Mittwoch, 15. Mai 2013

Sticky Fingers















Die erste LP, die ich in meinem süßen jungen Leben von meinem eigenen Geld kaufte.

Ich war gerade 12 geworden. Unter den ersten 20 Stücken, die ich mit meinem neuen kleinen Grundig C 410 Automatic aus dem Radio aufgefangen hatte, war "Street Fighting Man". Das Stück hypnotisierte mich. Der Song war so anders als die anderen, so mächtig, daß mir das Herz hämmerte in einem Leib, der Dinge tun wollte, die er noch nie getan hatte. Die letzten 45 Sekunden von "Street Fighting Man" beendeten meine Kindheit.

Heute weiß ich, daß Keith Richards den unfaßbaren Klang von "Street Fighting Man" dadurch erreichte, daß er sich mit seiner Akustikgitarre vor einen kleinen Philips-Kassettenrekorder setzte und die Aufnahme absichtlich übersteuerte. Daß die donnernden, massiven Drums und die seltsam schleifende cymbal von Charlie Watts vor demselben Rekorder auf einem 1930s toy drum kit gespielt wurden, das er buchstäblich aus einem Koffer zauberte. Daß Richards auch diese insistierende, ab- und wieder aufsteigende Bass-Linie spielt, die dir das Versprechen abnimmt, die Spannung auszuhalten bis ans Ende deines Lebens. Daß dieser fremdartige drone von Brian Jones auf Sitar und Tamboura gespielt wird. Daß Jagger die Strophen im Signalcharakter der Quarte singt, dem Intervall von Polizeisirenen. Daß der Aufruhr, den dieser Song in mir verursachte, nie mehr rückgängig zu machen war.

Aber es waren diese letzten 45 Sekunden, wenn dieser strange wailing sound einsetzt [Dave Mason auf einem Instrument namens shehnai] und Nicky Hopkins über das ganze Gewirbel diese perlenden Pianoklänge legt - dieses Piano auf diesem Gewirbel, es war der schönste Klang, den ich bis dahin in meinem Leben gehört hatte. Alles, was aus mir geworden ist, put the blame on those 45 seconds.
 
 
 



Und dann, Montags auf dem Schulhof, "Hast du das gesehen? Hast du das gesehen?" 

Ich hatte es gesehen.
 
 
 





Ich stellte die Platte, vielmehr diese Reliquie, auf die fortan also im Wesentlichen zugeklappte Tastatur des 100-Mark-Klaviers, mit dem mein Chopin-begeisterter Vater einen Horowitz aus mir machen wollte.

"Sticky Fingers" war das Portal, der Durchgang zur anderen Welt, der Durchgangsritus selbst. Die 10 Songs sind immer noch nicht einfach Songs. Jeder einzelne war ein Universum, ein Versprechen, ein Pakt mit der Zukunft, in die Hirnrinde gebrannt. Ich kann jeden Song von Anfang bis Ende träumen. In das Bild mit dem gähnenden Jagger und Richards als Hosen-role model # 1 muß ich irgendwann ein Loch gestarrt haben.

Rebellion und Ausschweifung, Dekadenz und Grusel. "Sticky Fingers" war faszinierend unheimlich, vor allem "Sister Morphine", die Slidegitarre, die einem immer noch kalte Schauer über den Rücken jagt. "Why does the doctor have no face?" Der Rhythmus von "Bitch" schien mir unfaßbar böse, die "hey hey yeah"s am Ende wie Triumphgeheul bei einer Auspeitschparty, und die Zeile "It must be love, it's a bitch" offenbarte sich später als Kōan. -> Jörg Lorenzen besorgte sich "Sticky Fingers" ebenfalls, und als ich ihn auf dem Schulhof fragte, welchen Song er am besten findet, sagte er: "Wild Horses". Das überraschte mich damals, now I get it. Das arrogant polternde "Brown Sugar", die zerlumpte Majestät von "Sway", dieses dramatische Gitarrensolo von Mick Taylor, die 7-Minuten-Magie von "Can't You Hear Me Knocking", der New Orleans-Begräbnismarsch-Sound von "You Gotta Move", die Tore zu elegantly wasted, die "Dead Flowers" für mich öffnete, die Geheimschrift von "Sticky Fingers", die ich entzifferte, handelte von the grace of going astray. Der Song aber, der in mir alle Lichter entzündete, war "Moonlight Mile".



