SPIEGEL ONLINE Forum "Literatur - Was lohnt es noch, zu lesen?"
November 2006
Mixolydian:
Der aus sich heraus schöpfende Genius, "a second Prometheus under Jove", wie Shaftesbury sagte, war ein Kind seiner Zeit. Selbstermächtigung des Subjekts, die unhintergehbare Vernunft und die daraus sich ableitende Verabschiedung mimetischer Kunstkonzepte haben den genialischen Künstler hervorgebracht. Der Geniekult ist also Ausfluss eines Paradigmenwechsels in der europäischen Geistesgeschichte. Das war vor ca. 220 Jahren. Und wie sieht es heute aus?
Das stolze Subjekt Goethescher Prägung hat seitdem, salopp gesagt, permanent die Ohren langgezogen bekommen. Darwins Evolutionstheorie, dann Freud, der frech behauptete, der Mensch sei nicht der Herr im eigenen Haus. Und seit dem 2. Weltkrieg ist die unbedingte Vernunftbegründetheit menschlichen Handelns endgültig kassiert. Damit hat auch eine Genieästhetik ausgespielt.
Beckett und Jarry haben das in ihren Werken beispiellos deutlich gemacht: Diese Welt ist eine verdammte Kloake, das Leben eine Krankheit zum Tode, sinnlos und leer, kurz: alles im Arsch!
Die Frage ist nun, wie man die Aporien unserer Zeit aushalten kann. Ausklinken via Regression? Das ist eine relativ mutlose Strategie, die zwar unangreifbar macht, aber auch jeden Zugriff auf das, was ist, und das, was kommen wird, unmöglich macht. Es steht zu viel auf dem Spiel (die Zukunft? das Leben an und für sich?), als dass man sich es in der Nostalgia eines untergegangenen Zeitalters gemütlich machen könnte.
Ich maße mir nicht an, ein Patentrezept für dieses Dilemma parat zu haben. Allerdings bin ich bis jetzt gut damit gefahren, die zeitgenössische Literatur nicht als Schwundstufe eines vergangenen goldenen Zeitalters zu betrachten, sondern sie ernst zu nehmen. Denn sie leistet, was sie leisten kann. Und das ist um so bemerkenswerter, wenn man bedenkt, dass sie natürlich auch gewissermaßen "Opfer" der (relativ) neuen Unübersichtlichkeit sowie der digitalen Revolution ist. Auf diese Weise an den Rand gedrängt, vermag sie jedoch endlich wieder subversiv tätig zu werden und ist so im Stande, neue Blickwinkel aufzuzeigen und damit etwas freizulegen, das uns in einer Welt, in der es scheinbar nichts Neues mehr geben kann, unvermittelt anblickt und vor Verwunderung erstarren lässt.
Entzückt, besonders über diese Schlußwendung Deines Beitrags.
Indes: daß der Mensch im Freudschen Sinne nicht Herr im eigenen Haus ist, schockiert ja gerade den Künstler nicht, der sich von den Rändern des Auf- und Abgeklärten fallen läßt. Vor einigen Monaten gab es hier eine Diskussion über den Begriff der "inneren Form" des Kunstwerks, den Goethe von Shaftesbury geklaut hat. Er besteht ja weiter, nur ist in ihm der Goethesche Gestus des klassisch beruhigten Überschauens und Anordnens, des apollinisch Gemilderten entbehrlich geworden. Daher glaube ich, daß die Entthronung des "Prometheus under Jove" nur von einem bestimmten Gestus handelt; auch gibt es natürlich einen Wandel im Verständnis der "inneren Form", aber der Begriff trägt noch immer. Der Tumult, den "Le Sacre du Printemps" am Abend des 29. Mai 1913 in Paris auslöste, hatte damit zu tun, daß ein ganzer Zuschauerraum in der Komposition Strawinskys, verstärkt durch die unerhörte Choreographie Nijinskys, keine "innere Form" mehr wahrnahm; die Wucht des Ganzen führte zum Zusammenbruch der ästhetischen Distanz. Das war einer der besten Skandale der Kulturgeschichte, zeigte er doch, wieviel Dissonantes und scheinbar Formsprengendes die innere Form verträgt.
Ich muß gestehen, daß mir die Unterscheidung zwischen "Klassikern" und zeitgenössischer Literatur schwerfällt; wenn ich "Der Meister und Margarita" lese, ist Bulgakow für mich mehr Zeitgenosse als manche Zeitgenossen. Aber das ist my own personal Idiosynkrasie, und wiewohl sich wenig Gegenwartsliteratur in meinen Umzugskartons befindet, sagt das überhaupt nichts gegen die Gegenwartsliteratur. Die Musen sind abgeschafft, der Musenkuß ist es nicht.
Literatur hat wohl immer schon aus Material geschöpft, das, gnadenlos subjektiv, der Goethe'schen Suche nach wohlgeordneter Gesetzmäßigkeit "die Ohren langgezogen hat". Kein Zufall übrigens, daß Goethe zeitlebens so an Gartenkunst interessiert war.
Das Unbewußte, Träume, Visionen, auch künstlich erzeugte, die autonom sich zusammenfügenden Sätze und Satzfetzen, die kurz vor dem Einschlafen durchs Hirn jagen können, das Zusammenkommen von Dingen, die eigentlich nicht zusammenkommen können (eine Art psychisch-kreative Synchronizität) – all dies, was uns zeigt, daß wir nicht Herr im eigenen Haus sind, hinüberzuretten und, wieder Herr im Karton, einzufügen in die "innere Form", das bedeutet: der kognitive Ablauf ist in der Dschungelhälfte, nicht in der Gartenhälfte, und irrt wollüstig erschrocken ins Phantastische. Metaphern wuchern aus gurgelnder Feuchtigkeit, jeden Schritt begleiten die absonderlichen Laute kopulierender Ideen. All das legt frei, was "vor Verwunderung erstarren läßt", neue Blickwinkel aufzeigt. Nochmal zu Shaftesbury: dieser selbst hat eigentlich betont, das obskure Objekt wissenschaftlicher Begierde, der Kosmos, wird letztenendes obskur bleiben. Unwiderlegbar: nur ein unendliches Wesen könnte unendliche Zusammenhänge erkennen. Wissend aber, daß die Zusammenhänge unendlich sind, ist es an uns, zu zeigen, daß es immer Neues gibt, geben muß. Es gibt keine Welt, nur ihre Beschreibungen.
Es gibt nur ein paar Geschichten, aber jeder erzählt sie anders. Und es gibt, wie Lessing sagt, die "Begierde, gerühret zu werden". Es gibt 97 Arten dieser Begierde und 97 Arten des Gerührtwerdens, aber ich fand, das war immer ein ganz guter Maßstab: sind wir völlig umgerührt, war es große Kunst.
Mixolydian:
Wow! Punktlandung, Aljoscha! Das war ein sehr einleuchtender Exkurs, dem ist nichts mehr hinzuzufügen. Ach ja: hier kann einer ernsthaft schreiben...