Freitag, 31. August 2018

Marianne Faithfull














































Sie, deren Schönheit so exzeptionell war wie die Form ihrer Intelligenz, die aber unter einem dunklen Schatten lebten, Nico oder Marianne Faithfull. Marianne Faithfull, de facto und nicht nur metaphorisch eine Verwandte von Leopold von Sacher-Masoch, hat Mick Jagger mal Bulgakows "Der Meister und Margarita" geschenkt, so kam es zu "Sympathy For The Devil". Als Jagger sich von ihr trennte, unternahm sie einen Selbstmordversuch, und nach einem Sechstagekoma waren ihre ersten Worte: Wild horses couldn't drag me away. Sie schoß sich im Theater Heroin, um als opheliahafteste Ophelia in die Geschichte einzugehen, lebte zeitweise in Soho auf einer Mauer und wurde doch die Frau, die immer wiederkam. In einem ihrer späteren Songs, "Times Square", gibt es diese Zeile: "Playing in a wrong world". Man weiß, warum diese Ophelia, dieser boy's dream, auf dem Weg der Selbstzerstörung den Times Square aufsucht, aber dahinter steht eben dies: playing in a wrong world. Dieses Grundgefühl, ein Fremdgänger zu sein in dieser Welt, in der als "wirklich" definierten Welt.
 









1979 hat Marianne Faithfull mit Broken English ihr Revolutionsepos geschaffen, kontrovers, provokant, radikal, wehmütig, aggressiv, düster, kalt, giftig, illusionslos. Die helle, reine Stimme der belesenen Adelstochter und Klosterschülerin ist verschwunden, auf "Broken English" hört man die rissige Stimme einer Frau, die keinen Zweifel mehr daran läßt, daß alle Verobjektivierungen, zu denen der immer leicht abwesend wirkende Engel der Sixties vielleicht einlud, hiermit gescheitert sind. Auf dem Cover hält sie noch die Zigarette in der Hand, deren Rauch sie gerade ins Gesicht aller Erwartungshaltungen geblasen hat. Eine schmerzend intime Bestandsaufnahme am seidenen Faden, Schnappschüsse aus einer Zeit, in der Mariannes persönliche Lebenssituation - Junkie ohne Dach über dem Kopf - und das Klima kollektiver Ernüchterung, das in die Revolte des Punk umgeschlagen war, sich als Ausgangspunkt für Broken English gegenseitig unter Druck setzen. In ihrer Autobiographie beschreibt Marianne Faithfull später diese Stimmung als Mahlersymphonie, die außer Kontolle gerät. Weniger Ästhetizismus prägt ihren legendären Vortrag auf "Why D'Ya Do It" - Lyrics von Heathcote Williams, dem Prospero in Derek Jarmans "The Tempest" -, der dazu führt, daß Broken English in Australien ohne diesen Track erscheint. 
 
Broken English erzählt keine Geschichten mehr, sondern hat sie gelebt. Und doch beweist Marianne Faithfull auf "The Ballad of Lucy Jordan" herzzerreißend, wie sehr es ihr dennoch möglich ist, sich wiederzufinden in einer Frau, die sich am Nichtgelebten ihres Lebens entlang in sanften Wahnsinn gleiten läßt. "Lucy Jordan is me if my life had taken a different turn. It's a song of identification with women who are trapped in that life and the true private horror of the 'good life', the one women are meant to aspire to." Auf Broken English konzentriert Marianne Faithfull ihren Mut, alles, was sie durchlebt hat, als Teil der eigenen long road zu verstehen, unashamed.
 
 
 
 
 
 
 
 
Stoned, verletzlich, sexy, halb gekreuzigt, umgeben von Trotteln und die atemberaubende Pose durchhaltend:
 
 
 
 















Dangerous Acquaintances galt dann 1981 als Enttäuschung. "Truth Bitter Truth" oder "So Sad" lassen das Album durchaus nicht so lauwarm erscheinen, wie Kritiker es sehen, aber der letdown führte dazu, daß Marianne Faithfull wieder in der Versenkung verschwand.