When the wind blows and the rain feels cold
With a head full of snow
With a head full of snow
In the window there's a face you know

Don't the nights pass slow
Don't the nights pass slow
 

The sound of strangers sending nothing to my mind
Just another mad mad day on the road
I am just living to be lying by your side
But I'm just about a moonlight mile on down the road

Made a rag pile of my shiny clothes
Gonna warm my bones
Gonna warm my bones
I got silence on my radio
Let the air waves flow
Let the air waves flow

Oh I am sleeping under strange strange skies
Just another mad mad day on the road
My dreams is fading down the railway line
I'm just about a moonlight mile down the road

I'm hiding sister and I'm dreaming
I'm riding down your moonlight mile
I'm hiding baby and I'm dreaming
I'm riding down your moonlight mile




Jon Landau im Rolling Stone nannte "Moonlight Mile" 

... a masterpiece. The semi-oriental touch seems to heighten the song's intense expression of desire, which is the purest and most engaging emotion present on the record. The sense of personal commitment and emotional spontaneity immediately liberate Jagger's (double-tracked) singing [...] There is something soulful here, something deeply felt [...] Paul Buckmaster [...] does the best job with strings I can remember in a long, long time, while Charlie Watts only goes through the motions of loosening up his style, as he comes down hard on the nearly magical line, "Just about a moonlight mile." 

When Jagger finally says "Here we go, now" as Mick Taylor's guitar (Richard is inexplicably absent) falls perfectly into place with a hypnotic chord pattern, it's as if he is taking our hand and is literally going to walk us down his dream road. As the strings push the intensity level constantly upwards and Charlie emphasizes the development with fabulous cymbal crashes, the energy becomes unmistakably erotic — erotic as opposed to merely sexual [...] The expression of need that dominates so much of the record is transformed from a hostile statement into a plea and a statement of warmth and receptiveness.
This cut really does sway and when Jagger's voice re-enters, it is [...] with the kind of abandon that he seems uniquely capable of. And unique is the best word to describe the cut as a whole [...].

Dieses halb fernöstliche, halb orientalische Arrangement brachte etwas so fremdartig Schönes und Mysteriöses in die Musik, und vermutlich habe ich sie nie wieder verlassen, diese dream road und die Stimmung dieses Songs. Lyrics, von denen ein Kritiker schrieb: re-created all the paradoxical distances inherent in erotic love with a power worthy of Yeats. Die Anspielung auf snow, Kokain, ist nicht das weiße Geheimnis von "Moonlight Mile".























Samstag, 4. Mai 2013

Black Rebel Motorcycle Club, Hamburg, 08.04.2013











 
Am 19. August 2010 verstarb im Backstagebereich des Pukkelpop-Festival in Hasselt, Belgien, Michael Been an den Folgen einer Herzattacke. Michael Been hatte in den Achtzigern mit seiner Band The Call einige Erfolge verzeichnet, ohne daß es, bei allem Kritikerlob, je zum Meisterstreich und zum prophezeiten Kapitel in der Musikgeschichte gekommen wäre. 1988 erschien Been mit seiner Jedermannphysis als Apostel Johannes in "The Last Temptation of Christ" von Martin Scorsese. Eine Dekade lang widmete Michael Been dann sein Leben jener Band, die sein Sohn, Robert Levon Been, 1998 zusammen mit Peter Hayes in San Francisco gegründet hatte. Michael Been begleitete Black Rebel Motorcycle Club als Soundman auf Konzerttourneen, trat bei BRMC-Alben zuweilen als Produzent in Erscheinung, vor allem aber war Michael Been ein liebevoller Mentor, dessen Rat auf persönlicher wie kreativer Ebene für die Band von unschätzbarem Wert war. Eine inspirierende Kraft, ein Schutzengel, und wie ein Vater auch für Peter Hayes. Robert Levon Been im Februar 2013 auf qthemusic.com:

