Frenetischer wie fachgerechter
Einsatz natürlicher Werkzeuge, man denke an Knoblauch, Kreuz und Pfahl,
etablierte sich im Vampirfilmgenre als probates Mittel, um das Übernatürliche zu
bannen oder aus der Welt zu schaffen. Den ersten berühmten Filmvampir zwingt
ein anderes Vorgehen aus der Existenz: tragisch-lustvolle Selbstopferung.
In NOSFERATU - EINE SYMPHONIE DES
GRAUENS (Deutschland 1922, Regie Friedrich Wilhelm Murnau) ist das
viktorianische England Bram Stokers ersetzt durch ein altdeutsches Biedermeieridyll:
die Backsteingiebelhäuser von "Wisborg", 1838, Interieurs wie aus
Bildern von Georg Friedrich Kersting. Der strebsame Maklergehilfe Hutter läßt
seine junge Frau Ellen zurück und bricht nach Transsylvanien auf, "in das
Land der Gespenster", um dem Grafen Orlok ein Haus in Wisborg zu
verkaufen; eine Aufgabe, die Knock, der diabolische Häusermakler, ihm als
finanziell höchst einträgliche schmackhaft gemacht hat. Knock, Geheimagent des
Nosferatu, quittiert die in okkulten Zeichen gehaltenen Anweisungen seines
Meisters mit verschlagenem Glucksen.
Graf Orlok, der Nosferatu, dargestellt
von Max Schreck, erscheint wie inkarnierte Pestilenz, gestaltgewordener Fluch.
Finger wie Spinnenbeine, Fledermausohren, Starrblick aus dem Höllenabgrund. Sein
groteskes Äußeres steigert sich im Verlauf des Films ins überwältigend
Gräßliche, zur Impression eines dämonisch bewegten Leichnams. Die steifen Gesten und Bewegungen wirken nicht
organisch-leibhaftig, sondern dezidiert unnatürlich, unmenschlich, zuweilen -
im Fenster des Hauses, das er in Wisborg bewohnt, jenes "schöne, öde
Haus", den Hutters vis-à-vis - fast stabpuppenartig. Gleichzeitig gelingt
es Murnau und Kameramann Fritz Arno Wagner, besonders im low angle shot auf der Empusa, ihn als fast dreidimensionale Bedrohung
in Szene zu setzen, die sich aus dem frame
zu bewegen droht.
Margit Dorn erkennt in der Gestalt
des Nosferatu "Entindividualisierung" (Dorn, 79) und somit
Anonymisierung eines wahllos zuschlagenden Übels. Man könnte seine Erscheinung
aber genausogut hyperindividualisiert nennen, einzigartig, unvergeßlich. Seine
Präsenz ist hypnotisierend. Vor allem seine Langsamkeit
ist enervierend, die totenstille Intensität seiner Gegenwart lastet wie die
schiere Unausweichlichkeit des Grauens. Er wird sein eigener Schatten, wenn er
sich auf seine Opfer zubewegt, die sein Näherkommen im Zustand alptraumhafter
Lähmung erleben. Er zersetzt das Raum-Zeit-Kontinuum, Türen öffnen sich vor
ihm, weil er aus dem Abgrund der Zeit stammt, in dem eine geschlossene Tür
schon tausende Male offen, eine offene Tür schon tausende Male geschlossen war.
Mit dem Vampir kommen ein
Rattenrudel und "das große Sterben in Wisborg". Ellen Hutter gibt
sich hin als Opfer, weiß sie doch aus dem verbotenen Buch, daß es nur Rettung
gibt, wenn "ein gar sündlos Weyb dem Vampyre den ersten Schrey des Hahnen
vergessen mache. Sie gäbe ihm sonder Zwange ihr Blut." Sehr sonder Zwange
hält Ellen den Vampir im Bluttrinkmodus bei sich bis Sonnenaufgang, bis das Morgenlicht
ihn vernichtet (Murnaus Nosferatu ist der erste Vampir, der im Sonnenlicht
zugrundegeht). Angesichts der äußeren Erscheinung dieses Nosferatu ist Ellens
Hingabe ein Phänomen, das verdeutlicht, wie vom Vampir ein Charisma ausgeht,
das "nicht an visuell erkennbaren Kriterien festzumachen ist" (Pütz,
100). Nicht puritanische Kehraus-Mentalität also besiegt den Vampir, sondern
die Schaffung größerer Einheit mit ihm
läßt ihn verschwinden.
