum.

Oliver entscheidet sich, bevor er das Büro aufsucht, noch zu Sally Lunn's zu gehen. Minnie, die schwarze waitress des Cafes, bietet ihm Chicken Gumbo an, doch als guter Americano bestellt er Kaffee und Apple Pie. Wenn Minnie davonzieht mit der Bemerkung "My goodness, don't nobody like Chicken Gumbo?", ist klar, daß hier nur gute Americanos verkehren.








Schnitt: Alice, zur selben Zeit, im dunklen, nur vom Licht eines Zeichentisches erleuchteten Büro mit seinen unheimlichen Schatten. Auf dem Zeichentisch sitzt eine Katze. Alice will gerade gehen, als das Telefon läutet. Sie ruft mehrmals "Hello?" in den Hörer, aber niemand meldet sich. Schnitt: es ist Irena, die von ihrer Wohnung aus anruft, vielleicht in der Hoffnung, den Streit wieder gutzumachen und sich mit Oliver zu versöhnen, vielleicht, weil sie einen Verdacht hat. Sie steht neben der King-John-Statue. Langsam legt sie den Hörer auf. Wir, die Zuschauer, müssen davon ausgehen, daß Oliver Alice zu diesem Zeitpunkt im Büro weiß. Und Irena muß davon ausgehen, daß Oliver mehr als nur Freundschaft mit Alice verbindet. Alice legt auf und fragt empört die Bürokatze: "John Paul Jones, don't you hate people who do that?" Das Tier, offenbar von Alice importiert im Hinblick auf Olivers plötzliche Neigung zu Katzen, wurde auf den Namen eines amerikanischen Schiffskommandeurs und Nationalhelden getauft. Alice löscht das letzte Licht und verläßt das Büro.

Schnitt: Irena nimmt ihren Pelzmantel und verläßt das Apartment. Schnitt: Alice verläßt den Fahrstuhl des leeren Bürogebäudes. Auf dem Soundtrack beginnt das Geräusch der hohen Absätze zu dominieren. Schnitt und Gegenschnitt erzielen "the rise in tension that is to culminate in the famous walk through Central Park" (Dyson, 114). 

Die Putzfrau ist noch immer in der Bürohalle zugange, und bei einem kurzen small talk erfährt Alice, daß Mr. Reed soeben hier war und wo er jetzt zu finden ist. Alice beschließt natürlich, Oliver im Cafe zu treffen. Keine Musik mehr auf dem Soundtrack, seit Minuten. Als Alice das Sally Lunn's betritt, ist im Hintergrund ein Schatten zu sehen, der einem schwarzen Panther gleicht (erst auf den zweiten Blick sieht man, daß dort eine Frau mit Hut reglos an einem Tisch sitzt). Alice findet Oliver grübelnd am Tisch: "What are you doing in this part of town at this hour of night?. Mmmhh... stormy weather!" Schnitt: Irena hat sich dem Sally Lunn's genähert; parallel dazu schleicht sich ein unheimliches Motiv auf dem Soundtrack an. Irena steht jetzt vor dem Cafe und blickt hinein; sie sieht Oliver und Alice, die letzten Gäste. Gerade sagt Alice: "Ollie, you're gonna have to solve your problems your own way. I'm goin' to drink out and go home. I think you better go home too and make it up with Irena." – "Alice... you're very swell." – "That's what makes me dangerous. I'm the new type of other woman." – Irena belauscht diese Worte mit sinistrer Selbstbeherrschung, verborgen hinter dem Fenster. Bild für Bild wird Spannung aufgebaut; über allem liegt die bedrohliche Frage, ob und wie sich Irenas anger manifestieren wird. Als Oliver und Alice kurz darauf das Restaurant verlassen, verbirgt Irena sich hinter einem Blumenarrangement. Sie gehen den Weg, den Irena vor Sekunden ging, und Alice überläuft ein Schauer. Oliver: "You cold?" – Sie antwortet: "A cat just walked over my grave!" Konturiert erscheint das Buchstäbliche im Metaphorischen: a cat just walked.