"We all went through a pretty great loss with my father passing away. He was a really important person in our lives. He really held us together through a lot of hard times. And that was from the very beginning. As an example, I don't know a lot of people know, but at high school Peter [Hayes, guitarist] was having a lot of trouble at home and was living in a van. So when I started playing guitar with Pete he would end up parking in the driveway. We'd go to school, play at night and he'd crash in our driveway, and so my father ended up taking him in and he became part of the family. It's where he's lived ever since. So it's a huge thing to lose him. He went out on the road with us, every tour doing the front of house sound, so all us - not just me - were hit pretty hard."

BRMC sagen im August 2010 zunächst alle weiteren Konzerte ab, treten dann aber doch, drei Tage nach Michael Beens Tod, am 22.8. beim deutschen Area 4-Festival auf. In einem der 6 Short Films zu "Specter At The Feast" sagt Robert: "I decided that if I didn't get back on stage and start playing again, then I might... I'd never pick myself back up."

Es gießt in Strömen beim Area 4, Monitore fallen aus, Gitarren auch, "I looked over to Peter and Leah", erzählt Robert rückblickend, "and I just felt so honored" - mit diesen beiden Menschen auf einer Bühne zu stehen. In der Menge wissen zu diesem Zeitpunkt nur die Wenigsten, unter welchem Schock die Band steht. WDR-Kameras halten die Verzweiflung fest, auf YouTube werden die Ausschnitte mittlerweile kommentiert mit Sätzen wie: "I couldn't watch it at first because they all looked shattered." - "Fuck, I'm in tears. Area 4 festival was really intense." - "Everything fell apart... but the gig was in a strange way intense... At that time, nobody knew that his dad had just passed away..." - "I just watched Berlin from that concert... hard as fuck to get through the whole video."

Was vermutlich auch kaum einer wußte oder im Sinn hatte: der 22.8. ist Robert Levon Beens Geburtstag.






 
 
 
Drei Monate vorher hatten wir BRMC in der Hamburger Markthalle live erlebt. Und aus meinem Bericht für die Akademie von 2010 darf ich zitieren:
 
"Beat The Devil's Tattoo. Und genau das ist der Auftrag dieser gebeutelten Band. Diesen Sommer starb Robert Levon Beens Papa, der ex-Frontmann von The Call, der für BRMC als Soundmann arbeitete, kurz vor einem Festivalauftritt. Robert kniete mit seinem Bass und seinem Schmerz im Schlamm, überwältigt von der Bürde, gegen all die Verwünschung und Verdammnis anzugehen, gegen die der Sound der Band revoltiert. Auf "Beat The Devil's Tattoo" rauhbauziger denn je. Daß jetzt wie bei Velvet Underground eine Frau am Schlagzeug ist, paßt ja nur ins Bild. Aus einem glitzernden Schlitten mit Hochgeschwindigkeit ein Wrack machen, und sich dann den Staub aus den schwarzen Anziehsachen klopfen und weiterstiefeln, um im nächsten Gotta go do wrong die Unverwüstlichkeit zu prüfen."
 
Es heißt, daß Robert auf den Knien noch ein R.I.P. in den Schlamm malte. Warum, so dachte man bei diesem Anblick, warum schleudert das Schicksal dieser Band, die sich mit Leah Shapiro am Schlagzeug gerade wieder konsolidiert hatte, immer wieder einen Blitz ins Speichenrad?

Trauer und Erschütterung waren nachhaltig. Es war durchaus nicht sicher, daß die Band weiterbestehen würde, und es brauchte die Monde von zwei Jahren, um eine Tragödie zu überstehen. "Specter At The Feast" erscheint fast genau drei Jahre nach "Beat The Devil's Tattoo", der Albumtitel verweist auf eine literarische Tragödie (Macbeth), Michael Been ist noch überall in dieser Musik - als presence. Kein Fest ohne Geist: es gibt kein Weitergehen ohne den Schmerz der Erinnerung. "Music began as the best way to escape what was out there, all the shit in the world that feels false, everything you want to say against it", so Robert. Und jetzt? "Music becomes the one place where you can't escape."