Seine Signifikanz erhält der Vampir "aus
den kollektiven Ängsten, die aus der Verdrängung des sexuellen Diskurses
innerhalb der westlichen bürgerlichen Gesellschaft resultieren. So gesehen ist
Orlok eine Projektion, in der das verdrängte Unterbewußte als monströse
Verschiebung wieder aufsteigt." (Jung, 89).
Ellens Blut fließt in dieses Wesen,
in dem auch Hutters Blut ist: so kommt es doch noch zur Fusion des "gar
sündlosen Weibes" und des Mannes, der sich stets aus ihrer Umarmung löst,
der gern damit beschäftigt ist, Kragen und Halstuch festzuzurren und damit die
im Vampirismus erogene Zone vor Ellen und ihren erotischen Wünschen zu schützen
(vgl. Jung, 78), dessen muntere Naturbürschigkeit erotische Defizite
kompensiert, der seine Liebste mit Blumensträußchen zu beglücken meint und sie
bei erster Gelegenheit für den schnöden Mammon eintauscht. "Die
Entfremdung des Bürgers ist so weit gediehen, daß er wählen muß, ob er sein
Geld oder seine Frau behalten will." (Seeßlen / Weil, 54).
Hutters Karpatenreise ist nicht entweder "Flucht vor der Repression
seiner eigenen Sexualität" (Jung, 80) oder
motiviert durch Streben "nach sozialer Aufwärtsmobilität" (Jung, 81),
sondern, selbstredend, beides zugleich; derweil kollaboriert die
vernachlässigte Frau mit anderen
Formen des Eros. Im Horrorgenre wird nur vordergründig der offensive Eros,
zumal der Frau, am Ende bestraft. Hintergründig wird gerade die Verdrängung des Eros bestraft. Hutters
absurde Selbstgewißheit nimmt nichts ernst, er nimmt vor allem den Eros nicht
ernst, und er wird damit bestraft, daß Ellen ihre Empfänglichkeit kultiviert, sich
dem bedingungslos "Liebenden" hingibt, der Nacht für Nacht
sehnsüchtig und beschwörend von Fenster zu Fenster gestarrt hat und nun vor
Ekstase die ihn vernichtende Sonne vergißt. Dieser Vampir hat nicht im
mindesten, wie Margit Dorn vermeint, wahllos zugeschlagen. Den Kaufvertrag für
das Haus unterzeichnet er unbesehen, als er Ellen auf dem Medaillonbildnis
erblickt, das Hutter bei sich hat.
"So sehe ich es - jeden Abend...
!!!" hat Ellen dem zurückgekehrten Hutter die schrecklich faszinierende
Erscheinung im gegenüberliegenden Haus gezeigt; Hutter schüttelt den Kopf,
versperrt ihr den Blick und bricht weinend vor dem Bett zusammen, ahnend, daß
er sie "an den 'Anderen' verloren hat" (Jung, 82). Hutter weiß, was
mit Ellen geschieht, versagt vor den sich regenden sexuellen Ansprüchen seiner
Frau und verbietet ihr die Lektüre des aus Transsylvanien mitgebrachten Buches,
das ihn "mit Gesichten geängstigt" hatte ("Von Vampyren,
erschrökklichten Geistern, Zaubereyen und den sieben Todsünden"). Ellen
aber kann "dem seltsam fremden Zwange nicht wehren" und liest das
Buch heimlich und in heftiger Erregung wie einen Schatz aus dem erotischen
Giftschrank.
Ellens Opfer ist nicht umsonst: das
"Böse", das vor allem deshalb "böse" ist, weil es erotische
Transformation inauguriert, ist vernichtet. Die blutleer gesaugte, zu Tode
erschöpfte Ellen hat es mit sich genommen. Sie ist nicht, wie Dorn meint,
"rein vom Gefühl bestimmt" (Dorn, 81); sie hat sich bewußt
entschieden. Sie hat den unmittelbaren Austausch über alle Äußerlichkeiten
gesetzt. Die heimliche Allianz von Monster und Frau vernichtet das Monster,
aber auch die Frau. Man kann sagen: "Die Befriedigung weiblicher
Begierden, vor allem außerhalb der Ehe, wird auf der Diskursebene des Films mit
dem Tod bestraft." (Jung, 90). Man kann aber auch sagen, daß noch Ellens
Hingabe Metapher ist für das Opfern des (alten) Selbst, das in der Begegnung
mit dem Vampir vollzogen wird: der Vampir als Un-Toter ist Sinnbild eines
Todes, der weiteres, anderes Dasein gewährt; dies wiederum ist Sinnbild eines
Todes im Leben. Brittnacher betont, daß "Helden" wie Hutter oder die
phallischen Pfähler letztlich "verarmt" zurückbleiben: dies sei
"die heimliche Gerechtigkeit der Phantastik" (Brittnacher, 153). Und
dies ist die subversive Kraft des Horrors.
