Freitag, 5. November 2021

Rykarda Parasol [III]

 

 

 


 



"Above the 59 latitude, from Eastern Russia through Finland into Scandinavia, there's this melancholy belt. Sometimes mistaken for the vodka belt. And if you live in a country like Sweden with five, six months of snow and the sun disappears totally for two months, that would be reflected in the work of artists. It's definitely in the Swedish folk music, you can hear it in the Russian folk songs, you can hear it in the music of Jean Sibelius and Edvard Grieg, you can see it in the eyes of Greta Garbo. Actually you can hear it in the sound of Frida and Agnetha and some of our songs too. For those who are observant enough, they might even spot it in an Ingmar Bergman movie." – Benny Andersson bei der Induction von ABBA in die Rock and Roll Hall of Fame 2010

Rykarda Parasol wuchs nicht im melancholy belt auf, sondern im sonnigen San Francisco, aber die Tochter einer schwedischen Mutter und eines jüdischen Vaters, der als Junge aus dem Ghetto geschmuggelt wurde, hat den Hintergrund ihrer Eltern als starken Einfluß erlebt: "Her parents' cultures were a big deal when she was growing up, she says (…) Thus, her songs often reflect a dark sense of discomfort and otherness." (1) Wieviel nordisches Dunkel in diesem dark sense stecken mag, jenes Etwas, das sich laut Benny Andersson in der Musik von Sibelius wie in den Augen von Greta Garbo findet, wissen wir nicht, aber auf ihrem dritten Album macht Rykarda Parasol den wohl berühmtesten Filmsatz der Garbo, "I want to be alone", zum Songtitel. 

Rykarda Parasol ist ihr richtiger Name. Der Titel des 2013 erschienenen dritten Albums, AGAINST THE SUN, ist die wörtliche Übersetzung ihres Namens aus dem Lateinischen – para-sol. Gegen die Sonne. Parasol ist aber auch der Name für den Riesenschirmpilz, und das erneut von Rykarda gestaltete Cover zeigt die schon vertraute nackte weibliche Figur, die sich mit einem solchen Pilz beschirmt, während sie sich von uns ab- und dem goldenen Hintergrund zuwendet.
 
In "Passages" schreibt sie:
"Perhaps less beautiful than flowers, the mushroom has its own kind of beauty. Birthed out of muck and darkness it huddles humbly to the ground inconspicuous at first glance, yet authentically comfortable with itself. (…) This time the narrator connects with the self and the familiarity of being easily unaccompanied. Along with the self-reliant impressions in the text, an acoustic approach to the music underpins the overall themes of independence, liberty, and self-determined thought." (63 ff.) 
 
"Nach Innen geht der geheimnisvolle Weg" (Novalis). Das Selbst entdecken, das sich selbst genügt. The familiarity of being easily unaccompanied – darin liegt tiefe Traurigkeit, aber auch der tapfere Entschluß zu Unabhängigkeit und Freiheit. Der Entschluß, zu genießen, wozu man verdammt ist. Der Pilz wächst still im Dunkeln. Aber er bildet natürlich auch ein Netzwerk, und, wie es in "Only Lovers Left Alive" heißt: we don't know shit about fungi.
 
Im Podcast "Drinks with Tony" vom 15. Januar 2020 erzählt Rykarda, daß sie nach dem zweiten Album the end of her tether erreicht hatte; die Kerze an beiden Enden angezündet bis zum Totalschaden auf allen Ebenen. Körperlich, mental und auch finanziell ausgebrannt, nach allem, was sie in ihre Kunst investiert hatte. So beschloß sie, ihre Band aufzulösen und nach Europa zu gehen, für Selbstbesinnung und Neuordnung. Bowie wählte für dieses Unterfangen Westberlin, Rykarda Parasol zieht es nach Paris. Dort schreibt sie einen Großteil des Albums, das introspektiver ist als die Vorgänger und kosmopolitischer zugleich. 
 
"I live alone / I walk alone / Everything I've known is stone" - "The Cloak Of Comedy" führt direkt ins Zerrissensein, zwischen "Time here is brief, got no time for grief" und "Baby, I was only joking / I'm ready to be your fool". Der Mantel der Komödie, im Video ein selbstentworfenes Pierrot-Kostüm, ist Deckmäntelchen, das Spielerische Rollenspiel, Pierrot bietet sich selbst als Versöhnungsgeschenk, aber schließlich verlaufen Lidstrich und Wimperntusche unter Tränen, und wer da nicht auch zerlaufen will, muß ein Steinmensch sein. Mademoiselle Pierrot schlägt selbst die Trommel (bestimmt den Rhythmus selbst jetzt), zwischen "Now all this time you'd been on my mind" und "Ain't sorry for what I am / I don't plan to be distant" wurde nie eine Gitarre eleganter zerschlagen, aufgrund weitgehender Absenz elektrischer Gitarren auf AGAINST THE SUN muß eine akustische dran glauben. Immer wieder wird der Song geradezu strahlend mit französischem "Ooooooh la la la" Sixties-Vibe. "I'm always running, running, running out / Just when things get good" ist wahrscheinlich an die Wand von Rykardas Sanctum Sanctorum geschrieben. Nun gut, wahrscheinlich nicht. Mit job done-Attitüde geht sie aus dem Video, aber nicht aus der Doppelbödigkeit und Ambiguität, der Song endet mit dem womöglich zweitlängsten Klavierakkordnachklang der Musikgeschichte.
 