Dunkle Straßen, nur Laternenlichtschein. Oliver bietet Alice an, sie nach Hause zu bringen, doch sie lehnt ab mit einem albernen "No thanks, I'm a big girl now and I'm not afraid." Sie verabschieden sich, indem sie sich die Hand geben. Irena hat den Weg der beiden beobachtet. Alice ist jetzt ihre Feindin. "The threat of violence from a woman to another is far more disturbing than a more conventional crossgender menace – everyone is aware of the savage rage sexual jealousy can inspire between rivals (...)" (Dyson, 114).

So beginnt die erste der stalking sequences, für die der Film berühmt ist, ein Kunststück des Horrorgenres, "truly frightening" (Dyson, 114). Eine dunkle Park-Unterführung, als langgezogene Ellipse; der Weg, den Alice vor sich hat, verläuft entlang einer hohen Steinmauer. Alice geht also allein durch den Park – "a concept modern audiences probably find more terrifying than those of 1942" (Newman, 42) –,  tiefer in die Dunkelheit hinein. Das einzige Geräusch ist jetzt der Klang der Absätze auf dem Pflaster, während Alice sich durch Regionen der Dunkelheit von einem Laternenlichtkegel zum nächsten bewegt – und Irena ihr folgt, "her face a determined blank" (Newman, 42). Es sind zwei verschiedene Taktfrequenzen; die Schritte Irenas sind kürzer und energischer. Jeder Anschlag ihrer high heels auf dem Steinpflaster verkündet ihren Zustand: zurückgewiesen, unverstanden, erzürnt – gefährlich. Die ersten Einstellungen zeigen die beiden Frauen abwechselnd in full shots: die Kamera steht im rechten Winkel zum Weg, so daß zuerst Alice zu sehen ist, die den Bildausschnitt von links nach rechts durchmißt, im Hintergrund die Steinmauer, kurz darauf Irena. Dies wird abgelöst durch close-ups, die sich auf den Gang, die Schritte, die Schuhe mit den hohen Absätzen konzentrieren, die einen noch gleichmäßig und langsamer, die anderen rasch, furios und determiniert.








Dann eine Einstellung von Alice, wie sie aus einer Zone der Dunkelheit wieder in den Radius eines Laternenlichtkegels gelangt. Die Kamera bleibt stehen, und wir warten darauf, daß Irena jetzt, wie zuvor, durch denselben Bildausschnitt geht. Aber die Schritte, die wir als Irenas erkannt haben, sind verklungen. Ein weiterer Geniestreich des Films: Alice bleibt alarmiert stehen, mit dem Gefühl, daß jemand – oder etwas – sie verfolgt, just in dem Augenblick, in dem der Klang der anderen Absätze verschwunden ist. Alice dreht sich langsam um: der zurückgelegte Weg, die leichte Biegung des Weges entlang der Steinmauer, leichter Nebel, etwa 30 Meter Sicht, zwei Straßenlaternen. Eine leere Straße. Nichts und niemand. Langsam nimmt Alice ihren Schritt wieder auf, während sie verängstigt auf das lauscht, was sie als bedrohliche, unsichtbare, tödliche Präsenz noch immer hinter sich spürt; dann beginnt sie zu laufen, sieht sich noch einmal panisch um, die Kamera blickt mit ihr zurück, sie läuft schneller, nach wie vor sind nur ihre Schritte zu hören, schließlich bleibt sie außer Atem an einem Pfahl stehen – das toughe Karrieremädchen "shrinking like a terrorised silent movie ingénue" (Newman, 42). Und in diesem Moment, als wir auf alles gefaßt sind, hören wir ein Grollen, dann zerfetzt ein Geräusch die Spannung, das wie das Fauchen eines großen Panthers klingt, der zum Sprung ansetzt.