1983, A Child’s Adventure. Mir schien, ich war der einzige weit und breit, der diese Platte kaufte.

"Und ebensowenig wie die Träume kümmert es das Kind, ob seine Bilder denen des wirklichen Lebens gleichen oder ob sie vollständig sind: es nimmt einfach an, sie seien es, und Punkt." - Felisberto Hernández, Das verlorene Pferd

Wie ein verirrtes Kind, diese Platte. Ich liebte sie, bis vom Vinyl nicht mehr viel übrig war. Verschenkte "Times Square", "Ireland" und "The Blue Millionaire" auf den Dingern, die man heute Mixtapes nennt, and nobody cared. Daß Marianne Faithfull das Heroin noch nicht hinter sich hatte, war die schreckliche Wahrheit hinter A Child's Adventure.

Anyway, so ging es die ganze Zeit mit Marianne Faithfull. Immer kam sie plötzlich von irgendwoher und zwang einen mit einem Song in die Knie. 
 
 
 
 






In a tired part of the city 
Hiding from the fast talk
Watch Don't walk to Walk 
Easy when you're dreaming
Staring at the movies
Standing in a circle
The laughing at the wrong time

If alcohol could take me there
I'd take a shot a minute
And be there by the hour

Take a walk around Times Square
With a pistol in my suitcase
And my eyes on the TV

In a car taking a back seat
Staring out the window
Thinking about danger
Playing in a wrong world
Fighting but I'm not free
Talking on the telephone
Talking about you and me

If Jesus Christ could take me there
I'd fall down on my knees
Have no questions to his answers

Take a walk around Times Square
With a pistol in my suitcase
And my eyes on the TV

And if I die gaining my senses
Wake up in a hotel
Staring at the ceiling.










1999 erreichte ich im letzten Moment die Musikhalle. "Was kostet die billigste Karte?" - Es war 5 vor 8, sie kostete 35. "Uff!" - "Du meinst, uff, so billig kann man Marianne sehen." - "Uff, wo sitze ich denn da?" - "Uff, ganz oben." Aber dann saßen wir alle im Parkett, weil das Konzert nicht ausverkauft war. Aber wir, die wir da waren, rührten sie zu Tränen, und sie uns. Jemand reichte ihr eine Blume, sie nahm sie entzückt wie ein junges Mädchen, und dann doch ironisch-abgeklärt: "They're from your mother's garden, aren't they."



"Wilder Shores Of Love" ist der Song unter allen Marianne Faithfull-Songs, den ich höre, wenn vom Nachthimmel die Engel fallen.




 
 
 
 

Think about it when you’re out on the street
Think about it when you’ve nothing to eat
How did you fall so low from so high above?

Think about it when you’re on your own
Think about it when you’re leaving home
You didn’t see it coming, the velvet glove

Too far out on the wilder shores of love
Too far out like you knew before
On the wilder shores of love

Think about it from the other side
Realize you’ve got nothing to hide
There’s no one left alive to give you away

Night moves in mystery
What else do you want to be?
Did no one ever show you the way?

Just found out on the wilder shores of love
Just found out what you did before
On the wilder shores of love

Too far out on the wilder shores of love
Too far out what you knew before
On the wilder shores of love

I can feel your dangerous love around me
Do I want to go in there again
When all I wanted was for you to drown me
And love was there to make me go insane

I remember all the lies you told me
Shut my eyes and always you appear
I can’t forget the way you used to haunt me
I can’t forget the love that wasn’t there

Too far out on the wilder shores of love
Too far out like you knew before
On the wilder shores of love

So far out on the wilder shores of love
So far out like you knew before
On the wilder shores of love



 
[From a letter]. 
 