Der ubiquitäre Dave Grohl stellte sich zum richtigen Zeitpunkt als Katalysator zur Verfügung:

"Our record actually started when Dave invited us to come down and record on the sound board at the studios again. It felt really good recording the song on the equipment we used for the first record [2001's B.R.M.C.], it was so tempting that we asked: Would it be too much to ask if we snuck in here and tracked some of the songs we're working on right now? It all spun out from that. Dave was completely gracious and said Come in, use what you want. So we got the run of the place to make our album. From there we hit the ground running, we were in good hands. Before that though, writing the songs, was a lot of work. All of us were all in very different headspaces and we were trying to figure out where we wanted to go - if we wanted to write and play music at all."
[qthemusic.com]

Mit "Love Burns", dem ersten Song auf dem ersten Album, beschrieben diese drei - noch mit Nick Jago am Schlagzeug -, daß SIE Himmel und Hölle auf zwei Beinen ist, und eine höhere Wahrheit kenne ich nicht.

She cuts my skin and bruise my lips
She's everything to me
She tears my clothes and burns my eyes
She's all I want to see
She brings the cold and scars my soul
She's heaven sent to me






Dunkel, mysteriös, sexy, cool: wer sich so durch die Wirrnis bewegt, wer mit dem dritten Song Rock 'n' Roll definiert,







wer mir in "Awake" - so mächtig, samten und hypnotisch - Zeilen überläßt wie

I've been awake through the wrong decisions
I've held my ground now I'm gaining some
I've held my tongue through the cold realizations
I've been accused but I've only begun








hat mich für immer auf seiner Seite. "Howl", das phantastische (umstrittene) dritte Album, ist nach dem Poem von Allen Ginsberg benannt, und im neuen Video zu "Let The Day Begin" erscheint als die einzige mir bekannte Person Jack Kerouac. Beat Generation: besiegt / müde / heruntergekommen, zugleich wach / euphorisch / auf der Suche nach Salvation. "Specter At The Feast" hat wohl eher verhaltene Reaktionen ausgelöst. Wer sich wirklich einläßt auf die Platte, findet etwas, das stärker und tiefer geworden ist nach dem alchemistischen Prozeß, der schmerzhaften Transformation, dem Umschmelzen des Bleiernen. Introspektiv, zornig, herzzerreißend, tapfer und bittersüß bis zum Äußersten. Songs wie "Some Kind Of Ghost" und "Sometimes The Light" suchen Verbindung zur anderen Welt.











Gegen 21 Uhr kommen sie auf die Bühne der Großen Freiheit, Leah als erstes, Robert mit Kapuze, Peter mit obligatorischer Zigarette im Mundwinkel, mit "Let The Day Begin", dem Salut für Michael Been - The Call hatten mit dem Song Ende der 80er einen Hit -, beginnen sie, Herzenssache, der Empfang für die fast schon Verlorengeglaubten ist überwältigend. München und Berlin haben sie als Stationen in Deutschland schon hinter sich, am Abend zuvor in Berlin ist Robert Levon Been nach dem Auftritt in der Columbiahalle mit einer Akustikgitarre nach draußen gekommen, um mit einer Schar von Fans ein paar Songs in den Schoß der Nacht zu legen.


 

Und am Nachmittag in Hamburg spielten BRMC ein "Schaufensterkonzert" bei Michelle Records, auf den Mitschnitten wirkt Leah ein bißchen krank, hustet in ihren Pullover, und wenn sie an diesem Abend in der Großen Freiheit tatsächlich mit bösen Bakterien zu kämpfen hat, steigt meine Bewunderung ins Unermeßliche. Ich sehe dieser Frau wahnsinnig gern beim Schlagzeugspielen zu. Soviel Körperspannung in jedem einzelnen Schlag, konzentriert, präzise, druckvoll, und doch mit einem femininen Rest von "Frauen schlagen anders zu".