Dieses Geräusch, das Kinozuschauer vor Schreck aus den Sitzen riß, hat Filmgeschichte geschrieben. Seine tatsächliche Ursache ist die nervenerschütternde Ankunft eines Nachtbusses, der abrupt bremst, um an der Straßenkante zum Stehen zu kommen und dessen Fahrer gleichzeitig die Türhydraulik betätigt. Der Bus schießt von rechts nach links ins Bild, was um so erschreckender ist, als die Gefahr von der anderen Seite erwartet wird. Alice hält sich vor Schreck an der Griffstange der Bustür fest, und dreht sich um: sie erblickt oberhalb der Steinmauer, fahl erleuchtet, eine Reihe von Büschen, deren Zweige sich bewegen und rascheln, als würde etwas darin lauern oder sich gerade darin verstecken. Sie steigt in den Bus; der Fahrer ruft: "You look as if you've seen a ghost." Alice keucht: "Did you see it?" Der Fahrer schüttelt verständnislos den Kopf und startet den Bus. Noch einmal sind die Zweige vor dem dunklen Nachthimmel zu sehen – etwas relativ Großes muß sie bewegen. Etwas geht hier vor, außerhalb unseres Sichtfeldes. Schnitt zu dem schwarzen Panther im Central Park; er befindet sich in seinem Käfig. Unruhig grummelnd, aber an seinem Platz. Dann das Blöken von Lämmern, die durch das Dunkel laufen: offensichtlich ein Areal des Zoos mit freilaufenden Schafen. Ein Parkwächter mit einer Laterne entdeckt drei oder vier Lämmer auf der Erde liegen, blutig zerfetzt. Er bemerkt im Schein seiner Laterne die Abdrücke von Tatzen und trillert mit seiner Pfeife Alarm. Die Kamera folgt der Spur der Tatzenabdrücke, die sich wandelt in eine Blutspur, Blut an den Sohlen und spitzen Absätzen eines Damenschuhs; währenddessen ist der Klang der Absätze wieder zu hören. Dyson erkennt hier einen weiteren "brilliant moment" – "the animal pawprints gradually changing into human footprints – it's hard to think of a more economical method of communicating what's happened" (Dyson, 116). Brillanter noch wird dieser Moment durch die Abwesenheit jeder "dramatisch betonenden" Musik auf dem Soundtrack.

Jene Sekunde, in der das Geräusch von Irenas Absätzen im Central Park verklang, war die Sekunde, in der ihre Metamorphose in einen Panther begann.

Und dann sehen wir Irena wieder, in ihrem schwarzen Pelzmantel, sich ein Taschentuch vor den Mund haltend (oder Blut von den Lippen wischend). Ihr scheint übel zu sein. Sie ist benommen. Sie hört das Trillern der Pfeife, es ist ganz nah; sie ist noch nicht weit vom Schauplatz entfernt, aber wieder auf dem Weg neben der Steinmauer. Auch sie fährt zusammen, als ein Wagen neben ihr hält: "Taxi, Lady?" – Irena steigt ein.

Ein bestimmter Moment dieses Films also, die Szene mit dem Bus, kreierte einen neuen terminus technicus der Filmsprache: ähnlich konstruierte Szenen hießen fortan bus. "This trick is now so much a part of the horror movie repertoire that it is hard to imagine anyone inventing it: John Carpenter's Halloween (1978) is constructed around its 'busses' (...)" (Newman, 43). 

Dyson geht der Szene auf den Grund: "The gap between the noise and the visual cue is all important because it allows the space for our minds to think one thing (big cat) and experience the full rush of fear. This provides the jump – and with it the release of tension – that the build-up requires. And that jump is considerable because it has been fed not just by the walk through the park, but by the less obvious screw-tightening of the previous scenes. A close analysis of the noise reaveals how much it contributes to the frisson. Its first half is definitely feline, which is then crossfaded and overdubbed with the sound of pneumatic breaks. Our imaginations are not working in isolation. They are being guided by Tourneur and his editing team to draw the conclusion they want." (Dyson, 115).

Newman zitiert Tourneurs editor, Mark Robson, hinsichtlich des "panther-like hiss of air-brakes": "Looking over her right shoulder in terror, this girl backed away from the mysterious sound, ready to accept anything that might jump on her. From the other side of the park a bus came by, and I put this big, solid sound of air-brakes on it (...)" (zit.in: Newman, 42). Die Spannung und der Terror der Szene steigern sich, bis das pneumatische Zischen nahezu den Effekt eines physischen Schlages hat. Alles hat uns vorbereitet auf die Attacke eines Panthers, bis hin zu Alices Blick über ihre Schulter – das letzte, das wir erwarten, ist, daß aus der anderen Richtung ein Bus ins Bild jagt mit Bremsgeräusch und hydraulischer Türöffnung. 