Yesterday afternoon, after they had sent me home for two days off, I had fallen asleep with my fever head while a collection of Marianne Faithfull songs was playing. Woke up again, sobbing, because in a dream I had been lying on my bed, crying, and a certain person who is gone had come in silence to look for me, and I understood crystal clear how the idea of angels being around came into this world. And the music was still playing and the song that just faded was this one. I'm not kidding.

















Marianne Faithfull in "Lucifer Rising", Regie Kenneth Anger.
 
 
 
 
 

 






























 
 
























(erstveröffentlicht / first published 04/2013)



















Montag, 20. August 2018

Mascha Rabben in "Welt am Draht"





























































SPIEGEL ONLINE Forum

15.02.2010


ray05:
Nur sieben Filme hat Mascha Rabben bis 1974 gemacht, u. a. den irrsinnig stilisierten Western Deadlock von Roland Klick und Werner Schroeters Salomé nach O. Wilde. In der recht berühmten Sequenz "Siskins' Party" in Welt am Draht sieht man Schroeter und Magdalena Montezuma als elektronische Impulse teilnahmslos an der Poolbar und Ivan Desny wird von "oben" einfach abgeschaltet und verschwindet spur- und gedächtnislos, als Löwitsch nur mal kurz von Christine Kaufmann abgelenkt wird. Welt am Draht ist freilich ein Kammerspiel, weil Fassbinder eben aus allem ein Kammerspiel machte und in einer Szene fragt Löwitsch: Wie werde ich abgeschaltet? und Mascha Rabben antwortet: Du wirst erschossen, morgen vormittag. Ich liebe Dich. - Warum sage ich das? Keine Ahnung, fiel mir gerade ein.







Vielleicht, weil Du Deine "Welt am Draht"-Erinnerung auch gerade bei YT neugeladen und wie ich gedacht hast: oh, Mascha Rabben. Oh, verdammt nochmal, Mascha Rabben. 





















(erstveröffentlicht / first published 16.09.2013)

















Sonntag, 19. August 2018

Welt am Draht






Sagen Sie, planen Sie nicht vielleicht einen Spaziergang über den Münchener Ostfriedhof? Könnten Sie ein Blume auf das Grab von Barbara Valentin legen? Ich wäre Ihnen schrecklich verbunden, ganz schrecklich. Eine für den Löwitsch noch? Danke, ja, unbedingt. So machen Sie es.


































(erstveröffentlicht / first published 10.09.2013)

















Donnerstag, 12. Juli 2018

Žižek / Kafka - Phantasmatic Support






 
 
 
SPIEGEL ONLINE Forum 

"Das literarische Orchester - spielen Sie mit!" 

November 2011
 
 
 
 
 
Jörn Bünning:
 
"Illusion" klingt im Deutschen stets nach Betrug und Täuschung, die sogleich mit einer gehörigen Portion "Realität" bestraft gehört. Wenn gutmeinende Freunde auf meine "Illusionen" zu sprechen kommen, dann doch stets mit dem Rat, sich davon unverzüglich zu befreien und mutig den ungeschminkten Tatsachen ins Auge zu blicken. Wen wundert's, dass Hauptmann trotz seines Plädoyers für den Angeklagten "Illusion" letztlich auf verminderte Schuldfähigkeit setzt: als versöhnender Ehestifter zerstrittener Eheleute. Doch hat die Illusion den Vorwurf der Kuppelei von "Wahrheit" mit "Lüge" verdient? Ist der Kern der Illusion tatsächlich die Verdauungshilfe zur Wahrheit?

Ein gern verwendeter, doch ebenso auf Abwege führender Begriff ist die "Projektion" (in der Psychonanalyse). Indem er in den anderen hineinschaut, entdeckt der Mensch sich selbst. Doch geht es hier vor allem um Hässlichkeiten, die wir nicht bereit sind, an uns wahrzunehmen, selten um nette Dinge, die uns das Leben verschönern.