Diese entging oft gerade dem
politisch korrekten, rechtschaffen Kritischen. Geyrhofer sah in NOSFERATU eine
repräsentative Version des ganzen Horrorsujets; der Film
"gipfelt in der kollektiven
Hetze auf einen mißgestalteten Vampir, vor dem eine norddeutsche Kleinstadt
ihren weiblichen Nachwuchs schützen will. Exemplarisch wird die Verfolgung
einer 'abartigen', der Perversion bezichtigten Minorität vorgeführt;
nachdrücklicher konnte man 1922 die Psychopathologie der Reichskristallnacht
nicht vorwegnehmen (...) In Nosferatu
hat Murnau (...) das zentrale Thema des Horrorfilms angeschlagen: die äußerste
Brutalisierung des Hilflosen und Schwachen durch ein Kollektiv, das den
Ausgestoßenen zum Hohn noch als Schuldigen brandmarkt." (Geyrhofer, 58
ff.).
Die kollektive Hetze trifft bei
Murnau jedoch gar nicht den Nosferatu, sondern den Makler Knock; so gilt die
Verfolgung weniger dem "Abartigen", eher der eigentlich
"bösen" Charakterfärbung (Knock als Orloks Handlanger weiß, daß Hutter auf seiner Reise nach
Transsylvanien ein wenig Blut
verlieren wird). Wenn die kleinstädtische Masse Knock plötzlich als
"Vampyr" identifiziert und mit der Jagd auf ihn beginnt ("Die
angstdurchbebte Stadt suchte ein Opfer"), kann dies, vom Wissensstand des
Mobs her gesehen, nur als hysterisch motivierte Zuschreibung gelten. Für das
Übel muß ein Verursacher her; nebenher stellt Murnau gewiß die Mechanismen der
Sündenbocksuche bloß. Knock ist kein Vampir, denn er ist bei Tageslicht
unterwegs, während den Nosferatu das Sonnenlicht vernichtet. Daß Knock
mittelbar tatsächlich ein Verursacher der Plage ist, ändert nichts an der
blindwütigen Schuldzuweisung des Mobs.
Mit dem Vampir kommt
das seuchenartige "große Sterben" nach Wisborg; mehr wird faktisch
nicht deutlich. Margit Dorn hat betont, wie die Stadt sich "der
angeblichen Pest praktisch widerstandslos wie einem verhängten Schicksal"
ausliefert: "Außer der öffentlichen Verkündigung der Gefahr und der
Aufforderung, sich in den Häusern zu verschanzen, wird nichts für die Bevölkerung
unternommen" (Dorn, 82). Tatsächlich verbietet der Magistrat gar,
Pestverdächtige ins Krankenhaus zu schaffen. So bleibt ungeklärt, was die
Menschen eigentlich dahinrafft - Pest, Vampirismus, wahnhaft umgedeuteter
natürlicher Tod, Massenhysterie -, warum die Leichenträger schließlich Sarg
nach Sarg übers Steinpflaster tragen. Nosophoros
bedeutete in der griechischen Volksmythologie Pestbringer, in Transsylvanien war Nesuferitu eine Umschreibung für den Teufel (wörtlich: der nicht zu
Ertragende, der zu Meidende, der Unausstehliche). In dem Buch, das Hutter im
Gasthaus in Transsylvanien findet, heißt es, Nosferatu sei "aus dem Samen
Belials" entstanden. Außer in "erschrökklichen Höhlen" und
Grabkammern hause er in Särgen, die gefüllt sind mit gottverfluchter Erde
"von den Aeckern des schwartzen Todes"; aus dieser Erde ziehe er
seine Schattenkraft. Auf der mythologischen Ebene des Films also quasi The Bad Seed, wird er in der Psyche zum
"bösen Samen" verborgener Wünsche und Impulse.