Jacke überm Geländer, wir haben uns auf Peters Seite in der ersten Reihe installiert, "Rival" vom neuen Album, Leben mit dem Verlorenen, den Verlorenen, und so leben, als wüßte man, was zur Hölle man sucht, Orte aufsuchen, die man nicht aufsuchen sollte, carry on, Seele finden und in Flammen setzen. Noch kurz das süße Gift Suspense mit "Red Eyes And Tears", dann geht der Höllenritt los, Schlag auf Schlag, und der Saal tobt. Das neue "Hate The Taste" ("Got a tortured soul, I can't give it away"), dann "Beat The Devil's Tattoo", "Whatever Happened To My Rock 'n' Roll" und "Ain't No Easy Way" nacheinander, danach muß man erstmal die Orientierung wiederfinden. BRMC geben einem ja abwechselnd das Gefühl, auf einer Triumph Thunderbird zu sitzen (nachdem man gerade "Whaddaya got?" genuschelt hat) und den ganzen Dreck hinter sich zu lassen, oder mit dem Teufel Karten zu spielen um die aufreizend langsamen Schritte, die den Raum elektrisieren, und einer von euch beiden sagt "SIE ist die Kugel, auf der mein Name steht", bloß du weißt nicht wer, der Teufel oder du.

Drittens treibt einen immer spiritual thirst, auch wenn man jede Nacht in den Abyssus fällt, viertens kann man ja wohl nichts dafür, wenn man bei dieser Musik an drei Dinge denkt, Sex, Sex und Sex. Das wird man ja wohl noch sagen dürfen in Zeiten des Neo-Biedermeier.

Nach "Berlin" und "666 Conducer" folgt mit "Returning" einer der bewegendsten Momente von "Specter At The Feast". Fünftens, das Hinübergehen auf die andere Seite. Robert Levon Been stürzt sich hinab in tiefste emotionale Tiefen, auf der Platte ist die Zeile "You found yourself inside a tomb, screaming to the sun" kaum überstehbar, ohne daß es einem das Herz anhält. A part of you is ending, a part of you holds on. But you must leave and not turn back, knowing what you hold. How much time have we got left, it's killing us, but carries us oncarries us all. I will follow you till we all return, till we know our souls survived. Till we know you'll carry us on, carry us on, carry us all.

Plötzlich steht zunächst Robert Levon Been allein auf der Bühne und spielt "Mercy", dann Peter Hayes mit Akustikgitarre, ein magisches "Devil's Waitin'". Wäre das nicht so hypnotisch, würde man sich umdrehen, um der quatschenden Sippschaft im hinteren Teil des Saales ein "Curse active!" zuzurufen. Mit "Fire Walker" bricht quasi ein zweites Konzert an, insgesamt spielen BRMC an die 150 Minuten.

"Fire Walker", der erste Song auf "Specter At The Feast", beginnt mit Bass-Flageoletts, die der Textzeile "We pass through the gates" Vorschub zu leisten scheinen, bis Schlagzeug und knarzender Bass einen Soldier On-Rhythmus aufnehmen, der das anfänglich noch schleppende Weitermachen beklemmend illustriert, aber auch den Willen zu Selbstbesinnung statt Selbstmitleid, den Willen, nicht in Depression zu versinken. Die leicht bedrohliche, leicht unheimliche David Lynch-Stimmung, die der Anfang evoziert, weicht nicht völlig, die dunkelste Nacht von allen dauert nicht nur eine Nacht, "Fire Walker" gemahnt nicht zufällig an "Fire Walk With Me", im Text erscheint die Zeile "And maybe I'm too blind to see, the fire is all that walks with me". "Specter At The Feast" geht unter die Haut mit ergreifender Trauer, doch die Seele in dieser Musik und diesen Lyrics hält Verbindung mit dem, der vorausgegangen ist, "through the gates", und mit einer elementaren Kraft, die durch alles Verlorensein im dunklen Wald, durch alle Verletzlichkeit führt. Nie klang Robert Levon Beens Stimme so ernst und so zerbrechlich, so weit entfernt und so gespenstisch nah.