Für mein Verständnis gibt es aber noch einen anderen Begriff, der die Tücken der beiden anderen umschifft: die Imagination. Gemeinhin als ein Vermögen verstanden, sich (auch ohne äußere Sinneseindrücke) Bilder aus dem Inneren abzurufen, beinhaltet diese Fähigkeit noch viel mehr, nämlich das Hineinsehenkönnen von Inhalten in die Wahrnehmung, Dinge zu ergänzen, die sich objektiv nicht feststellen lassen, durch die sich aber ihre Bedeutung für den Betrachter erst erschließt. Dabei geht es um etwas, das uns in den "Raumabgründen des Weltalls" jede Menge Wärme spendet, wenn wir auch bisweilen unter der imaginierten Hitze zu leiden haben, sobald die Dinge uns hässlich erscheinen.
 
 
 
 
 
Die Krähen behaupten / Christian Erdmann:
 
Sehr schön. Die Allmacht der Imagination gliedert auch den Raum der Erfahrung permanent. Das ist mehr als "Hineinsehenkönnen", das geschieht immer. Interessant ist doch, warum Menschen so allergisch auf die Information reagieren, daß sie immer mit einem "phantasmatic support" unterwegs sind, wie der verrückte Žižek das mal nannte. 
 
 
 
 
 
Jörn Bünning: 
 
Die Krähen werden den Himmel schon nicht zerstören
 
Nun, diese Krähenschrift ist mir doch seltsam vertraut, auch Slavoj Žižek ist mir kein ganz Unbekannter, selbst wenn ich seine Texte 2-3mal und mit großer Aufmerksamkeit und Vorsicht lese, vor allem, wenn er sich auch noch auf Lacan bezieht.

Aber es stimmt schon: Ohne den "phantasmatic support" funktioniert keine Erotik. Imagination ist der Schlüssel zur Wahrnehmung, der Weg zu den Empfindungen und damit zur inneren Wahrheit. Wie auch bei guter Musik, z.B. "A Secret Wish".
;)
 
 
 
 
 
Die Krähen behaupten / Christian Erdmann:

"Die Welt, die uns etwas angeht, ist falsch, d.h. ist kein Tatbestand, sondern eine Ausdichtung und Rundung über einer mageren Summe von Beobachtungen." - Nietzsche. Daß es kein Erfahrungsmaterial ohne "Ausdichtung und Rundung" gibt, meinte vermutlich auch Kant, als er das "Ding an sich" in die Tonne warf.
Guter Musikgeschmack, Herr Bünning. :)
 
 
 
 
 
Jörn Bünning: 
 
"Kein Erfahrungsmaterial ohne Ausdichtung und Rundung" ist gut gesagt - es gibt ja noch nicht einmal ein Begreifen ohne Interpretation, die eigentlich nur aus Imagination besteht. Darüber hatte sich Kant mit dem Philosophen David Hume seinerzeit gestritten: Der schottische Rationalist betonte das Primat der Wahrnehmung für alle geistigen Vorgänge im Menschen. Demgegenüber beschrieb Kant das (apriorische) Vorhandensein geistiger Erkenntnisstrukturen, die nicht aus der Wahrnehmung ableitbar sind, diese aber moderieren.

Dazu nur zwei kleine Beispiele:
Auch Hume musste letztlich einräumen, dass Kausalitäten sich nicht direkt beobachten lassen. Sie werden vielmehr bei einer Ereignisabfolge intuitiv "imaginiert", sofern die Ereignisse in ausreichend enger räumlicher und zeitlicher Abfolge auftreten.

Ein anderes Beispiel ist die Imagination von Bewegungen:
Zwei benachbarte Lämpchen blinken abwechselnd - das Licht "springt" dann scheinbar zwischen beiden hin und her. Dieser Eindruck ist so zwingend, dass er sich auch gegen besseres Wissen durchsetzt.