Es scheint eine Pestspur durch die
Häfen zu führen, in die das Schiff einläuft, auf dem der Nosferatu nach Wisborg
reist mit sinister Fracht, Ratten im Schmutz der Särge "mit
gottverfluchter Erde" und er selbst in einem leeren Sarg, aber das Logbuch
der Empusa äußert nur einen Verdacht, der den Magistraten von
Wisborg jedoch genügt. Der Maat ist seit dem dritten Tag der unheilvollen Reise
davon überzeugt, ein unbekannter Passagier sei unter Deck. Nosferatu als
unheimliche Überblendung auf einem der Särge sitzend: "Es schlich wie eine
Seuche durch das Schiff."
Die Zeitungsmeldung, die von der
Pest in Transsylvanien und den Schwarzmeerhäfen kündet, berichtet gleichzeitig
von eigenartigen Wundmalen am Hals bei allen Opfern. Wie in der Realhistorie
verwischen die Grenzen zwischen Pest, "Vampirismus" und
Massenhysterie. Göttler spricht treffend von Murnaus "Spiel mit
Vorstellungen" in diesem Film, "das sich nie verdichtet zur
konsequenten Geschichte" (Göttler, 129). Für alle Zeugnisse der
Erzählinstanzen, vom anonymen Rahmenerzähler-Ich über Hutters Briefe bis zum
Buch über Vampyre gilt: ohne Gewähr. Bewußt
vieldeutig schon der Opening Title:
"Nosferatu. Tönt dies Wort Dich
nicht an wie der mitternächtige Ruf eines Totenvogels. Hüte Dich es zu sagen,
sonst verblassen die Bilder des Lebens zu Schatten, spukhafte Träume steigen
aus dem Herzen und nähren sich von Deinem Blut." Der Übergang von
Projektion des Unbewußten ("Träume steigen aus dem Herzen") zu
Faktizität ("und nähren sich von Deinem Blut") ist fließend. Es
bleibt der poetische Kompromiß: Nosferatu kommt aus der Schattenseite, jenseits der Brücke, die Hutter überquert,
und er verkörpert die Schattenseite.
Wenn es eine Pest in Wisborg gibt,
wird sie von den Ratten übertragen. Vampirismus wäre dann die obskure
"Plage" dahinter. Aber wir
sehen auch nicht, daß der Nosferatu
sich in Wisborg für irgend jemanden außer Ellen interessiert. In Wisborg ist
der Vampirismus gar keine Plage, sondern eine ausschließliche, absolute
Beziehung.
Der Vampir ist, was er ist; Knock
indessen stellt sich bewußt in den Dienst des "bösen" Prinzips. Gewiß
läßt sich auch in Knock der mysteriöse
Außenseiter erkennen, über den "vielerlei Gerüchte gingen" und
den eine Sozialstruktur so lange duldet, wie er sich seinen Status in ihr
erkaufen kann; Knock, heißt es, bezahlte seine
Leute gut. Das eigentlich Andere
aber, auch hinsichtlich einer durch Geld geregelten und gefestigten
Sozialstruktur, ist der Nosferatu. Er entzieht einer Sozialstruktur, in der
Wirtschaftskraft und Status Synonyme für Wert
sind, das Fundament, indem er den unmittelbaren
Austausch zum Parameter der Beziehungen macht, und "Wert" in
diesem unmittelbaren Austausch entsteht.
Margit Dorn erkennt als Mittelpunkt
von NOSFERATU "die Zerstörung sozialer Lebenszusammenhänge" (Dorn,
75) auf privater Ebene (die Ehe von Ellen und Hutter) wie auf öffentlicher
Ebene (Wisborg als Paradigma der bürgerlichen Gesellschaft). Dorn behauptet für
die private Ebene, die Reise Hutters nach Transsylvanien "gefährdet seine
Ehe mit Ellen" (Dorn, 79). Tatsächlich aber ist diese Ehe tot, bevor Hutter aufbricht, bürgerlich
erstickt: dies der Hintergrund der Worte Ellens: "Warum hast Du sie
getötet... die schönen Blumen...?!" - die Hutter ihr mit seinem seligen
Einfaltslächeln gepflückt hat. Die hypersensitive Ellen ist gekleidet wie in Trauer
und demonstriert ihr Leid an einem sterilen Ehe"glück", das von
Abwesenheit des Eros ge[kenn]zeichnet ist.