 




 
 
 
Wenn die Seele nicht gerettet werden kann, warten wohl die Höllenflammen. Konstatiert mit bitterer Ironie die Ungläubige. "I never believed since the day I was born". Wir werden nicht sehen, wer an unserem Grab weint, es gibt nur das Irdische, und mit dem haben wir genug zu tun; Leiden ist der rote Faden des Lebens und das, was uns verbindet. Am Ende von "Atheists Have Songs Too" geisterhafter Backgroundgesang, scheinbar direkt aus dem soeben verworfenen Reich der Metaphysik. 
 
Freiheit ist eine Kunst, die beherrscht werden will. "Thee Art Of Libertee". Die "leidenschaftliche Aufmerksamkeit" (Camus), die sich in uns kristallisiert, hat ihren Preis. "Loneliness ain't no coward's friend / For folks like me though it's a constant". Die Einsamkeit als vertrauter Freund, wenn alles andere fort ist. "I was lucky to have you, we laid side by side / Glad when you said hello / I was glad when you said goodbye". Freiheit ist kein Geschenk, sie ist Vollzug. "You and I we are free / It's good to be free". Im Video geht sie ständig in Richtung andere Richtung, nur am Ende nicht. Der Mond ist auch gegen die Sonne. Wie sie auf der Treppe sitzt, Herr im Himmel. Sie könnte auch vier Minuten nur auf der Treppe sitzen und es wäre ein faszinierender Film. 
 
 




 
 
 
Daß der Genius loci der Wahlheimat Einzug gehalten hat in ihr Werk, daß sie Paris adoptiert und Paris sie adoptiert hat, belegt ein Songtitel wie "Your Arrondissement Or Mine?". Illusionslose Einladung zu "a ride into the night", Nähe und Distanz zugleich, Ambivalenz auch hier. Jedem Anfang wohnt nicht nur ein Zauber inne, sondern auch schon das Ende, für eine, die von sich sagt: I'm wise and I know the score. Wenn dieser Song aber noch heimlich das Durchbrechen der auf- und abgeklärten Abgebrühtheit ersehnt, kommt "Island Of The Dead (O Mi, O My)" direkt aus einer Art Hades im Diesseits. "It's a mighty nice place if you don't mind being alone / It's a mighty nice place if you don't mind travelling alone / Some of my friends liked it so much / They ain't never come back home". Isolation als Schattenreich, da ist nichts außer nichts, es braucht nicht mal den Totenfährmann, man kommt ganz alleine hin. All das erzählt Rykarda die Hüfte schwingend zu einem skelettknochentrockenen Piano, am Ende eine anderweltliche Stimme wie direkt aus der griechischen Mythologie, chilling.
 
 




 
 
 
"How Ever Measured Or Far": ein Interludium mit dem Klang von Absätzen und einem Aufruf zu departure. Make an educated guess: eine Frau, die einen Koffer trägt in Richtung Paris. "Withdrawal, Feathers And All" ist Absturz in Zeitlupe, nur noch widerwillig herausgezögertes Ende einer Liebe: "coming down from feeling strong", "coming down from being cool", und "when I was tall I was a force". Der Punkt, an dem Liebe Stärke raubt statt gibt, an dem man sich trotzdem zurücknimmt, sich aufgibt, um zu retten, was schon verloren ist: "I know it's better to sing / I'll sing your song". Der innere Rückzug ist schon angetreten, wenn gilt: "… you still play games". 
"Wille kann die Fähigkeit sein, gegen den eigenen Willen zu handeln." 
"Und wie viele Willen zählst du da?" 
"Zu viele." 
Die Sängerin pfeift dazu, herausfordernd und ein wenig schräg, unbekümmert, als hätte sie gerade eine Tür hinter sich geschlossen. 
 
In "Greetings From Kiev, XX00" hat es sich mit "Baby girl, you be sweet" und pretending um des lieben Friedens willen. Ansprüche und Sehnsüchte des Mannes, Bedürfnisse und Wünsche der Frau – nicht mehr kompatibel. Sensationelle Zeile: was eine Frau braucht, ist "a brother to keep her in style in a wild world". 
 
 
 
 



 
Mein Favorit auf AGAINST THE SUN ist "I Vahnt Tou Beh Alohne (aka Grand Hotel)". "I didn't call you that day / It was easier to let it fall away / And I'm sure I have saved you from pain / And you wouldn't believe it if I say / I want to be alone". Die Schreibweise des Titels ist Greta Garbo-Dialekt, Garbo als russische Ballerina Grusinskaya in "Grand Hotel" von 1932. Rykardas Stimme ist hier so schön und herzzerreißend, du zermarterst dir den Kopf, an wen diese Stimme dich erinnert, aber wahrscheinlich ist es einfach nur die Stimme des Mädchens, das damals deinen Namen rief in einem Traum.
 
 




 
 
 
"Take Only What You Can Carry" beginnt mit "Well my daddy's daddy got shot / He didn't do no crime" und widerlegt schon damit die Bemerkung eines Amazon-Rezensenten, der von AGAINST THE SUN behauptet: "Ms. Parasol's story-like lyrics are lighter here than her usual dark and murderous love songs". Der Song wirft Schlaglichter auf das Überleben ihres Vaters, auf das, was diese Art von Überleben weiterträgt in das Leben einer Tochter. "And we all saw the walking dead get on that train": der Song beschwört die atrocities, der der Vater damals mitansehen mußte. Nick Cave, "Nature Boy:
 
I was just a boy when I sat down
To watch the news on TV
I saw some ordinary slaughter
I saw some routine atrocity
My father said, don't look away
You got to be strong, you got to be bold, now
He said that in the end it is beauty
That is going to save the world, now
 
Auch our narrator vergißt nie die Stimme des Vaters: "'No fear', says daddy, 'Courage got me where I am.'" Später heißt es "My daddy fought to live / In this mean old world / And all I am / Is a silly little girl". Genau das ist sie natürlich nicht. Wer einen Song schreiben kann wie "Take Only What You Can Carry" ist sehr weit gegangen in dem, was Kunst vermag. "Beauty is going to save the world": sie selbst trägt mit ihrer Kunst dazu bei. Aber glaubt sie selbst daran, daß Schönheit sie errettet? 
 
