Freitag, 1. November 2019

Traum ohne Ende / Dead of Night (1945) - Teil 1











Dead of Night, oder: Horror als Identitätskrise männlicher Architekten des scheme of things 

Teil 1



DEAD OF NIGHT [1] ist ein Film mit einer überaus vertrackten und raffinierten Komposition. Zum einen reiht er Episoden aneinander, die vom Übernatürlichen handeln: als Riß im Gewebe der Realität, als Erfahrung, die das gewohnte Weltbild und die wahrgenommene Regelhaftigkeit des "Normalen" zersetzt, eben den "natürlichen" Lauf der Dinge. Der kumulative Effekt von vier solcher Episoden suggeriert, daß auch in der fünften und berühmtesten, bekannt als "The Ventriloquist's Dummy", Übernatürliches geschieht; bedeutendes Thema in "Dead Of Night" ist jedoch auch die Desintegration des Selbst.

Zum anderen - dies die Rahmenhandlung - werden diese Geschichten erzählt von Personen, die in einem Landhaus versammelt sind und die gleichzeitig als Charaktere in der endlosen Alptraumschleife eines Mannes existieren, der, wenn er sich im Wachzustand wähnt, seinen eigenen Traumgestalten auch noch begegnet, um mit ihnen die ganze Vertracktheit zu besprechen, wobei ein Punkt des Übergangs von außerhalb des Traums zu innerhalb des Traums nicht greifbar wird und nicht einmal klar ist, ob es ihn gibt. Während besagte Personen von einer Wirklichkeit erzählen, in der es einen Riß gab, sucht dieser Mann – Walter Craig, ein Architekt – verzweifelt nach einem Riß in seiner Wirklichkeit, die darin besteht, daß der unnatürliche Lauf der Dinge nicht unterbrochen wird; sie ist ein "Traum ohne Ende" (so der deutsche Titel des Films).

Der Film setzt damit ein, daß Craig mit dem Wagen zu dem Landhaus namens Pilgrims's Farm fährt, in das er telefonisch bestellt wurde. Er hält kurz an, wirft einen Seitenblick auf das hinter einem Waldstück zum Vorschein kommende Haus, schüttelt ratlos den Kopf und fährt weiter. Er scheint verwirrt von dem, was er sieht, und da er nur ein Landhaus gesehen hat, sind auch wir bereits verwirrt. Aber Craig bewegt sich durch ein endloses Déjà vu, und er befindet sich an dem Punkt, an dem sein Bewußtsein dafür langsam wieder erwacht.

Vor dem Landhaus wird Craig von dem Mann begrüßt, der ihn angerufen hat, Eliot Foley. Foley entschuldigt sich dafür, daß er Craig ein Wochenende mit "für Sie wildfremden Menschen" [2] zumutet, und spricht dann von dem Plan für zwei neue Schlafzimmer; Craig, zunehmend nervös, weiß bereits: "And with only one living room", obwohl er direkt danach erklärt, noch nie in der Gegend gewesen zu sein - "not... not actually." In der nächsten Dialogsequenz nimmt Craig seinem Gastgeber das Wort aus dem Mund – weil er es schon kennt. Als Craig das Cottage betritt, weiß er nach kurzem Nachdenken, wo er Mantel und Hut aufzuhängen hat. Und er weiß, ihn erwarten noch weitere Gäste, deren Begrüßungen und ausgestreckte Hände er mit der Benommenheit des sich das Hirn Zermarternden ignoriert. Er glaubt, dieses Mal sei es kein Traum, sinniert: "As it isn't a dream this time, I must be going out of my mind", geht auf den Psychiater Dr. Van Straaten zu und vermutet, daß dieser wohl wieder seine Behandlung übernehme. Craig erklärt, daß jeder der Anwesenden ein Teil seines Traums sei, den er wieder und wieder träume: "... meeting you all together, here in this room that I've neer been in, in my life, until today". Van Straaten fragt, ob Craig erzählen könne, was im Traum passiert sei, und Craig erzählt nach, was bisher im Film geschah; er wisse aber auch, daß noch eine weitere Person hinzukomme – eine Frau, attraktiv, dunkles Haar; "She comes in quite unexpectedly and says something about not having any money". Nach dem Erwachen bleibe die Erinnerung nur für ein paar Sekunden, "and none of it ever comes back to me until the next time it starts."