Geschickt an der Konstruktion der Bus-Szene ist ebenfalls, "that while it allows some of the tension to be released, a considerable amount remains unsolved – after all Irena's rage still hasn't manifested itself because Alice has escaped, and it hovers like a fog until the next scare sequence, helping create a subtle atmosphere of dread" (Dyson, 116). Dunkelheit ist eine der Qualitäten, für die Lewtons Horrorfilme berühmt (aber nicht berühmt genug) sind; Dunkelheit, die ihr eigenes Leben hat. Wie Lewton sagt: "Most people will swear they saw a leopard move in the hedge above her [Alice] – but they didn't!" (zit. in: Newman, 43).

Nach all den "psychologischen" Spuren gibt die Central-Park-Blutspur genauere Kenntnis von Irena. Und die Szene ist "the first real indication (...) that the film's 'monster' might actually hurt someone other than herself" (Newman, 42). 

Irena kommt nach Hause. Oliver, der unruhig auf sie gewartet hat, macht Licht. Sie kann sich kaum noch auf den Beinen halten. Sichtbar wird jetzt, wie ihr schwarzer Pelzmantel zerrissen und schmutzig (blutig?) ist. Oliver will ihr helfen, doch sie wehrt ab: "No, please don't... don't touch me..." Irena reagiert und erscheint wie eine Frau nach einer Vergewaltigung, der jede Berührung zuwider ist. Jedes Detail der vorangegangenen Szenen aber hat vermittelt, daß sie die blutige Angreiferin war – daß sie in ihre Panther-Wesenheit gefallen ist. 

"Irena... I'm sorry", stammelt Oliver. "I've been worried to death... I didn't know where you were, I thought... now what happened tonight happens in every family! I was all on edge. You gotta understand and you gotta forgive me!" – Irena geht an ihm vorbei, zu Boden blickend, zu Tode erschöpft, und mit einer herzzerreißenden Stimme der endlosen Trauer und Verzweiflung, für die all das nicht mehr zählt, antwortet sie: "I forgive you..."

Sie zieht sich in das Bad zurück, das an ihr Schlafzimmer grenzt. Sie läßt Badewasser ein und kann sich ihrer Kleider kaum schnell genug entledigen. Für die Verhältnisse von 1942 ist in dieser bewegenden und tragischen Szene, in der Irena versucht, sich zu reinigen, so bemerkenswert viel von Simone Simones Beinen zu sehen, während sie ihre Strümpfe auszieht, daß sogar wir, die Zuschauer, ihr gegenüber eine Art Schuldgefühl haben; als wolle Tourneur klarmachen, daß Irena sich nirgendwohin mehr zurückziehen kann, daß es keinen Ausweg mehr für sie gibt, daß sie von jetzt an unwiderruflich ausgeliefert ist.

Oliver steht vor der Tür und ruft Irenas Namen. Wir hören ihre Stimme von innen: "What?" – "Are you alright?" – "I'm alright..." –  eine helle Stimme, die Oliver zu suggerieren versucht, daß er sich nicht sorgen solle. Aber dann ist die Kamera wieder bei Irena, und ihr Schluchzen ist zu hören. Die Kamera zeigt zunächst den Fuß der antiken Badewanne – ein Krallenfuß – und gleitet dann hinauf; Irena sitzt nackt in der Wanne, zusammengekrümmt, weinend, ihr Gesicht in den Händen bergend. Auf ihrem Rücken und ihrer Schulter perlen Wassertropfen – sie hat das Blut abgewaschen. Sie weiß jetzt, daß sie sich unter gewissen Umständen, in ihre "monströse", "böse", tödliche Raubkatzen-Persönlichkeit transformieren kann.



















Literatur:

Dyson, Jeremy: Bright Darkness. The Lost Art of the Supernatural Horror Film, London 1997.
Newman, Kim: Cat People, London 1999 (BFI Film Classics).



















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