Doch hat auch Hume, vom Standpunkt der Evolution betrachtet, nicht unrecht. Die Kant'schen "Presets" unserer menschlichen Wahrnehmung sind schließlich selbst das Ergebnis einer langen Schulung des Lebens auf diesem Planeten und es hat lange gedauert, bis die Bedeutung ansatzweise in die Wahrnehmung hineingefunden hat.

Ohne Imagination wäre jede Wahrnehmung ohne Verstehen, Schönheit würde es nicht geben, Musik eine komplexe Folge von Geräuschen, was wohl schade wäre, allein schon wegen Mark Lanegan. ;)
 
 
 
 
 
Die Krähen behaupten / Christian Erdmann:

Zwei Facetten:
Erstens, die erkenntnistheoretische, das Paradox, daß unser Wahrnehmungsapparat uns
Weltbeschaffenheit vermittelt, die wir aber nicht objektiv beschreiben können, weil wir eben den Wahrnehmungsapparat haben, den wir haben. Nur ein verschwindend kleiner Teil der Wirklichkeit passiert die Pforte unserer Sinne. Unsere Wahrnehmungsorgane funktionieren, indem sie vorhandene Information reduzieren. Gerade weil wir so avanciert sind, wissen wir, daß nur ein naiver Realismus noch meint, daß die Dinge so sind, wie wir sie wahrnehmen. Die Auffassung von Wahrnehmung als einer Registration des "Gegebenen" ist überholt. "If the doors of perception were cleansed every thing would appear to man as it is, infinite." Sie sind aber nicht cleansed, und "infinite" ist auch nur ein Wort: auch Sprache als Organisator der Wirklichkeit beeinflußt unsere Wahrnehmung.

Zweitens, "phantasmatic support", der produktive Anteil der Einbildungskraft an der Wahrnehmung, der Anteil der Imagination und der Projektion an der Schönheit; an allem. Am Beispiel der Büste der Nofretete hat mal jemand dargestellt, wie der Vorstellung von Schönheit ein umfassender Prozeß des Ausschließens zugrundelag, wie ihr Antlitz aus dem Chaos (der Natur) herausgemeißelt ist. Ein Prozeß, der folgerichtig fortsetzt, daß Beobachtung ohnehin Auswahl ist, und in dem die Reduktion wiederum mit dem eigenen kreativen Überschuß versetzt wird.

Žižek hatte ja ein kurioses Beispiel für "phantasmatic support" - italienische Männer, die es angeblich lieben, wenn ihnen die Frau beim Sex Obszönitäten ins Ohr flüstert, bevorzugt über das, was sie mit einem anderen Mann getan hat. Apart from that, ist dies einfach von Anfang an die Art und Weise, wie wir unsere Lebenswelt gestalten. In der Wahrnehmung verleihen wir. Sehen heißt Hineinsehen. Wir agieren eh von Anfang an so, als gebe es keine uninterpretierbaren Tatsachen, wir reichern jedes Erleben mit unserer Phantasie an, schießen durch imaginäre Ordnungen, ersetzen Mythen durch Mythen.

Lese gerade die Kafka-Biographie von Peter-André Alt. Erster Satz: "Franz Kafkas Wirklichkeit war ein weitläufiger Raum der Einbildungskraft." Gemeint ist tatsächlich, daß Kafka bewußt den Raum der Erfahrung wie eine Traumlandschaft gliedert, daß er etwa seine Furcht vor dem Vater durchaus obsessiv kultiviert, weil sie zu dem Selbstbild gehört, das Bedingung seiner schriftstellerischen Existenz ist, daß ihm sein Schreiben selbst die Erfahrungswelt in einen Raum verwandelt, in dem Phantasie und Realität nicht mehr getrennt werden können. Im "großen Schachspiel" des Lebens, erklärt Kafka, sei er "der Bauer des Bauern, also eine Figur, die es nicht gibt". Bei aller realen Furcht und Einsamkeit, die er erfahren haben mag, spürt er früh, daß er die Erfahrungslandschaft seines Alltags in Zonen verwandeln muß, wo er die Kunst der Beobachtung unbefangen praktizieren kann, und sie gegen die ihn umgebende Gemeinschaft verteidigen muß. Bin noch nicht weit mit dem Buch, aber so etwa der Tenor der ersten Kapitel, der letztlich auch eine Weise des "phantasmatic support" beschreibt.
 