Die Anwesenden versichern Craig, keine Zweifel darüber zu hegen, daß sie in seinem Traum vorkommen. "Keiner von uns existiert wirklich... wir sind alle nur Figuren in Mr. Craigs Traum", sagt mit charmantem Lächeln die schwarzgekleidete Joan, während sie die Beine übereinanderschlägt und sich eine Zigarette anzünden läßt.

Im Anschluß an die Frage, ob ein Blick in die Zukunft möglich sei, was Van Straaten ausschließt, erzählt der Rennfahrer Hugh Grainger "something I'll not forget to my dying day. Matter of fact it very nearly was my dying day." Grainger ist bei einem Rennen verunglückt. Nach dem Unfall liegt er physisch wie psychisch schwer versehrt und fiebernd im Krankenbett, wie ein verwundeter Soldat im Lazarett. Er redet die Krankenschwester an: "You are here, Peggy? All the way from Scotland?" Die Schwester: "All the way from Scotland." Grainger, langsam zu sich kommend: "But... you're not Peggy, are you?" - "No, I'm awfully sorry... you've been calling me Peggy for days. My name is Joyce." Grainger erklärt Joyce dankbar, von ihr gehe "eine unheimliche Ruhe" aus, und bittet sie, nicht fortzugehen, ihn nicht allein zu lassen; sie verspricht es, wenn er brav wieder einschlafe, und er schwört: "Ich tue alles, was Sie verlangen". Grainger erholt sich langsam, "it was a grand job of nursing on Joyce's part."






Die Profession des Autorennfahrers läßt sich vergleichen mit dem "conventional male heroism provided by the war" [3]; Hutchings argumentiert, "no male in the film as a whole quite recovers from the crash". Der Film, unmittelbar nach Ende des II. Weltkrieges entstanden, handelt nicht nur vom Unfall des männlichen Heroismus, er handelt überhaupt von verunsicherten Männern, die sich nicht mehr zurechtfinden.






Die nächste Szene zeigt, wie Grainger und Joyce sich offensichtlich näher gekommen sind; wie nah aber, bestimmt Joyce. Beim verliebten Dialog ist Grainger, symptomatisch, noch passiv ans Bett gefesselt, während Joyce Aktivität und muntere Dominanz verströmt: "Well, you've stopped being delirious. At least I think so, it's hard to tell, you talk such nonsense!". Als Inhalt seiner "Alpträume" bezeichnet Grainger die Angst, Joyce könne ihm einen Korb geben und Doktor Albury heiraten; Joyce antwortet "You needn't worry", aber ihre Begründung gibt kaum Anlaß, den verunsicherten Mann mit der Gewißheit auszustatten, sie würde ihn in jedem Fall vorziehen: "He has a wife and three children." Banter, klassisch britisch, aber Geplänkel in "Dead of Night" ist immer zugleich tongue-in-cheek und beredt. Als Grainger sie bittet: "Es gibt nur ein Mittel, mich endgültig zu heilen: heirate mich!", läßt sie ihn neckisch stehen bzw. liegen: "Du machst mir Laune!" (You've got a hope!") und verläßt das Zimmer. Es ist 21:45.

Grainger bleibt allein in der Nacht seines Zimmers. Er nimmt ein Buch. Musik aus einem Radio ist zu hören, der Sänger singt: Why do you pass me by? How can you treat me so when you know all that you mean to me? Dann verschwinden die Musik und das Ticken der Uhr im Nichts - "to signal a slip into a non-rational world" [4] Motorengeräusch eines vorbeifahrenden Autos hinter den geschlossenen Fenstervorhängen. Es ist nur eine Minute vergangen, seit Joyce das Zimmer verließ. Doch als Grainger auf die Uhr blickt, ist es 4:15.