"Tired of my peculiar tongue / And the brain from which it stems / I wonder if I have one?" Der letzte Song, "I Know Where My Journey Will End" beschreibt diesen letzten Ort mit vorgezogenem Fernweh: "I'm going there some day / When all travel done". Und als gelte es schon jetzt, ein Resümee zu ziehen: "I was not content with dreams / Of love, God, or ghosts". Auch hier wieder backing vocals von unvergleichlicher Schönheit, schwermütig, sehnsuchtsvoll und spooky, dazu ein Klang, als würde sich Rykarda im Studio kurz direkt in Artemis verwandeln.
 
Immerhin schreibt derselbe Amazon-Reviewer: "Why this woman isn't a huge star yet is beyond me." 
 
SFWeekly sah 2010 in Rykarda Parasol ein unmenschlich elegantes Wesen, das bei jedem Sonnenuntergang aus einem Eispalast auftaucht:
 
"Rykarda Parasol cannot possibly own pajama pants. That would be too normal, and she never seems like a normal person. Last night at Hemlock Tavern, the Scandinavian-descended, noir-blues poet ruled her small stage like a foreign princess, weaving lyrical tales of murder and vice with a remote, enchanting presence. (…) Parasol's more a precious vixen — an inhumanly elegant entity that emerges from an ice palace each sunset, poured into a smoky evening gown, ready to wield her piercing stare in the service of some unsavory end. 
Though filled with reckless freedom, her songs-as-stories often tackle error, failure, and betrayal. The sense that Parasol really knows a thing or two about those feelings managed to break through her performance's otherwise pristine remoteness last night."
 
Remoteness: interessanterweise heißt es auch 2010 auf faz.net über Tippi Hedren: "Gerade durch die Distanz, mit der sie die räuberische Femme fatale spielt, wird aus Marnie eine der interessantesten Frauenfiguren Hitchcocks."
 
Aber diese remoteness ist nur eine Methode der Abstandgewinnung zum emotionalen Aufruhr und Tumult.
 
"Jeder Song fühlt sich für mich gerade so an, als würde sie mir eine Schicht Haut abziehen und dabei liebevoll lächeln", schrieb mir mein Freund André, als er schließlich bei Nacht und Kerzenschein in Rykardas Welt eintauchte.
 
Schön auch, was jemand auf YouTube zum "Thee Art Of Libertee"-Video schreibt: "Rykarda's voice ... a miracle! It always reminds me that no matter what, you have to keep looking for your kindred soul." 
 
Rykarda Parasol ist die beste Sängerin, die du noch nicht kennst. Sie ist die größte Sängerin der Gegenwart, ob du sie kennst oder nicht. Aber besser ist, du kennst sie.
 

 

 


 

 

 

(1) Emily Savage, Familys past leads sultry songstress into some dark places, 16. April 2010, jweekly.com

 

 

 

 

 

 

 

 


Donnerstag, 21. Oktober 2021

Rykarda Parasol (II)

 

 

 

 


 
 
Now all the cherished secrets of my heart,
Now all my hidden hopes are turned to sin.
     
    Christina G. Rossetti
 
 
Die tief verletzte Seele, die sich von der Liebe verachtet fühlt, inszeniert die Verachtung der Liebe und läßt the devil inside ans Tageslicht. Rykarda in der Revolte. Und die Revolte heißt, um noch ein Wort von Camus zu leihen, vivre le plus. Being bad als Weg, die Einsamkeit zu brechen und Racheengel zu sein.
 
Das war die Zeit, in der ich sie entdeckte. Im November 2009 schrieb ich im SPIEGEL Forum über sie (2011 als "Monsters in the Parasol" -> hier): 
"... luziferschöne Hymnen an die Ausschweifung, in der immer eine Schlange haust. Immer."
 
Ich hatte sie bei MySpace gefunden und gelesen, daß sie die Gedichte von Christina G. Rossetti (1830-1894) liebt. Tatsächlich besitze ich einen Band mit Gedichten dieser Schriftstellerin, Schwester des Malers Dante Gabriel Rossetti, schlug ihn auf und schlug ihn genau dort auf, wo diese beiden Zeilen waren: "A voice said, 'Follow, follow': and I rose / And followed far into the dreamy night" (aus "Two Pursuits").
 
Über FOR BLOOD AND WINE schreibt Rykarda Parasol in "Passages": "Along a snaky road, our narrator took a dark detour of drink, song, and underhanded rebellion (...) the narrator is no longer the discarded, but has taken control by becoming the rejector. Though by the end we may find the mask comes off." (39/40).
 
"So tausend Nächte tief die Stimme". Der erste Song eine Verkündung in 5 Zeilen und 45 Sekunden: "The road is long with treachery / And it winds like a drunken snake / I walk the rue without care or bother / Though behind every bend I know / Evil follows me down."

Verrat überall am Wegesrand, eine Engelsstimme ist zu hören, irgendein weiblicher Engel beim Sündenfall, schon setzt "A Drinking Song" ein, Parole: das Leben ist kurz und traurig, also trinken wir und besingen alle Laster. Wenn der Untergang schon stattfindet, wird auf dem Tisch getanzt. "Girls come let us raise our skirts" / "We'll pretend we're glad". Es wird ohnehin böse enden, "what so we care of worry and hurt?" – "Was macht uns das, mein Herz" (Rimbaud), trotziger Rausch, unser Glas werfen wir dem Tod in die Visage und der zum Refrain hergerichtete chant erinnert tatsächlich an die Domina der Banshees. Komm schon Apokalypse, wir wären dann soweit.

