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"Literatur - Was lohnt es noch, zu lesen?"
August 2008
Gerade ein Plakat gesehen für den Workshop: "Eine Heimat im Körper finden". Fast hätte ich drunterschreiben wollen: Ja, aber in welchem? Huah. Mein ewiger Favorit unter den saublöden, jedoch unvergeßlichen Honk-Schmierereien: Plakat für "Begegnung mit Goethe", ergänzt mit ziselierter Kuli-Schrift: "und seinem Diddel". Gut, ganz ausblenden sollte man das Thema nicht. Stattdessen empfehle ich aber doch lieber "Manon Lescaut" von Abbé Prévost. Ein Standardwerk, eine Bibel geradezu für den Fachmann für den Communication Breakdown zwischen Hirn und Herz. L'amour fou zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Nicht Ratio, nicht Theologie vermögen hier etwas gegen die wilde Leidenschaft, die einem bezaubernden Mädchen gilt, das sich doch immer wieder entzieht, und die nachgeschobenen Erklärungen des Prévost bleiben so wirkungslos wie das Ende des Romans wirkungsvoll, in dem nämlich der vermeintliche Sieg der Tugend mit dem Tode bestraft wird. – "Wer nicht wie Des Grieux liebt, das heißt gegebenenfalls bis zum Verbrechen, bis zur Schande, kann nicht sagen, daß er liebe." (Dumas, Sohn). So ist das: wahrhaft Liebende sind Renegaten, Abtrünnige, Ketzer. All das durchzieht diesen Roman, und man nimmt hin und leidet mit Des Grieux daran, daß und wie Manon immer wieder entgleitet in die Lust an Luxus und Annehmlichkeit. Er sieht sein Unglück voraus, es kümmert ihn nicht, er weiß um die Unbedingtheit, mit der sie beide ihrem Schicksal verfallen sind, er will das Geheimnis dieser Frau, den Zauber, und wir wollen es mit ihm: welche Kunst Prévosts, daß Manon nicht eine Sekunde lang unsere Zuneigung verliert, jeder, der dabei "Schwirr doch ab, Schlampe" denkt, kriegt von Dumas, Sohn eins auf den Kopf.
ray05:
Zitat von Aljoscha der Idiot
„Wer
nicht wie Des Grieux liebt, das heißt gegebenenfalls bis zum
Verbrechen, bis zur Schande, kann nicht sagen, daß er liebe.“ (Dumas,
Sohn).
Schönes Thema. Die romantische Liebe, Unterkategorie l'amour fou. Halten Sie eine derartige menschliche Verfasstheit in der Epoche von LAP's und Psychoanalyse noch für vermittel- oder verstehbar? Ich kenne Paare, die heiraten nach acht oder zwölf Jahren gegenseitigen Vergewisserns und Prüfens, nur um schließlich festzustellen, dass sie "eigentlich unabhängig sein wollten."
Zitat von Aljoscha der Idiot
So ist das: wahrhaft Liebende sind Renegaten, Abtrünnige, Ketzer.
Aber nein, Herr Erdmann. Sind wahrhaft Liebende nicht eher Idioten?
Zitat von Aljoscha der Idiot
...Er
sieht sein Unglück voraus, es kümmert ihn nicht, er weiß um die
Unbedingtheit, mit der sie beide ihrem Schicksal verfallen sind, ...
Yep, so ist das im Eheleben. Es geht rauf und runter. Schlimmer ist nur ohne einander. :)
Zitat von ray05
Schönes Thema. Die romantische Liebe, Unterkategorie l'amour fou. Halten Sie eine derartige menschliche Verfasstheit in der Epoche von LAP's und Psychoanalyse noch für vermittel- oder verstehbar?
Prévost ist mir mehr Zeitgenosse als
viele meiner Zeitgenossen, soviel kann ich sagen. Ich sehe im Hinblick
auf "vermittel- oder verstehbar" auch einfach keinen großen Unterschied
zwischen "Manon Lescaut" und einem Song wie "Something I Can Never Have"
von Nine Inch Nails. Ich sehe dazwischen keinen Bruch, der behaupten
würde, das eine ist veraltet, das andere zeitgemäß. Ich verstehe Ihren
Punkt bestens, aber ich ignoriere ihn. Ich bestehe darauf, daß man das
Unendliche durchquert, wenn man mit einer anderen Seele in Berührung
kommt. Wenn ich die Wahl habe zwischen Manon und einem Psychiater...
"Die Lust an der perfekten Krankheit, Liebeskrankheit, schweigt vor dem
Rettenden mit schauriger Verstocktheit und bedeutet der Erlösung
verheißenden Arznei: DU wirst zugrunde gehen an MIR."