"Windows" mit Robert am Piano, und irgendwann im Lauf des Abends, vielleicht jetzt, spricht der außerhalb der Musik nicht gerade als mitteilsam bekannte Club (böse Zungen sagen "maulfaul") ein paar Worte für die Ewigkeit. Robert möchte sich bedanken. Er sagt etwas wie: "We had such a good time in Germany, the last couple of days. And I mean you guys are like the best crowd we ever had." Peter Hayes applaudiert dazu. Nach dem Konzert in Köln, einen Tag später, hieß es auf derwesten.de:

"Es war die letzte Station auf ihrer einmonatigen Tournee quer durch Europa. Aber das Beste hebt sich auch der Black Rebel Motorcycle Club offensichtlich immer bis zum Schluss auf. Denn Auftritte in Deutschland genießen bei der Alternative-Rockband aus San Francisco einen ganz besonders hohen Stellenwert. Weil ihnen das Publikum hierzulande eine innige Sympathie und Feierlust entgegenbringt, die ihresgleichen sucht."

Mit "Conscience Killer", "Stop" sowie "Love Burns", nacheinander, explodieren "innige Sympathie und Feierlust" in ein Inferno. Immer wieder, wenn Hayes singt, kniet Been vor dem Monitor mit seinem roten, abgeschabten Bass, die Augen schließend, verloren in einem Film, der nur hinter seinen Augenlidern läuft. Dann "Lullaby" von "Specter", Been singt: "We move through the dark, helpless", und "You are the hand I can't reach, you are the words I can't speak". Aber auch: "I will walk till I've no shadow".

Mit "Funny Games" folgt ein weiterer Song von "Specter" ("You stray in the dark but cut through the light of day" / "Our normal life won't be the same, there's no one safe from this" / "You tell yourself, leave the calling moans"), dann das furiose Finale mit "Six Barrel Shotgun" und "Spread Your Love". Das Haus brennt ab. Als Robert Levon Been seinen Bass schließlich abnimmt und an der ersten Reihe entlanggeht, um ein paar Hände zu berühren, erwischt er Madames und meine, und dreht sich auf dem Weg ins Dunkel noch einmal kurz um zu uns. Meine von Robert Levon Been berührte Hand kennt auch Mark Lanegans Hand und verlangt von mir nunmehr, daß ich sie "Sir" nenne. 

Als Zugabe noch zwei der neuen Songs, "Sell It" - dicker Matsch und so zornig und bösartig wie nur irgendwas, das BRMC je auf Platte preßten, schließlich "Lose Yourself", das hymnische, fast neunminütige Finale von "Specter At The Feast", ein einsamer, melancholischer Gang durch Morgendämmerung, das Ende eines langen Abschieds, der Wunsch nach Wiederauferstehung.

Breaks in the light only shape what you see
You hold it in a word but never speak
Why won't you lose yourself
At all
Climbed so high, can't escape what you dream
You feel it in your bones but never ease
It's in your touch but you can't feel a thing
You're trying not to look at the face you see
Tiny little lies replace what you need
I see it in your eyes but never reach
You can't keep quiet, you can't even scream
You hold it in your heart but the rest you leave
Why won't you lose yourself
At all

Und am Ende dieses Songs geht Robert Levon Been mit Tränen in den Augen von der Bühne.

In die Phase des postkathartischen, noch ungläubigen Sichzurechtfindens in der hellen Welt schaut uns eine junge Frau unentwegt mit großen Augen an, schließlich spricht sie Madame an, aber wir sind zu sehr in den Seilen und hängen im Funkloch. Sie hat uns für irgendwen gehalten, aber wir sind es nicht. Erst draußen kehrt Bewußtsein langsam wieder.

Wir biegen ein in die Schmuckstraße, wo der Tourbus steht und dahinter der Truck, in den schon Equipment geladen wird. Wir schauen eine Weile zu. Madame hat das "Specter"-Booklet in der Tasche und einen Silberstift, also eine Mission.