"Married at twenty, at twenty-one I was a widow". So beginnt der todtraurige Song "Widow In White". Das lilienweiße Licht, in das die Braut getaucht war, in das die Erinnerung getaucht ist, Hoffnungen, die man hatte, und Hoffnungen, die zerstört wurden.
 
The ivory lace was woven as a crawler's web
The dress been bone though my sash was rose-ed red
White Henry in my hair and Sapporo lily in my hand
At twenty and one hope is plenty unrest hard to fathom
And so often that it can become the case
Where Love once rested Freedom now takes her place 
 
 


 

"Maggie" war ursprünglich ein Song für Rykardas kleine Neffen, deren geliebte Katze namens Maggie eines Tages spurlos verschwand, und wurde dann zu einem Song über Rückzug, Isolation, Verlust:

"My boyfriend at the time helped me record the children's version – sadly, several years later, he fell victim to heroin. I think the song portrays the unbearable seclusion and darkness that it brought. Like Maggie, my boyfriend was also… lost. I found it difficult to cope."

 

 

"But she looks on me now and my little blackheart breaks". Maggie hat ein musikalisches Arrangement bekommen, bei dem dir nochmal auffällt, wie all diese musikalischen Arrangements einfach mörderisch sind. "One For Joy!", Ms. Parasol wie eine von Clovis Trouille gemalte Sängerin in einer Kurt Weill-Spelunke randvoll mit Piraten. Oder wie eine sturzbetrunkene Marlene Dietrich auf der Bühne des Kabaretts "Theophania". Oder "Theophanu", Herrgott. Und überall in den Arrangements diese kleinen Bowie-Tricks, ich meine etwa dieses Arrangement für neun Mandolinen in "Fantastic Voyage", die man dann im Mix aber kaum noch hört, eher spürt, nur noch ein schimmernder drone im Hintergrund (-> Ereigniskarte IV), auf "One For Joy!" kratzen sich enervierende Geräusche ins Soundbild, die man auch erst fühlt, bevor man sie hört.

 

 

Es folgt eine Art Trilogie, abgründig, unheimlich und verstörend. "Hold Back The Night" – der Tod ist immer nah. Hier dirigiert er ein ganzes Mysterienspiel, und um Rykardas Performance legt sich Grabeskälte. An einigen Stellen führt FOR BLOOD AND WINE an die Schwelle zwischen Diesseits und Jenseits. Weil diese Songs auch Auflehnung gegen das Vergangensein sind. Weil "staying connected to those whom I loved" das Verlangen ist, das den Abstieg in die Unterwelt notwendig macht. Weil Trost auch in schmerzlichen Beschwörungen liegt. Liebe liegt blutend da, das ist der andere Grund. "Covenant": ein feierliches Abkommen, ein gebrochener Pakt, eine Szene auf einem Bett, nach der die Erzählerin "a much colder place" ist. "Oh My Blood" – Rykarda spielt mit Dingen, die gefährlich blitzen. Messerklingen werden behandelt wie lovely friends, oder umgekehrt, wäre Eno im Studio gewesen, um seine Oblique Strategies-Kärtchen zu verteilen, hätte darauf gestanden: Schlüssel finden zu The Doors. "This woman is dark", schrieb der San Francisco Chronicle. Sie berührt Dinge, die andere nicht anzusprechen wagen.







Aber wie bone-chilling es auch wird in Rykardas Werk, es ist Beweis für die unumstößliche Wahrheit, die Martha Graham in ihrer Autobiographie Blood Memory formuliert: der Künstler ist ein Lichtbringer.

Er (sie) beherrscht die magische Verwandlung noch der dunkelsten Aspekte von Psyche und menschlicher Interaktion in Schönheit. Und die fragile Schönheit von "My Spirit Lives In Shadows" tötet mich. Das psychosexuelle Chaos, das die Lyrics beschreiben, Untreue, so zärtlich, so schneidend, Mlle. klingt so sanft und verletzlich, während sie die Hinrichtung ankündigt. 

 

 

 

"Je Suis Une Fleur" wäre in all diesen emotionalen Tiefen eine Art comic relief, wenn es nicht gleichzeitig so mittelalterlich klänge. "I adore medieval folk music and I think you can hear that in my melodic sense", schreibt sie auf ihrer Website.

In "You Cast A Spell On Me" reiht Rykarda die zauberhaftesten und aberwitzigsten Selbstbeschreibungen aneinander, so verräterisch wie irreführend, so ironisch wie todernst, und von einem Mädchen, das von sich sagt, ich bin ein Marmeladentörtchen und eine Stripshow, muß man alles erwarten. Bad-ass reimt sie "always ready" auf "ear of a Getty". Man wird zu den fabelhaftesten Dingen und sich selbst zum Rätsel, because: you've cast a spell on me.




Die Geschichte von "No Sir (Ain't No Man Gonna)" könnte in den Romanstraßen der Kameliendame spielen, Absinth und Schnürstiefelchen. Ein Mann, der ihr Herz will, und ihr doch sagt, sie hätte keines. Andere Mädchen werden ihm geben können, was er sucht, aber: no man gonna put a rope around me.

Zwischen diesen Songs zwei Instrumentals, betitelt "For All Men Kill"…" und "…The Thing They Love", ein Leitmotiv des ganzen Albums. Und dann: "Kindness You're Killing Me". One damn song that can make me break down and cry.