Zitat von ray05
Aber nein, Herr Erdmann. Sind wahrhaft Liebende nicht eher Idioten?
Jedenfalls ist Idiotentum männliche conditio, um in eine solche Liebe einzutreten. Exzessives Verlangen nach Hingabe an etwas Größeres als ein Gespräch unter Männern muß schon sein. :)
ray05:
Zitat von Aljoscha der Idiot
Jedenfalls
ist Idiotentum männliche conditio, um in eine solche Liebe
einzutreten. Exzessives Verlangen nach Hingabe an etwas Größeres als
ein Gespräch unter Männern muß schon sein. :)
Zitat von Mynheer Peeperkorn
Der Mensch ist göttlich sofern er fühlt. ... Gott schuf ihn, um durch ihn
zu fühlen. Der Mensch ist nichts als das Organ, durch das Gott seine
Hochzeit mit dem erweckten und berauschten Leben vollzieht. Versagt er
im Gefühl, so bricht Gottesschande herein, ... eine kosmische
Katastrophe, ...
Nun denn: Es lohnt sich unbedingt, den "Zauberberg" mal wieder zu lesen um dort die alten Freunde zu treffen: Castorp, Naphta, Peeperkorn, Settembrini, Clawdia Chauchat, Hofrat Behrens... Ein ewiger Quell, das Buch.
KLMO:
Zitat von Aljoscha der Idiot
Prévost ist mir mehr Zeitgenosse als viele meiner Zeitgenossen, soviel kann
ich sagen. Ich sehe im Hinblick auf "vermittel- oder verstehbar" auch
einfach keinen großen Unterschied zwischen "Manon Lescaut" und einem
Song wie "Something I Can Never Have" von Nine Inch Nails.
Warum immer alles so exzessiv, welches
schon pathologische Züge annimmt?! Kann mich vage an eine Novelle von
Maupassant erinnern, da schon in der Jugendzeit gelesen. Dass ich mich
an diese Novelle noch erinnere, liegt wohl daran, dass sie mich damals
sehr berührt hat.
Ein
franz. Offizier sieht bei einer Parade in Paris eine junge Adlige und
beide verlieben sich. Der Franzose nennt dies "coup de foudre". Da eine
eheliche Verbindung vom Stand her nicht möglich ist, brennen beide
durch. Keiner weiß trotz intensiver Suche, wo sie sich aufhalten, sie
bleiben für immer verschwunden.
Da
dieser Fall in der Öffentlichkeit auch seine emotionelle Berührung
fand, erinnerte sich ein Mann an diesen Fall noch nach Jahrzehnten, als
er einem Mann und einer Frau in sehr bescheidenen Verhältnissen in einer
wilden Bergwelt von Korsika begegnet. Die Leidenschaft zwischen den
beiden ist schon lange erloschen, aber sie leben beide in Eintracht und
innerer Verbundenheit, trotz ihres aufgezwungenen bescheidenen Daseins.
Das ist grob das Gegenstück zu Manon Lescaut.
Bei
beiden ist Leidenschaft im Spiel. Nur sind die Wege grundverschieden.
Da das Exzessive, begleitet von einem destruktiven Charakter und auf der
anderen Seite eine Liebe, die sich trägt.
Zitat von KLMO
Warum immer alles so exzessiv, welches
schon pathologische Züge annimmt?!
Genauere Waage für die
Goldwaage: Exzess kommt von excedere, was nur "heraustreten", "über
etwas hinausgehen" bedeutet. Und zwar aus sich selbst. SIE ist der
Permanentmagnet der Transformation, SIE verlangt den Sprung über die
Selbstsucht hinaus, SIE geleitet dich ins Mehr-als-ich. Liebe schlürft
dich aus der Schale des Dir-Innewohnens, darum geht es. Erst, wenn ein
Egoismus dem Ego des geliebten Wesens gilt, ist die "Liebe, die sich
trägt", das lange gemeinsame Werk überhaupt möglich. "Alles andere ist
Dreck", wie es irgendwo bei RD Brinkmann heißt. Soweit ist "Exzess"
gemeint, diese Bedingungslosigkeit des Verlangens, aus zwei Wesen EIN
Wesen mit zwei unabhängig operierenden Zentren zu machen.
ray05:
Zitat von Aljoscha der Idiot
SIE geleitet dich ins Mehr-als-ich. Liebe schlürft dich aus der Schale des Dir-Innewohnens, darum geht es.
Ja, es geht um Heimat und Gerettetwerden, da braucht man sich nix vorzumachen.