Hinsichtlich der öffentlichen Ebene parallelisiert
Dorn das von ihr in NOSFERATU erkannte Thema des gesellschaftlichen Zerfalls mit
der unsicheren sozialen, politischen und wirtschaftlichen Situation in der
Weimarer Republik Anfang der 1920er Jahre, die zur Suche nach Schuldzuweisungen
und Feindbildern verführte. Murnaus Film
"[...] offerierte den Zuschauern
seiner Zeit eine distanzierte und unbewußte Bewältigung ihrer
Unsicherheitsgefühle, indem er die gesellschaftliche Instabilität in stark
verschlüsselter Form thematisierte und ersatzhafte Schuldzuweisung in
Verbindung mit einer 'tröstlichen' Lösung bot." (Dorn 76 ff.).
Die Figur des Nosferatu verkörpere,
so Dorn, alle Kräfte, von denen Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg
geschwächt und "ausgesaugt" zu werden meinte. Nach Frieda Grafe
brachten schon die Zeitgenossen den Film "in Zusammenhang mit der
Stimmung, der Befindlichkeit, die der Erste Weltkrieg in Europa hinterlassen
hatte" (Grafe, 11). Nach Kracauer spiegelt sich in den Celluloidtyrannen
der 20er Jahre die Bereitschaft der Deutschen, sich einem Führer zu unterwerfen;
manipulatorische Figuren wie Caligari
und Mabuse, aber auch Nosferatu galten ihm als Menetekel und
Vorspiel zur faschistischen Diktatur des Dritten Reiches. Zwar ist Kracauer bei
Nosferatu eher zurückhaltend, doch
seine Lesung des Films, "die nicht zuletzt durch seine Ablehnung des
Horrorgenres belastet zu sein scheint", schießt, so Jung, "trotzdem
über das Ziel hinaus" (Jung, 88). Dorn
hält Kracauers Deutung für "völlig unzutreffend", diene doch die
Figur des Vampirs "in keiner Weise dazu, eine starke Autorität und deren
Gewaltausübung zu verherrlichen" (Dorn, 85). Vielmehr bringe gerade
Nosferatu "Chaos über die bürgerliche Modellgesellschaft Wisborgs und hat
(...) in erster Linie die Funktion eines Feindbildes" (ebd.). All diese
Ansätze lassen sich, modifiziert, vereinen: Nosferatu bringt Chaos über die
bürgerliche Gesellschaft, weil er
eine starke Autorität ist, die Gewalt ausübt, nur eben nicht die von Kracauer
gesehene, sondern die verwandelnde, auflösende, zersetzende, neuschaffende
Macht des Eros. Die Bürger von Wisborg exorzieren womöglich nichts anderes als
ihre eigene Empfänglichkeit für diese Macht, die Ellen von Anfang an übersinnlich,
mit "mystischen Vorahnungen" antizipiert.
Das heißt dann aber zugleich, daß es
nicht darum ging, in der Gestalt des
Nosferatu ein entlastendes Feindbild anzubieten, sondern die Mechanismen
bloßzulegen, die im Klima der Repression zur Herstellung des Anderen führen (und Feindbilder schaffen).
In der Kritik steht dann aber gerade nicht das Andere, sondern jene Struktur,
die durch das Andere angegriffen wird. Es geht nicht darum, daß der Nosferatu zersetzt; es geht
darum, was er zersetzt. Also teilt
der Film auch nicht mit, daß der gesellschaftliche Zusammenhalt um jeden Preis zu wahren ist. Nach Dorn
sieht NOSFERATU "den gesellschaftlichen Zusammenhalt allein durch die
Opferbereitschaft des Individuums garantiert" (Dorn, 84). Daß der Film die
"Notwendigkeit eines individuellen Opfers" (ebd.) propagiere, findet
im Film bereits Widerspruch durch den subtilen Hinweis, daß Ellen sonder Zwange sich hingibt. Ellen opfert
sich nicht einfach als Einzelne für die Gemeinschaft; sie tut auch deshalb, was
sie tut, weil der Gemeinschaft die Bedürfnisse des Einzelnen zuwenig gegolten
haben und hier eine Frau diese Bedürfnisse wieder einfordert.
Geyrhofer sieht bei Murnau den präfaschistischen
Vernichtungsschlag des Kollektivs und betrachtet Diffamierung und Vernichtung
des Fremden als raison d’ être des
Horrorfilms überhaupt: "Nichts ist für den Horrorfilm charakteristischer,
als daß er stets und ohne mit der Wimper zu zucken die Partei des übermächtigen
Kollektivs und seiner mörderischen Vorurteile ergreift" (Geyrhofer, 59).