Been untrue / I've been untrue / That's just what I do / I'm no good - "Evil follows me down". Religiöses Vokabular in nichtreligiösen Kontexten: der Mensch "ist" im "Bösen", hat Angst vor dem "Guten" und wehrt sich dagegen - so beschreibt Kierkegaard das Dämonische. My spirit lives in shadows and places hard to reach. Das Dämonische zeigt sich am deutlichsten, wenn es vom Guten berührt wird. Was ist das Gute? Erlösung, Errettung, Liebe. "I don't dare to dream any longer". Auch wenn our narrator erklärt, "Kindness, listen to me, you've got me terribly wrong / This woman you speak of does not exist" – in "Widow In White" lebte die Hoffnung, einmal wieder in lilienweißes Licht gehüllt zu sein. Auch wenn das Dämonische es leugnet, andere sehen dieses Licht.

Rücksichtsloses Leben, Exzess, Missetaten, Blutopfer, Spiel mit dem einen cut zuviel, amour fou, zum Scheitern verurteilte Beziehungen, verratene Liebe, Handlungen gegen die Moral und gegen die Vorurteile, die der anderen und die der eigenen, vielleicht einem Untergang entgegen, aber our narrator hat nun auch die andere Hälfte des Selbst in Besitz genommen. Das drückt auch die selbstbewußte Haltung der von Mohnkapsel und –blüten umgebene Figur auf dem Cover aus – kerzengerade, trotzig, hand on hip. Mohn ist Symbol für Rausch, aber auch Vergessen. Wenn "All Tomorrow's Parties" vorbei sind: cry behind the door. Wie das poor girl aus dem Velvet Underground-Song ist our narrator allein, wenn der Rausch verklingt.
 
I'm neither golden nor fair
I often sit alone in my chair
And stare off into silence
How can I be all you confess
And be sick with loneliness? 






 
FOR BLOOD AND WINE endet mit "Swans Will Save", improvisiert von der damals 4jährigen Nichte der Sängerin. "The innocence seemed a befitting external voice within the drama" (Passages, 16). "And always I will be saved", singt das Mädchen.

"This is gorgeous, gothy, dark, sensual stuff, lush but never heavy-handed, sparse when it needs to be, like the chilling 'Hold Back The Night'. It's haunting, dense and easy to get lost in." (Crawdaddy)

"Where Love once rested / Freedom now takes her place" ("Widow In White"). Im Dämonischen verlangt die Freiheit gar nicht mehr nach dem Guten, das Ich ist nicht mehr offen und will sich in sich selbst abschließen. Von Christina Georgina Rossetti gibt es ein Gedicht namens "Who Shall Deliver Me?", dessen siebte Zeile der belgische Maler Fernand Khnopff als Titel für ein geheimnisvolles Gemälde wählte: I lock my door upon myself.

Aber das In-sich-selbst-Eingeschlossensein kann größtmögliche Ausweitung im Inneren bedeuten.

Und so beginnt der nächste Teil der Reise. 

 

 

 

 

 

FOR BLOOD AND WINE CD:

-> Rykarda Parasol Etsy 



POSTER DOWNLOAD:

-> Poster

 

 

 

-> Rykarda Parasol (III) 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


Montag, 11. Oktober 2021

Rykarda Parasol (I)

 

 

 



 

Timeout New York bezeichnet Rykarda Parasol 2010 als doomy glamourpuss. Eine doomy glamourpuss ist auch, sagen wir, Alfred Hitchcocks Marnie, und tatsächlich wirkt Rykarda Parasol in ihren Songs wie eine schöne und geheimnisvolle Filmheldin, deren makellose Eleganz den komplexesten Charakter verbirgt, unergründliche Tiefen, rabenschwarze Dunkelheit, Abgründe der Erotik wie der Einsamkeit, unerhörte Versprechen, den Kampf mit Dämonen.
 
Sie selbst beschreibt ihre Musik als Rock Noir. Die mysteriöse Atmosphäre vieler ihrer Songs, voller Schatten und Andeutungen, hat filmische Qualität und scheint "dark with something more than night" (Raymond Chandler). Zwar erscheint die Sängerin als Inkarnation der eisigen Femme fatale des Film noir, die sich stilvoll, smart und furchtlos männlicher Kontrolle entzieht, doch verrät schon die sinistre Intensität ihres Gesangs den Wirbel an Gefühlen, den sie durchlebt hat. Die mächtige Stimme berührt Übermächtiges. Die Songs entstehen aus eigenen Erfahrungen: "I did draw directly from my life, yes."
 
Rykarda Parasol ist aufgewachsen in San Francisco, doch ihre wahre Heimat ist wohl eher ein Ort, an dem Oper, Malerei, Tanz, die Gedichte von Christina G. Rossetti und Baudelaire auf "Wuthering Heights" von Emily Brontë und "Henry's Dream" von Nick Cave treffen - in einem Interview 2008 nennt sie auf die Frage nach ihren drei Lieblingsalben letzteres spontan neben "Black Love" von den Afghan Whigs und "The Velvet Underground & Nico". Es gibt eine "What's In My Bag?"-Episode mit ihr, in der sie nacheinander in ihr Einkaufstäschchen steckt: "Love And Theft" von Bob Dylan, "This Is Hardcore" von Pulp, Jacques Dutronc, Serge Gainsbourg, The Gutter Twins (Mark Lanegan & Greg Dulli). Irgendwo auf ihrer Website schreibt sie, daß sie Mina verehrt. Mina! Wer es nicht weiß, Mina Mazzini ist eine Ikone in Italien und hat 1966 das unwiderstehliche "Se telefonando" gesungen, Musik von Maestro Ennio Morricone.
 