KLMO:
Ich antworte Ihnen
mal etwas provokatorisch mit Ortega y Gasset: "Die echte Liebe ist
nichts anderes als das Bestreben, zwei Einsamkeiten miteinander zu
vertauschen."
Das
Ich und Es läßt sich nicht verschmelzen in EIN Wesen, es ist und bleibt
eine "schöne gedachte Illusion". Ausnahme der biologische Akt als ein
Momentum, aus dem neues Leben entsteht. (Nur so ist der Spruch zu
verstehen: Alle Lebewesen sind nach dem Koitus traurig).
Ergo, und hier wiederhole ich die Worte eines Priors, "im tiefsten Herzen bleiben und sind Sie immer allein".
Exzessiv
sein ist der Versuch, aus dem Kerker des Ichs zu entfliehen. Psychiater
wissen zu berichten, dass dies auf die Dauer ein sinnloses Unterfangen
ist. Wer es trotzdem nicht einsehen will, ist in der Regel deren Patient.
"Wir verlangen nicht nach
einer Sache, weil wir sie zuvor gesehen haben, sondern umgekehrt: weil
wir schon vorher im tiefsten diese Art von Dingen vorgezogen haben,
gehen wir mit unseren Sinnen in der Welt nach ihnen auf die Suche." –
Auch Ortega y Gasset. Und das geht in die Richtung: "Unbewußtes erkennt
Unbewußtes irrtumslos". Wissen, daß man, bevor man auch nur ein Wort mit
ihm gewechselt hat, zugleich alles von diesem Menschen weiß und nichts.
Von
"romantischer" Liebe habe ich übrigens nie gesprochen, den Begriff hat
ray eingeführt. Von Exzessivität "auf Dauer" auch nicht. Aber der Wille
dazu, die Ichgrenzen einen guten Mann sein zu lassen, muß beibehalten
werden, sonst geht Liebe schlicht den Bach runter, sonst schleicht sich
jene Nachlässigkeit ein, durch die Sie am Ende nur noch im Liegestuhl
festkleben und nichts mehr bleibt als die Behauptung, die Praxis der
Theorie vorzuziehen. Liebe ist ein Werk, das nie fertig ist. Ich habe
nie einen klügeren Satz über die Liebe gehört: Liebe ist das, was
zwischen zwei Menschen geschieht, die sich lieben.
"Immer
allein" ist auch so eine einseitige Verabsolutierung. Ich kann
innerhalb einer Minute das Gefühl vollständigen Alleinseins und
vollständigen Aufgehobenseins erleben, und daran ist nichts
Pathologisches. Verschmelzung auf Koitus zu reduzieren wäre genauso
exzessiv einseitig wie: nach dem Koitus ist vor dem Koitus (für den
Freimann: "Lured by beauty, destroyed by sex" – you know).
ray05:
Zitat von Aljoscha der Idiot
"Wir verlangen nicht nach einer Sache, weil wir sie zuvor gesehen haben,
sondern umgekehrt: weil wir schon vorher im tiefsten diese Art von
Dingen vorgezogen haben, gehen wir mit unseren Sinnen in der Welt nach
ihnen auf die Suche."
Klassisch romantische Vorstellung
von der Sinnsuche. Novalis' Heinrich von Ofterdingen macht sich auf die
Suche nach der Blauen Blume, von der ihm ein Fremder erzählte.
Zitat von Aljoscha der Idiot
Wissen, daß man, bevor man auch nur ein Wort mit ihm gewechselt hat, zugleich alles von diesem Menschen weiß und nichts.
Dem Rationalisten und
Aufklärer käme dieses Wissen fraglos dubios vor. Für den Romantiker
dagegen ist dieses erste eine Wort von zentraler Bedeutung: "Die Welt
hebt an zu singen, triffst Du nur das Zauberwort."
Zitat von Aljoscha der Idiot
Liebe ist ein Werk, das nie fertig ist.
Das work-in-progress-Motiv.
L'art pour l'art. Der Weg ist das Ziel. Wie geschaffen für den
Subjektivismus des frei navigierenden romantischen Genies.
Zitat von ray05
Klassisch romantische Vorstellung von der Sinnsuche. Novalis' Heinrich von Ofterdingen macht sich auf die Suche nach der Blauen Blume, von der ihm ein Fremder erzählte.