Der Horrorfilm zeige also nicht etwa
reaktionäres Verhalten, um es zugleich auch vorzuführen,
sondern sei selbst das Werkzeug
der Reaktion und Repression. Ein klassischer, seinerseits reaktionärer
Denkfehler. Wer tatsächlich nur sieht, daß der Horrorfilm "die Welt in Schwarz
und Weiß, Gut und Böse" aufteile, sich damit das "Verfahren der
bürgerlichen Rationalität" zu eigen mache und sich somit auf die Seite der
"Herrschaft" (Geyrhofer, 60) stelle, hat im Horrorfilm nur wenig
gesehen. Murnau zeigt einen monströsen Vampir nicht, weil er ein entlastendes
Feindbild anbieten will. Er zeigt den Eros nicht als monströs, weil er ihn für monströs hält, sondern weil
er aufdecken will, wie monströs der bürgerlichen Gesellschaft der Eros geworden
ist. Ellen bannt den Nosferatu, aber sie vereinigt sich auch mit ihm, vereinigt
ihn, den Inbegriff der Schattenseite,
mit der restriktiven bürgerlichen Moral.
Murnau inszeniert die Pogromstimmung
und die Raserei der Masse schließlich nicht mit Sympathie. Am Ende wird blindwütig
irgendwas zerfetzt (eine
Vogelscheuche). Aber die eigentliche Geschichte spielt ohnehin woanders, und
die abstoßende Zeichnung des Vampirs, dessen furchterregende Züge im Verlauf
des Films immer pointierter werden, kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß
Ellen nicht nur von Opfermut bewegt
ist. Max Schrecks tragisch-animalischem Nosferatu, den sein Vampirismus
zugerichtet hat zum hageren, ausgezehrten Mischwesen, Eros gefangen im Leib des
Thanatos sozusagen, geht jeglicher Herzensbrecher-Charme ab, doch er übt
denselben potenten Magnetismus aus wie später Bela Lugosi, Christopher Lee oder
Frank Langella als Vampire von aristokratischer Eleganz. Immer wieder zeigt
Murnau, da sowohl der Nosferatu als auch Hutter gen Wisborg eilen, Ellen
romantisch verdüstert am Meeresstrand ("... Ihre Sehnsucht flog dem
Geliebten entgegen, ihre Augen suchten über Wellen und Ferne"), umgeben
von Kreuzen, in der Einsamkeit der Dünen, ihren Geliebten erwartend, und die Frage ist, welchen von beiden? Sie
sieht aufs Meer hinaus. Hutter kommt,
wie er ging, auf dem Landweg, während
Ellen mit dem Nosferatu in telepathischer Verbindung steht, also weiß, daß dieser über das Meer kommt. Als
man ihr den von Hutter auf Orloks Schloß verfaßten Brief gibt, in dem er
mitteilt, daß ihn wohl zwei Mücken dicht nebeneinander in den Hals gestochen
hätten, ist sogar ihr Erschrecken zweideutig. Wenn Ellen zuletzt noch ein Stück
Stoff mit einem hingebungsvollen "Ich liebe Dich" bestickt, läßt sich
dies "sowohl in bezug auf ihren Mann als auch als Signal an den
Vampir" (Dorn, 81) verstehen. Ellen will die Liebe als totale Hingabe und
totalen Untergang; darum verschwistert sich die Sehnsucht nach intensiverem
Leben mit dem Erscheinungsbild der Todessehnsucht. Bemerkenswert Ellens Geste,
bevor sie ihr Schlafzimmerfenster öffnet und den Nosferatu damit in ihr Bett einlädt,
als sie noch einmal eine Hand erhebt in Richtung des schlafenden Hutter, dann
aber nur noch resigniert auf ihn blickt. Er ist machtlos, nutzlos, nur noch
Störfaktor in ihrem Plan.
Poetischere Naturen waren
empfänglich für die Deutung des Nosferatu als ersehntem Liebhaber: André Gide
fand den Film absurd, denkt ihn aber in seinen Tagebüchern weiter: "Gern
säh ich [den Vampir] als scheußliches Ungeheuer in aller Augen, anziehend
allein in den Augen der jungen Frau, seines freiwilligen Opfers, und wie er,
als seinerseits Verführter, immer weniger schrecklich wird, bis er wirklich zu
dem reizvollen Wesen wird, das er anfangs nur gespielt hat. Und dieses
reizvolle Wesen ist es, das der Hahnenschrei tötet, der Zuschauer plötzlich
verschwinden sehen muß -– erleichtert und zugleich mit Bedauern." (Jansen
/ Schütte 131 ff.).