 
 
 
 
 
 
Rykarda Parasol ist Sängerin, songwriter, musician, storyteller, Dichterin, Illustratorin, Tänzerin, Weltreisende, Zeitreisende, Pariserin. "Ms. Parasol", das klingt wie ein Charakter von liebenswerter Unberechenbarkeit aus einem von Tim Burton kuratierten Kinderbuch. Kinderbücher schreibt Ms. Parasol tatsächlich auch, und wie es sich für ein Fräulein Sonnenschirm ziemt, fertigt sie auch Stickereien. Die sind verhältnismäßig naughty und erscheinen als Illustrationen für ihr Buch "An Object of Pleasure". Ihre Schöpferin nennt sie Les Brodelaires, gestickter Baudelaire sozusagen, und so hat Ms. Parasol offensichtlich auch das Genre der erotischen Stickerei erfunden. Es muß irgendwas geben, das sie nicht kann.
 
Zwischen 2006 und 2015 hat Rykarda Parasol vier Soloalben veröffentlicht. Wenn mich jemand in einem Interview 2021 nach meinen vier Lieblingsalben fragen würde: "Our Hearts First Meet" von Rykarda Parasol, "For Blood And Wine" von Rykarda Parasol, "Against The Sun" von Rykarda Parasol, "The Color Of Destruction" von Rykarda Parasol. Ja, ich weiß. Aber die Hyperbel ist eine schickliche Übertreibung des Wahren. Und die Wahrheit ist, das Genie dieser Frau macht süchtig.
 
Critically acclaimed alle vier Alben, doch, wie ein Mensch auf YouTube schreibt: "Love Rykarda! She should be a huge star." Warum sie es nicht ist? Wer zur Hölle versteht das Musikbusiness. Hinter ihr steht keine Maschinerie, kein mit allen Wassern gewaschenes Management, keine Marketing-Strategie und genaugenommen überhaupt keine Strategie, außer der, brillant zu sein. Eine Art Superstar ist sie indes in Polen. Sie ist polnisch-schwedischer Abstammung, ihr Vater überlebte den Holocaust, weil er aus dem Ghetto entkommen konnte.
 
Ist man einmal in die Welt dieser Alben gefallen, kann man sie nicht mehr verlassen. Wer auf Bowies "Ain't there one damn song that can make me break down and cry?" noch immer keine Antwort hat, könnte sie bei Rykarda Parasol finden. Es gibt Texte in ihrem Oeuvre, bei denen man sich fragt, wie man sie überhaupt singen kann, ohne in Tränen auszubrechen. Tatsächlich hat sie zugegeben, daß sie bei den Aufnahmen zu "The Color Of Destruction" zuweilen zum mouchoir greifen mußte.
 
Was für eine Stimme. Eine der dramatischsten Stimmen, die ich kenne, und gewiß die erotischste. Die Stimme einer Frau, die alles gesehen und fast alles überstanden hat. Das dunkle Timbre zieht dich in den Bann, verzaubert und verhext, allein, es ist eine Stimme, die alles beherrscht, von sehr tief bis engelsgleich hoch, von rauh bis verführerisch süß, von distanziert bis beschwörend, von weltmüde bis lasziv, von kaltblütigem Vamp bis zu einer Leidenschaft, bei der die Welt kurz aufhört, sich zu drehen. Die Stimme einer wehmütigen Prinzessin aus einer verwunschenen Welt, in die sie immer wieder zurückkehren muß, und zugleich die Stimme des Mädchens, das tougher und zäher als der Rest ist. Oder wenigstens gehofft hat, es zu sein. Die Stimme einer Frau, deren Sinnlichkeit den Höllenhund willenlos macht. Die Stimme einer Frau kurz vor oder kurz nach blasphemischen Ausschweifungen, vor denen Montmartres Seitengassen noch erröten. Die Stimme einer Frau, die aus 96 Tragödien entkommen ist. Die Stimme einer Frau.
 
Rykarda absolvierte eine Ausbildung in Operngesang, bevor sie zum Rock'n'Roll kam. 2003 veröffentlichte sie eine EP ("Here She Comes"), ihre Band hatte damals den grundsympathischen Namen The Tower Ravens. Abgesehen von einem Jacques Dutronc-Cover auf "The Color Of Destruction" und einem Song, der teilweise auf den Schriften von Langston Hughes basiert ("Lonesome Place" auf "Our Hearts First Meet") gilt für ihre vier Alben: all songs written by Rykarda Parasol.
 
Es sind true stories, die sie in Texte umsetzt, nicht als bloße Wiedergabe von Wirklichkeit, so kommt man einem Kunstwerk nicht bei, aber als "real life seen from my twisted angle", wie sie sagt. Die Lyrics waren dabei stets "the skeletal parts that gave [the music] structure" (Passages, 16).
 
"So I guess what I'm saying is, in my experience, it takes a genius, or someone who has developed in a different way than most guys I know, to write words first." Sagt jemand, der selbst die großartigsten Texte schreibt: Mark Lanegan. Außer Simon Bonney von Crime & The City Solution, so Lanegan weiter, kenne er überhaupt keinen, der so vorgeht. Lanegan arbeitet in der Regel so, daß die Lyrics sich der musikalischen Struktur anpassen [1]. Bei Rykarda Parasol sind die Texte zuerst da. "Poetry is so important", spricht sie in einem Interview den Tagesbefehl an die Kunstarmee gelassen aus, und wenn man die Sprache so liebt wie sie, wenn man schon immer fasziniert war nicht nur von den Welten, die sich auftun in "poetic imagery", sondern auch von "the musical quality of language" (Passages, 11), dann schreibt man vermutllich schon instinktiv Zeilen, deren flow für musikalische Umsetzung gemacht ist. Trotzdem wiederholen wir den Zeugen Lanegan: it takes a genius.
 