Die Kamera fixiert die Fenstervorhänge, bis es nur noch eine Frage gibt: was ist hinter diesem Vorhang? "This is a noticeably evocative shot (...) it is the first supernatural event of the film and it is presented unambiguously and tangibly - we have slipped through the boundaries with the hapless racing driver" [5]. Grainger steht auf und geht langsam auf das Fenster zu. Er zieht die Vorhänge auf. Vogelzwitschern. Grainger sieht das Haus gegenüber in einiger Entfernung – im strahlenden Sonnenschein eines hellichten Tages.

Die Verstörung liegt darin, daß man das Panorama - der friedlichste Anblick, den man sich vorstellen kann - nach einem Schock absucht, während man begreift, daß dieses Panorama selbst der Schock ist. Direkt unter Graingers Fenster wartet unbewegt ein Kutscher. Schwarze Pferde, schwarze Kutsche. Ein Leichenwagen. Plötzlich hebt der Kutscher sein Gesicht und ruft Grainger zu: "Einer hätte eben noch Platz drin, Sir!" ("Just room for one inside, Sir!").





 
Grainger wendet sich ab, setzt sich aufs Bett, fährt sich durchs Haar. Das Ticken der Uhr und die Musik kehren zurück. Es ist 21:50.

Die nächste Szene zeigt Grainger im Gespräch mit Dr. Albury. Der fragt: "In der Zehntelsekunde, als Ihr Wagen aufprallte, waren Sie überzeugt, Sie müßten sterben?" Grainger bestätigt dies; auch, daß er diese Furcht noch immer nicht ganz losgeworden sei. Die Todesvisionen seien die psychische Krisis, die der physischen folge, so der smarte Albury, doch "ich wette, wir haben Sie hier raus binnen einer Woche". Nach einer Woche verläßt Grainger tatsächlich die Klinik. An der Bushaltestelle fragt ihn ein Mann nach der Uhrzeit. Grainger antwortet, es sei viertel nach 4. Als er einsteigen will, sagt der conductor zu ihm: "Einer hätte eben noch Platz drin, Sir!". Der conductor ist der Leichenkutscher. Grainger steigt nicht ein, den conductor als Todesboten erkennend – und sieht dann fassunglos zu, wie der Bus nach der Kollision mit einem Lastwagen von einer Brücke stürzt. Graingers Leben ist gerettet, doch die letzte Szene, in der Grainger erkennt, daß seine "psychische Krisis" buchstäblich der Blick durch den Riß in der Wirklichkeit war, exponiert ihn im close-up als stummen, machtlosen Zuschauer, entsprechend seiner passiven Rolle als Opfer übernatürlicher Abläufe, die keine smarte Psychologie wegerklären kann.

Die Anwesenden im Cottage diskutieren über die Geschichte. Grainger selbst besteht darauf, "that hearse driver was sent to me as a warning", der als doubting Thomas angesprochene Van Straaten will Grainger davon überzeugen, es sei nur eine phobische Reaktion auf das Einsteigen in ein Fahrzeug gewesen: "You were still obsessed by your crash". Craig mischt sich ein: "No use, Grainger. We're both in the same boat. We'll never convince him." Van Straaten wolle handfeste Beweise ("genuine first-hand evidence"), zu denen bisher keiner in der Lage war. "Bisher...", stutzt er, denn in diesem Augenblick erscheint überraschend die von Craig prophezeite attraktive, dunkelhaarige Person. Es ist Schwester Joyce, nunmehr Mrs. Grainger, die Geld für den Taxifahrer braucht. Joyce wundert sich, daß sie die Erfüllung eines Traums sei, Foley bestätigt: "Bargeldlose Brünette, erschienen nach Plan" ("Penniless brunette, laid on according to plan."), und Mrs. Foley, Eliots Mutter, klärt sie auf: "Mr. Craig träumt seit vielen Jahren von Ihnen!"