Jack Kerouac: "Bei Nacht, im
Mondlicht ist er da, der Große Liebhaber, er starrt über den schrecklichen
Platz oder Kanal hinweg ins Fenster der Heldin und in ihr Auge (...) Schnell
kommt er zu ihr, mit diesem schrecklichen schnellfüßigen Gang, die Fingernägel
tropfen. Der Schatten der Hand kriecht wie Tinte über ihre schneeige Bettdecke.
Die letzte Szene zeigt, wie er an ihrem Bett kniet und ihren Hals küßt, eine
schrecklich perverse Liebesszene, die unerreicht ist wegen des plötzlichen
Pathos, mit der sie die grundlegende Hilflosigkeit des Vampirs enthüllt."
(Jansen / Schütte 132).
Es gibt bei Murnau keinen wirklich
autoritären Vertreter der patriarchalischen Struktur; die Van Helsing-Figur ist
reduziert auf die eher bizarre Nebengestalt Dr. Bulwer, ein
"Paracelsianer", der seinen Adepten privatissime und im Schlafrock fleischfressende Pflanzen und
Mikroorganismen vorführt. Er will den Sinn seiner Studenten für das vampirische
Wesen der Natur schärfen. Der Mikrolichtwurm, "durchsichtig, fast
körperlos, fast ein Phantom nur", lädt ein zum Vergleich mit dem Vampir.
Doch vom Nosferatu weiß dieser Behäbige nichts. Vielleicht weiß er mehr
darüber, wie man die jungen Angehörigen der bürgerlichen,
wirtschaftsorientierten Gesellschaft auf "natürliche" Prinzipien der
Ausbeutung vorbereitet.
Aber wenn Murnau an
gesellschaftspolitischen Dimensionen interessiert ist, dann gerade daran, das Abstoßende als das durch restriktive
Atmosphäre Abgestoßene in Erinnerung
zu rufen – die Sexualität. Murnau, der alle weiblichen Vampire der Vorlage
eliminiert, zog bekanntlich die homoerotische Sexualität vor, und er deutet sie
im Film auch an. Interessanterweise gibt es Interpreten, die selbstverständlich
davon ausgehen, daß Hutter einer vampirischen Attacke des Nosferatu entgeht,
und solche, die selbstverständlich davon ausgehen, daß er ihr nicht entgeht.
Die unheimliche Kutschfahrt, eine durch
einmontierte Negativstreifen und stop-motion-Technik
verfremdete Sequenz, bei der die Kutsche als Gespenstergefährt "in
beschleunigtem Tempo in die Bildtiefe schlingert" (Grafe, 33), bringt Hutter
zu Nosferatus altem Schloß. Der Vampir erwartet Hutter, ein "schmaler,
hagerer Schatten (...), die langen Klauen skurril übereinandergefaltet, mit
Adlernase, bleicher Gesichtshaut und dunklen Augenringen." (Dorn, 78); die
"genial photographierte schwarze Silhouette Orloks im leeren Burghof"
ist eines jener Bilder, durch die, so Béla Balázs 1923, "ein frostiger
Luftzug aus dem Jenseits weht".
Während zweier Nächte im Schloß wird
Hutter vom Nosferatu heimgesucht. In der ersten Nacht, beim Abendmahl,
schneidet sich Hutter vor Schreck über die schlagende Totenskelett-Uhr einen Finger
blutig. Der Graf stürzt sich – "Synonym für eine Fellatio" (Dorn, 80)
- auf den blutenden Finger und macht dem verstörten Hutter eindeutige Avancen:
"Wollen wir nicht ein wenig beisammen bleiben, Liebwertester?" Am
nächsten Morgen lacht Hutter schon wieder mit seiner ewigen demonstrativen
Furchtlosigkeit über die Bißmale an seinem Hals, die er als Mückenstiche deutet,
und widmet sich mit törichtem Strahlen dem Frühstück. "Man träumt hier
schwer in dem öden Schloß", schreibt er an Ellen.