 
 
 
 
Jörn Bünning: 

Vorsicht!
Ich hoffe, Du weißt, worauf der sich einlässt, der seine Dämonen füttert und seine Wirklichkeit gegen eine soziale Umgebung verteidigt. Kafka war psychisch isoliert und so fruchtbar dieser Boden für seine künstlerische Gestaltung war, so furchtbar litt er zugleich unter den Dämonen seines phantasmatic support, stets in Gefahr die Kontrolle über den letzten Bauern vollends zu verlieren.

Einen Großteil ihrer Zeit ver(sch)wendet die menschliche Spezies dazu, sich einer gemeinsamen - "der richtigen" - Realität zu versichern, ihren phantasmatic support nach Kräften zu domestizieren, eine gewaltige kulturelle Leistung, die aber selbst größeren und sog. "aufgeklärten" Gesellschaften nur zeitweise und unter größten Mühen gelingt. Die großen Massenhysterien der Zeit singen uns periodisch Strophen über die Vergeblichkeit all dieser Bemühungen.

Und die Sprache, die sich anbietet als ein Geländer vor den inneren Abgründen und als betretbare Brücke zum Gegenüber, wird selbst zu einer trügerischen Spur in den Nebel und ehe wir uns versehen, stehen wir mitten im grausamen Grau, ängstlich aneinander geklammert, doch ohne einen Halt.

Folge Deinem Instinkt wie ein Käfer auf dem Tellerrand, der unendliche Welten bezwingt, indem er die Angst vergisst, wo er sie lebt.
 
 
 
 
 
Die Krähen behaupten / Christian Erdmann:

Vorsicht! Ich hoffe, Du weißt, worauf der sich einlässt, der seine Dämonen füttert (...)

Absolut.

Wie bedrückend die Gewißheit gewesen sein muß, daß nichts im Leben ihm selbstverständlich war. Worauf Alt, meinem ersten Verständnis nach, hinauswill: natürlich scheint der Vater die personifizierte Selbstgefälligkeit im Lehnstuhl gewesen zu sein, ein Alltagsdespot, der unmißverständliche Handlungsmaximen, geronnene Lebensweisheiten und banale Gemeinplätze verkündete, aber Alt sieht trotzdem die Frage, ob der Vater tatsächlich dem hier entworfenen Bild objektiv entsprach, oder ob Kafka das Modell einer archetypischen Autorität als unumkehrbares Grundmuster von Fremdheit und Bedrohlichkeit auch beizubehalten bzw. noch zu verstärken suchte, für jenen abweichenden Selbstentwurf, der sich im Schreiben verwirklichte.

Man weiß wohl von Ottla, Kafkas Lieblingsschwester, daß sie dem Vater gegenüber einen offeneren Trotz zeigte; anderer Umgang mit dieser Figur also theoretisch möglich war. Seine Schwestern liebten Kafka, Brod scheint ein wunderbarer Freund gewesen zu sein (der, so interpretiert Alt, auch Kafkas letzten Wunsch richtig verstanden hat), Kafka konnte ein glänzender Unterhalter sein usf. Insgesamt also Ausloten der Möglichkeit, daß Kafka die Zone der Isolation, die Du beschreibst, sehr bewußt bewohnte und behauptete; all seine Kräfte in sie zusammenzog, Kräfte, die er immer als sehr bemessen ansah. Daß er, trivial gesagt, nicht nur ein "angenehmeres" Leben der Kunst opferte, sondern daß er den phantasmatic support bewußt zur Verdunkelung seiner Umgebung benutzte; um in den Schatten bleiben zu können, die ihm Hellsicht gewährten.