Sie komponiert die Musik, sie ist für die Arrangements verantwortlich, und sie hat die Alben selbst produziert. Sie spielt Gitarre und Keyboards, zuweilen noch andere Instrumente. Auch die Gestaltung der Albencover ist von ihr, das Artwork ist symbolisch aufgeladener Teil des Gesamtkunstwerks - jede Collage zeigt einen nackten weiblichen Körper in quasisymbiotischer Beziehung mit natürlichen Elementen. Und solange sie gezwungen ist, ihre Musik auch quasi im Alleingang zu vertreiben, ist die Welt aus den Fugen.
 
 

 


 
 
2021 ist "Passages" erschienen, die wunderschön gestaltete Anthologie ihrer Lyrics. Im Vorwort erfahren wir mehr darüber, wie jedes ihrer Alben und natürlich jeder einzelne Song als separates Drama zu verstehen ist, wie ihr Werk aber eigentlich eine einzige, lange Erzählung ist, die sich über vier Teile erstreckt, wie Kapitel in einem Buch, oder so, wie auch, sagen wir, Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" mit seinen gleichwohl autonomen Teilen eigentlich nur als Ganzes zu erfahren ist.
 
"The tale takes our protagonist on a twisty voyage to find her place in the world. From being seen as an outcast, to layovers in vengeance, independence, and self-acceptance, and to openness and love." (Passages, 10)
 
"Die Frau wird Unbekanntes finden!" (Arthur Rimbaud)
 
OUR HEARTS FIRST MEET (2006 beim kleinen, in San Francisco ansässigen Label Three Ring Records, für Europa 2008 durch Glitterhouse veröffentlicht) beginnt mit einem kurzen Instrumental, "Good Sick", ein verwehtes Akkordeon, das, wie Nicos Harmonium, aus einer anderen Zeit kommt und in eine andere Zeit trägt. Und dort wartet das mysteriöse "Hannah Leah". Unheil ist geschehen, "The sky has gone black on us", und die Erzählerin muß fort, nur fort. Man ist noch überwältigt von der Raschheit, mit der sie zum Ungewöhnlichen vordringt, da jagt einem schon der Hannah Leah-Chorus Schauer über den Rücken: als würden plötzlich verwundete Engel im Raum stehen und Klagegesang anstimmen. Haunting, und nur der erste von vielen solcher Momente auf diesem Album. "And the devil keeps me fed".
 
Es gibt ein Video zu "Hannah Leah", in dem Rykarda im offenbar für eine Nacht gemieteten Oakland Ice Center ihren Song als Eiskunstläuferin interpretiert - surreal, strange, sexy und umwerfend.
 
Auf "Henry's Dream" befinden sich zwei meiner liebsten Songs von Nick Cave, die eher selten Beachtung finden bei der Würdigung seines Werks, nämlich "When I First Came To Town" und "Loom Of The Land". In "When I First Came To Town" geht es um das, was auch our narrator in OUR HEARTS FIRST MEET erlebt: die Hölle, die der Außenseiter fürchten muß an Orten, die ihn nicht willkommen heißen.

"Passages", 19: "Ms. Parasol's first album chronicles a time in Texas and the isolation and loneliness that outsiders adrift often feel (...) Here, many of those sentiments have explored the need to belong and feeling rejected - and at times, small things of comfort that assist in accepting the hand dealt."
 
Unter Orchideenmördern
 
Der Wunsch nach Zugehörigkeit, die Ablehnung, Isolation, am falschen Ort sein: "Night On Red River" läßt dich all dies fühlen mit nervenzerfetzender Eindringlichkeit. "This town she's lonesome / And her people are mean and cruel". Und es geht um Trennung: "Nelson, I love you. I do. I do. Oh, Nelson, remember: To myself I will be true... And so I walked on". Durch Welten und Räume, die bedrohlich sind und finster. Gassen, in denen lichtscheue Gestalten ihr Wesen treiben und die Hände der Huren ihr Werk tun. Das Mädchen geht durch abschätzige Blicke wie Malena über den Platz des Städtchens Castelcutò, sie spürt die ohnmächtige Faszination, die in Hass umschlägt, Gang durch die Niederungen und die niederen Instinkte, durch Lust und Neid. Phantastisch die Momente, in denen die E-Gitarre diesen einen Ton langsam in den Abgrund fallen läßt, Rykardas Stimme komplett aufgewühlt bei "So my steps were slow and my swagger deliberate". Sehr eerie der "It looks like rain / Colored lights that bleed"-Part, in dem die Stimme (laut "Passages") auch etwas singt wie "Blue burn fi-do-nie, ah yen", es klingt wie speaking in tongues aus Panik, dem Wahnsinn nah.
 
 

 
 
 
"I walked, and I wandered, for woe to turn to light". Bei allem Dunkel und allem Leid die Hoffnung, dem Licht entgegenzugehen, das ist die Geschichte dieser vier Alben überhaupt. Auch in "Lullaby For Blacktail" ("Laugh if you like behind my back / I'm the one you envy most") und "Arrival, A Rival" (beginnt mit einer Akkordfolge, die an ein berühmtes There must be some way out of here denken läßt und endet mit Sirenengesang) versucht unsere einsame Heroine, sich nicht brechen zu lassen. Texas wird zum Synonym für Verlassenheit und ache.
 