Nach vielleicht 20 Minuten erscheint eine Gestalt mit Kapuze über dem Kopf und obligatorischer Zigarette im Mundwinkel. Peter Hayes. Er scheint zu erkennen, daß wir ihn erkennen, geht auf der Straße sehr langsam am Truck vorbei, bleibt stehen, ein Taxi will durch, er schaut sich um. Madames Minute, also bleibe ich zurück. Als ich zwischen Truck und Tourbus auf den Bürgersteig komme, sehe ich noch, wie er sagt, "I'll be right back", und in den Bus steigt. Als sie da stand mit ihm, so erzählt Madame, hätten zwei, drei andere ihn erkannt und um ein Foto gebeten.
Excuse me, Sir? Would you be so kind to sign this? - Sure! - Awesome show tonight. - Oh, thank you.
So hat Madame also seinen Schriftzug auf dem Booklet und wir sitzen da auf einem dieser gemauerten Vorsprünge an der Halle und versuchen immer noch, uns zu fassen. Nach fünf Minuten kommt er, Peter Hayes, durch die Lücke zwischen Tourbus und Truck. Auf uns zu. Er ist auf der anderen Seite ausgestiegen, auf der Straßenseite. "Have they gone away?", fragt er uns, und meint die Leute, die ein Foto mit ihm wollten. "Yeah, I think they're gone, actually", sage ich. Das hätte er auch vom Bus aus sehen können, daß die weg sind. Es scheint, als hätte er wenig Lust auf ein Foto gehabt.

Und so sitzen wir da, und vor uns steht Peter Hayes, und wir plaudern ein Minütchen. "It's so good to have you back", sage ich. "Please come back soon." - "Thank you!" - Leicht überraschter Blick von ihm, etwas, das wie echte Dankbarkeit aussieht. Und als ich sage, daß ich, schließlich bin ich Untoter, "Robert's dad" mit The Call noch live gesehen habe, im Vorprogramm von irgendwem, daß ich mich aber for the life of Jehovah nicht mehr erinnern könne, für wen The Call damals als Support spielten, "maybe Iggy Pop or The Church", sagt Peter, "Oh yeah? They toured with Chrissie Hynde... and The Pretenders...?" - Nein, nie gesehen… - "Echo & The Bunnymen?" - "Yeah, possibly!"

"Thank you guys for coming", sagt Peter Hayes und schleicht auf demselben Weg zurück, den er gekommen ist.

Alles durchdringt Schmerz. Aber das Leben ist episch und großartig. Let The Day Begin.


Sometimes the silence is all we know, in every picture a fallen love
Sometimes the light turns out to right all of these wrongs
Sometimes the fallen are all we know, in every picture a silent home
Sometimes the light turns out to shine with everyone

BRMC, "Sometimes The Light", 2013.





Peter Hayes
























Let The Day Begin
Rival 
Red Eyes And Tears
Hate The Taste
Beat The Devil's Tattoo
Whatever Happened To My Rock 'n' Roll
Ain't No Easy Way
Berlin
666 Conducer
Returning
Mercy (Robert Solo Acoustic)
Devil's Waitin' (Peter Solo Acoustic)
Fire Walker
Windows
Conscience Killer
Stop
Love Burns
Lullaby
Funny Games
Six Barrel Shotgun
Spread Your Love

Sell It
Lose Yourself













Photos courtesy of Björn Wilke, blog des pieux:






 




















Montag, 8. April 2013

Babel / Sanjuro
















SPIEGEL ONLINE Forum "Lieblingsfilme - Was ist großes Kino?"