Was Kafka beim Schreiben anstrebte, würden Neumodiker wohl als "flow" bezeichnen; das glückende Schreiben als ununterbrochener Strom (die 8 Stunden von "Das Urteil"). Du kennst die Tagebucheinträge, die, wenn das nicht gelang und er abbrach, z.T. nur aus zwei Worten bestehen: "Nichts, nichts." Wenn man ahnt, worin Kafka Glück empfand, ahnt man auch, welche Verzweiflung in diesen zwei Worten liegt. Vielleicht eine stärkere als jene, die von den Dämonen ausging? Wage ich nicht zu beurteilen.
 
 
 
 
 
ray05:

[...] "Nichts, nichts." Wenn man ahnt, worin Kafka Glück empfand, ahnt man auch, welche Verzweiflung in diesen zwei Worten liegt. Vielleicht eine stärkere als jene, die von den Dämonen ausging? Wage ich nicht zu beurteilen.

Nun, wenn ich mir den Künstler vorstelle als jemand, der sich alles, was ihm widerfährt, zunutze macht - egal, ob das Widerfahrene "eingebildet" ist oder nicht -, dann vermute ich, dass er jene Teile, die ihm den größten Nutzen für seine Arbeit versprechen, dementsprechend kultiviert, auch wenn's wehtut und die Verzweiflung mit am Tisch sitzt wie so ein Farmer aus dem Mittelwesten mit zugekniffenen Augen, Strohhut und angelegter Schrotflinte. :) Denke dennoch, dass dieses "Nichts, nichts" der größtmögliche Verzweiflungssatz ist, denn was kann schlimmer sein als das Eingeständnis vor sich selbst, nichts [mehr] zum Sprechen bringen zu können, sich nichts [mehr] zunutze machen zu können. 
 
 
 
 
 
KLMO: 
 
Bei Kafka spielte natürlich seine angeschlagene Konstitution eine Rolle. Kafka suchte am Anfang auch das Abenteuer, das Leben im Extrem, den Weg nach oben. Stattdessen überall unüberbrückbare Hindernisse, verbunden mit einer schon früh angeschlagenen Gesundheit. Beispiel: Meldet sich als Kriegsfreiwilliger, Vater interveniert - um dann noch einmal wegen Dienstuntauglichkeit abgelehnt zu werden. (Man beachte seine TB). Schon hier liegt der Schlüssel für sein introvertiertes Leben. Als Metapher: Den Berg auf herkömmliche Art zu besteigen, bleibt ihm verwehrt.

Gezwungenermaßen verharrt Kafka in der Ebene, aber er besitzt die Fähigkeit, den Berg zu durchschauen.
 
 
 
 
 
Die Krähen behaupten / Christian Erdmann:
 
... verharrt Kafka in der Ebene, aber er besitzt die Fähigkeit, den Berg zu durchschauen.

Klasse, der Satz.


Denke dennoch, dass dieses "Nichts, nichts" der größtmögliche Verzweiflungssatz ist, [...]

Wahrscheinlich eben: ja. Diese Fabrik im Zizkov-Bezirk, für die Kafka 1911/1912 Teilhaberschaft übernimmt, heftiger Streit mit dem Vater, der ihm Vorwürfe macht wegen seines geringen Einsatzes für das Unternehmen; Kafkas Verzweiflung ist so groß, daß er "Eine Stunde dann auf dem Kanapee über Aus-dem-Fenster-springen" nachdenkt. Herbst 1912, als die literarische Arbeit gut voranschreitet, erneut Selbstmordgedanken, weil er die Fabrik regelmäßig besuchen muß. Seine Erklärung, warum er den Sprung aus dem Fenster nicht gewagt hat, färbt größtmögliche Verzweiflung mit der angesichts größtmöglicher Verzweiflung größtmöglichen Ironie: weil "das am Lebenbleiben mein Schreiben (...) weniger unterbricht als der Tod."











(erstveröffentlicht / first published 17.02.2013)