Und Novalis selbst: versucht die "unsichtbare Welt", an deren Existenz er mit Gewißheit glaubt, wegen der fortbestehenden inneren Verbindung mit der verstorbenen Braut, mit exakter Wissenschaft anzugehen. Großartiger Ansatz! Man nennt sich nicht umsonst Novalis, Neulandbesteller. Es entsteht eine Enzyklopädie aus wissenschaftlich exakter Verworrenheit, eine Physik der Erotik (mehr im Sinne Platons als im Sinne der Cramps), eine Vermessung des Kosmos, der durch die qualitative Potenzierung entsteht, als die Novalis eine romantisierte Welt versteht. Es entsteht ein Brouillon von Analogiebildungen, weil er das Muster sucht, nach dem alles geschieht. Der magische Idealismus: daran glauben, daß dieses Muster existiert, zugleich aber ständig von der Erotik unseres Strebens verändert wird. So wird Bestimmung "gemacht".
(F) Schlegel: "Hardenberg ist dran, die Religion und die Physik durcheinander zu kneten. Das wird ein interessantes Rührei werden!" Schlegel übersah aber womöglich, daß für Novalis Religion vor allem eins bedeutete: zu Sophie, hatte er gesagt, habe er "Religion, nicht Liebe".
Zitat von ray05
Dem Rationalisten und Aufklärer käme dieses Wissen fraglos dubios vor. Für den Romantiker dagegen ist dieses erste eine Wort von zentraler Bedeutung: "Die Welt hebt an zu singen, triffst Du nur das Zauberwort."
Der Moment, in dem die Korridore, die wir in unseren Marienbads durchwandern, sich treffen. Man kann wählen, ob der Korridor die Richtung vorgibt, oder ob man die Korridore in Richtungen zu bringen weiß. Das ist das Aufregende an Marienbad: auf die Art der Bewegung kommt es an.
ray05:
Marienbad also. Als Sie mir behende davoneilten, dachte ich mir: Na, vorne an der Weggabelung hole ich ihn wieder ein. Doch außer Wladimir und Estragon und dem Kratzfuß, der einen Wegweiser halb verdeckte, war dort niemand zu sehen. Bergauf ging's nach "Sil", bergab nach "enbad", las ich an der Kratzfußgestalt vorbei.
Also fragte ich: Welchen Weg hat er genommen?
Da runter, antwortete Kratzfuß und deutete Richtung Flachland. Auf halber Strecke findest du einen leeren Benzinkanister, dann kommst Du an einem brennendem Haus vorbei. Wenn er versucht, den Hund zu retten, holst du ihn noch ein.
Ich entschied mich für die entgegengesetzte Richtung. Wie du willst, meinte Kratzfuß, der schon damit begonnen hatte, den Wegweiser abzubauen. Auf halber Strecke, kurz bevor es steil bergauf geht, siehst du einen Moccatrinker. Beachte ihn nicht und halte stattdessen weiter oben Ausschau nach dem Wanderer und dem Schifahrer. Gute Reise.
Nach ein paar Schritten hörte ich Estragon in meinem Rücken rufen: Sie sind also auch nicht Godot? Ich sah mich um. Kratzfuß hatte die Wegweiser jetzt sorgfältig verpackt.
WELL I STAND UP NEXT TO A MOUNTAIN AND I CHOP IT DOWN WITH THE EDGE OF MY HAND!
An der Weggabelung werden für gewöhnlich schwarze Küken hochgeworfen, das haben Sie schlicht vergessen. Aber sehr schön vergessen.
Von den Kurtisanen am Kreuzweg spricht Flaubert in der "Versuchung des heiligen Antonius".
Beeindruckend: die frühe Erzählung "November", sozusagen Flauberts "Werther", halb verschmäht, halb vom Autor geliebt wie keine andere, erst posthum veröffentlicht, eine Geschichte, von der Flaubert selbst mal seiner Louise schrieb: wenn du bei "November" gut zugehört hast, mußt du tausend unsagbare Dinge erraten haben, die dir erklären, was ich bin. - Die Prostituierte als "ideale" Verkörperung des Unerreichbaren, Marie als Verkörperung des ewig Ersehnten, das sich, o urfranzösisches Ideal, selbst nach etwas sehnt. Keine Charaktere, kein Plot, nichts für die Nüchternen. Einfach eine Reise durch den Hexenkessel der erotischen Phantasmen zwischen Traum und Realität, wofür der junge Flaubert eine Sprache ziseliert, deren Schönheit ihn zugleich als Psychologen auf Zickzackkurs ausweist, das Abnorme, das es nicht "wie alle Welt machen" will, hüllt sich ins Negligé preziöser Erhabenheit und endet doch im: "Ich habe sie nie wiedergesehen." – Aber wie auf Marcuses Grabstein steht: "Weitermachen".