Juli 2010 





ray05:
In Babel [2006] von Alejandro González Iñárritu, den ich mir gestern abend im WDR-TV ansah, wird die These durchdekliniert, dass es kein "globales Dorf" geben kann, das auf "Kommunikation" aufgebaut ist, weder Face-to-Face noch hochtechnisiert vermittelt, sondern nur eins, das die monadischen Individuen in einer Art "Umarmung im Schmerz" existenziell verbindet. Nicht mal der Vorteil einer gemeinsamen Sprache und schon gar nicht die Tatsache, dass wir heute in Quasi-Echtzeit zwischen Hamburg und München oder zwischen Tokio und LA irgendwie "kommunizieren" täuscht also darüber hinweg, sagt der Film, dass wir im Grunde immernoch die gleichen armen Schweine sind wie zu Kain & Abels und Hiobs Zeiten. Auf uns selbst zurückgeworfen und existenziell verlassen. :) Ein Verstehen des Anderen gibt es nur in der gemeinsamen Erfahrung der Not und des damit verbundenen Schmerzes, sagt der Film, der Rest ist Illusion.








Ja, so sagt der Film vielleicht. Vielleicht sagt er aber auch nur, daß alles, was uns auseinanderbringt, die Vorstellungen sind, die wir voneinander haben und übereinander hegen, Images, die so gut wie immer falsch sind und eine endlose Kette von Mißverständnissen produzieren.
 

Andererseits sagt der Film aber auch ganz nach Zizek und Erdmann *g* : alles mit allem verbinden, weil alles mit allem verbunden ist.
 

Wer nach diesem Film Brad Pitt als "primär Schönling, als Schauspieler nicht der Rede wert" qualifiziert, redet einfach Brölk. Kein Film, der mein "Lieblingsfilm" werden könnte. Aber einer, der einem elend unter die Haut geht, Szene für Szene. Weil er im Zeigen der Distanz zwischen den Menschen eine Nähe zu ihnen herstellt, die ihresgleichen sucht. Fühlst Du Dich nicht, als hättest Du Cate Blanchetts blut- und dreckverklebtes Haar berührt? 








Poppins, Mary: 
"Babel" ist wahrhaftig ein Film, wo wir alle klein werden angesichts der Ungerechtigkeit der Welt: Die Szene, eine von vielen, wo Pitt am Ende, wo sie gerettet werden, seinen Gastgebern und Helfern dankend Geld zustecken will und der Mann abwinkt, es nicht annimmt, hat mich irgendwie gerührt: denn wenn wir alle auf das Allzumenschliche zurückgeworfen werden, dann zeigt sich wahre menschliche Größe, ich glaube Schiller würde sagen "Der Adel großer Seele zeigt sich in der Not".

Sonst kann ich nur Aljoscha zustimmen (schön, "Sie" wieder zu lesen).
Liebe Grüße 








chevy57:
Zitat von Aljoscha der Idiot 
Andererseits sagt der Film aber auch ganz nach Zizek und Erdmann *g* : alles mit allem verbinden, weil alles mit allem verbunden ist. 

Hat die Kanzlerin nicht neulich etwas ganz ähnliches verlauten lassen? Euer Einfluss auf die Realpolitik scheint doch intensiver zu sein, als ich vermutet hätte. ;)








Keine Ahnung, höre grundsätzlich nie auf irgendwas, das die Kanzlerin verlauten läßt. Zeitverschwendung, man lebt schließlich nicht ewig. Kürzlich "Sanjuro" von Kurosawa gesehen. Aus der Serie "Ah fuck. I can't believe you've done this":

Ebenso epochal betont der Film auch Nylonstrümpfe als unverzichtbar. In einer ähnlich berühmten Szene dieser phantastisch photographierten Schwarzweißperle galt es, eine einzelne Blüte in einem strömenden Flüßchen zu filmen. Um die zu dirigieren, überlegte man, sie an Klavierdraht zu befestigen, aber die Gefahr bestand, daß das Licht auf dem Draht reflektiert. Eine Kostümdesignerin am Set kam dann auf die Idee, einen Nylonstrumpf zu opfern, um die Blüte am festen, im Film aber nicht sichtbaren Nylonfaden zu befestigen. Es funktionierte, und Kurosawa fühlte ein unbeschreibliches Glück darob. Zen.



Zitat von Poppins, Mary 
Sonst kann ich nur Aljoscha zustimmen (schön, "Sie" wieder zu lesen).
Liebe Grüße
 

Eh, arigato :)