Als Hutter in der zweiten Nacht von
seinem Zimmer aus um Mitternacht durch die Tür späht und sieht, wie der
Nosferatu ihn aus einiger Entfernung starr und reglos fixiert, als er im selben
Augenblick weiß, daß der Vampir in sein Refugium eindringen wird, wirft er sich
– "in einer Mischung aus Angst, Verwirrung und Erwartung" (Dorn, 80)
– aufs Bett und schließt die Augen: ergeben fügt er sich dem Kommenden und läßt
sich überwältigen. Der Vampir repräsentiert hier für Dorn "die als
verstörend empfundenen und in der bürgerlichen Sexualmoral völlig ausgegrenzten
Formen von Homo- bzw. Bisexualität" (ebd.).
Bleiben wir einfach bei Eros himself: Hutter wird also von dem überwältigt, was Ellen erwartet. Ellen, die auf somnambuler Nachtwanderung
dem so Gefürchteten wie Ersehnten entgegengeht, ereilt zur selben Stunde eine Vision
des Schattens, der über Hutter sichtbar wird; sie ruft Hutters Namen, den Ruf
vernimmt wiederum, auf derselben telepathischen Ebene, der Nosferatu, der
Vampir verläßt Hutters Zimmer, Ellen sinkt erleichtert auf ihr Kissen zurück.
Warum eigentlich erleichtert? Weil Hutter vor dem Biß des Vampirs gerettet ist?
Oder weil der Nosferatu von Hutter abläßt und sich nun endlich auf den Weg zu ihr macht? Murnau schneidet die Szene
so, daß der Nosferatu auf die weit ausgestreckten Arme der heftig atmenden Ellen
reagiert, sich quasi zu ihr umdreht. Ellen hat die Aufmerksamkeit des Nosferatu
auf sich gelenkt.
Kontroversen um
Hetero- oder Homosexualität des Vampirs erweisen sich als müßig, wenn der
Vampir als Prinzip begriffen wird:
als das Prinzip eines gewaltsam die Identitätsgrenzen auflösenden, die
Identität gewaltsam für den Austausch mit dem Anderen öffnenden erotischen Übergriffs, der Horror auslöst:
Schrecken und Lust zugleich. In einer der unvergeßlichsten Szenen des Films
richtet sich Orlok während der Schiffsreise nach Wisborg aus seinem Sarg empor:
eine 90°-Bewegung des ganzen, steifen Körpers, die deutlich an eine Erektion
gemahnt. Blutzufuhr belebt bekanntlich beides, Penis wie Vampir. Für Roger
Dadoun ist der starre Nosferatu geradezu ein umhergehender Phallus. Ellens Hingabe an das Verteufelte ist Opfer,
aber auch Bekenntnis. Verkehr mit dem Vampir zieht ihn aus dem Verkehr. Das
Schaffen größerer Einheit mit dem Prinzip
des Schaffens größerer Einheit (Eros) hebt den Vampir auf. Im Hegelschen Sinne.
Literatur:
Balázs, Béla: Schriften zum
Film, Band I, München / Wien / Berlin / Budapest 1982.
Brittnacher, Hans Richard:
Ästhetik des Horrors, Frankfurt am Main 1994.
Dorn, Margit:
Vampirfilme und ihre sozialen Funktionen. Ein Beitrag zur Genregeschichte.
Europäische Hochschulschriften: Reihe 30, Theater-, Film- und
Fernsehwissenschaften, Bd. 60, Frankfurt a.M. /
Berlin / Bern / New York / Paris / Wien 1994.
Geyrhofer, Friedrich: Horror
und Herrschaft, in: Theorie des Kinos. Ideologie der Traumfabrik, hrsg. V.
Karsten Witte, 2. Aufl., Frankfurt am Main 1973.
Göttler, Fritz:
Kommentierte Filmografie, in: Jansen / Schütte (a.a.O.)
Grafe, Frieda: Der Mann
Murnau, in: Jansen / Schütte (a.a.O.)
Jansen, Peter W. / Schütte, Wolfram (Hrsg.): Friedrich
Wilhelm Murnau, Reihe Film 43, München / Wien 1990.
Jung, Uli: Dracula.
Filmanalytische Studien zur Funktionalisierung eines Motivs der viktorianischen
Populär-Literatur (Diss. Angl.), Trier 1997.
Pütz, Susanne: Vampire
und ihre Opfer. Der Blutsauger als literarische Figur (Bonn, Univ. Diss.,
1991), Bielefeld 1992.
Seeßlen, Georg u. Weil, Claudius: Kino des
Phantastischen. Geschichte und Mythologie des Horror-Films (Grundlagen des
populären Films 2), Reinbek bei Hamburg 1980.
(erstveröffentlicht / first published 09/2014)