"I only know them as who they are to me: Assassins of orchids flowering": "Weeding Time", ein Song, den Rykarda im Roadhouse von Twin Peaks singen könnte. Der Ort, an dem man sich in something dreamlike verlieren kann, um die dunklen Unterströmungen der Stadt und des Universums zu bannen. Aber die Frau, die in sich selbst versunken auf der Bühne steht, singt von zarten Blüten der Hoffnung, die allzuschnell verwelken, und hat hier nichts mehr verloren: "I went out to see what it was all about / And then silence swept over me / But it wasn't lonely like I'd imagined / Was just lonely like it's always been". Wir hören ihr gebannt zu, als wären wir in der Bang Bang Bar, und in ihrem Gesang vermischen sich alle Zeitebenen, erst für sie, die verlorene Geliebte im Exil, dann für uns. Und dann ist es überall im Raum, dieses überwältigende Gefühl, daß es keine Schönheit ohne Gefahr gibt, daß jeder, den wir lieben, und alles, was wir lieben, ständig bedroht ist, daß es zu viele Wege gibt und daß nicht alle gut sind. Daß es eine fremde und seltsame Welt ist. Und daß es in ihr trotzdem Magie gibt und Wunder wie diese Sängerin.
 
 
 
 
 
 
 
Einer meiner Favoriten auf OUR HEARTS FIRST MEET ist "How Does A Woman Fall?" Sie, die ihre Geheimnisse behält, "while others bliss out in their boudoirs". Sie, die alle Ausgänge kennt, bevor sie durch den Eingang geht: "You plan the end and from there you go". In der letzten Strophe erzählt sie dir, wie sie gefallen ist, und reißt dir das Herz heraus: "I once met a man / Who took me for all that I was / But I'll tell you how I had fallen / It was the moment I believed his love."
 
 
 
 
 
 
 
"En Route" ist einer dieser Songs, die man nur am Abgrund singen kann. Es ist, wie sie in einem Interview bestätigt, "a song about someone I knew who died in a motorcycle crash". Nicht einfach someone I knew, es war ihr boyfriend. Der Tod ist immer nah.

Im knochenharten "Lonesome Place" singt eine weiße Frau aus der Perspektive eines schwarzen Mannes über Rassengewalt, "Janis, Don't Go Back" könnte Janis Joplin meinen, der es in Texas auch nicht gut erging, beide Songs drehen sich um reale Personen an realen Orten, zugleich sind es Tableaus mit metaphorischem Charakter, es sind Szenarien, mit denen sich die Außenseiterin identifiziert. "Maybe at last you'll find appreciation / But I wouldn't bet on it being so". Der "Westen" ist dann wiederum Metapher für den Ort, an dem niemand Rykarda weinen sehen will. Sie selbst spielt dieses wunderschöne Piano auf "Janis, Don't Go Back".
 
"Passages", 10: "I'm so glad my protagonist was still grasping the light (...) even though the first album's 'Candy Gold' foreshadows that she may burn her wings getting there." - "It's gonna be years before he says / Candy Gold you're the one / Around which my planets rotate". Das Video zu "Candy Gold" schien mir immer Warholesque. "Until that day, Candy, you'll just have to be alone".

"Why, I was just a stranger there in Travis County", so beginnt das wehmütige "Texas Midnight Radio", aber zuletzt offenbart sich der Sinn der Einsamkeit: "Though it was that very loneliness that made our hearts first meet". Loneliness schärft das Gespür für das Erscheinen des einen, mit dem man die Welt teilen kann. Um aus einem Roman zu zitieren, den ich deshalb so gut kenne, weil ich ihn geschrieben habe: Die Gleichen erkennen sich im Feindesland. Und wenn es auch nur für eine Weile war, das nimmt ihr niemand mehr: "I hold those days safe". Eine von Rykardas Künsten: bestechende Bilder für die symbolischen Ausmaße eines Augenblicks - "Texas Midnight Radio played a murder song". Eine andere: "ghostly falsettos floating in the background - well, that's moi" (Passages, 14).
 
 
 

 
 
 
"The album's cover introduces us to our narrator - a timorous form clutching itself inwardly and enveloped by a tender yellow rose" (Passages, 19). ["The Yellow Rose Of Texas" ist ein Folk-Traditional aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, es geht darin um eine Liebe, die zurückgelassen wurde und doch für immer in Erinnerung bleibt.]

All diese Songs haben Lyrics, die suggerieren, daß sich im Hintergrund noch weit mehr abspielt, und our narrator gibt uns nur eine Ahnung von den Dingen hinter den Dingen. Beunruhigende, verstörende, dunkle Dinge. Sagte ich David Lynch? Handeln wir kurz die Namen ab, die im Zusammenhang mit Rykarda Parasol immer wieder herangezogen werden, dann haben wir es hinter uns: Siouxsie, P. J. Harvey, Nico, Patti Smith, Marianne Faithfull, Mark Lanegan, Gun Club, Nick Cave, Nick Cave, Nick Cave. Kein Vergleich wird ihr gerecht.
 
Mit ihrer phänomenalen Stimme, mit der dunkelbetörenden Atmosphäre ihrer Songs, mit ihren kühn persönlichen, so scharfsichtigen wie vielschichtigen Lyrics, mit diesem herausragenden Album, das tief in den Zusammenhang von Schönheit und Tragik führt, hat Rykarda Parasol sich in einer perfekten Welt als charismatische Ausnahmeerscheinung etabliert, die vom Musikbusiness als Hauptattraktion hofiert wird, "a great antidote to all that is banal and tedious in the current music scene" (East Bay Express), "one of the more interesting vocalists of the 21st century that will make you shiver like a cold wind blew in as much as hypnotically entrance you" (Zaptown Magazine), ihr Auftrag: "to soothe the souls of the wicked" (Austin Chronicle).
 
In der nicht so perfekten Welt erscheint ihr zweites Album FOR BLOOD AND WINE 2009 auf eigene Faust, 2010 nochmals bei Gusstaff Records, einem kleinen polnischen Label.
 
 
 
 
 
 
[1] "Usually I let the melody come first and then it tells me what the words are going to be […]" – Mark Lanegan: 9 albums that changed my life, musicradar.com, 2019.
 

 
 

 

 

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-> Rykarda Parasol (Part II)