"Dead of Night's raison d'être", so Dyson, ist der Konflikt "rationality / psychiatry vs the supernatural" [6] wobei gilt: "(...) we are not encouraged to side with Van Straaten". Der die Strategie der Ratio vertretende Skeptiker artikuliert diese Stimmung auch im Plot selbst: Van Straaten mutmaßt, die anderen Versammelten hätten sich vorgenommen, ihn mit einer Inszenierung in die Falle zu locken ("An extraordinary elaborate practical joke at my expense.") Joan Cortland antwortet ihm: "Welchen Grund sollten wir haben, um uns eine solche Geschichte auszudenken?" - Welchen Grund haben wir, fragen die Traumgestalten im Cottage des psychischen Apparats die skeptizististische Ratio; eine Frage von feinster Ironie, bedenkt man, daß Ratio auch Grund heißt und für die Strategie des Logos die Welt ohne Ratio eine Welt ohne Grund ist.

Van Straaten spielt mit seiner Brille, was Craig aus seiner vorübergehenden Lethargie weckt; er sieht Schreckliches voraus: "That's it! Your glasses!" - "What about my glasses?" - "It's later on. We're having drinks. You break those glasses of yours, and then, quite suddenly, the room goes dark. And then, Foley, you say something, something about the death of a man I've never heard of. And that's where my dream becomes a nightmare. A nightmare of horror." – "Horror? What sort of horror?" fragt Joan. "Ich spüre", so Craig weiter, "wie meine Willenskraft dahinschwindet... ich fühle mich im Würgegriff einer schlimmen Macht, die mich zu etwas unaussprechlich Bösen zwingt..." Für Van Straaten ist klar: "It shows that you have some heavy weight on your conscience." Craig wird immer unruhiger. Warum könne gerade er in die Zukunft blicken? Je mehr Begebenheiten er antizipiert und voraussieht, je mehr Craig das Gefühl hat, daß er selbst dem scheme of things in diesem Landhaus zugrundeliegt, "the more he begins to crack-up" [7]. Das Irrationale ist immer auch eine Bedrohung der sozialen Norm. Als die Stimmung unbehaglich zu werden droht, meint Mrs. Foley, Sally möge jetzt vielleicht lieber gehen; die 14jährige Sally aber erklärt, ihr sei ebenfalls schon äußerst Sonderbares widerfahren, und Van Straaten will ihre Geschichte hören.

Sally erzählt von einem Weihnachtsfest, das sie in Somerset verbrachte. Im großen alten Haus einer Mrs. Watson findet eine Kinderparty statt. Sally und Jimmy Watson sind die Ältesten, aber auch Jimmy ist noch kein Mann; "significantly", beobachtet Hutchings, "aside from a briefly glimpsed aged butler, there are no adult men present" [8] Die Kinder spielen Versteck; Sally soll gesucht werden. Sie läuft die Treppe empor zu den oberen Räumen des Hauses und versteckt sich hinter einem Vorhang. Jimmy findet Sally, bringt sie auf den Dachboden und macht ihr ungeschickte Avancen; Sally, "dressed and made-up like a young woman", reißt sich los und läuft noch tiefer hinein in die entlegensten Winkel des Hauses, "giving us the impression that [she] has travelled a long way from the rest of the guests, and from help" [9].






Jimmy hatte versucht, Sally Angst zu machen mit einer Gespenstergeschichte: in dem Haus sei ein grausiger Mord verübt worden. Die Täterin, ein Mädchen, sei wohl verrückt gewesen; sie habe ihr Opfer erdrosselt und halb geköpft.

Sally findet einen alten Korridor und hört in einem abgelegenen, vergessenen Zimmer das Schluchzen und Wimmern eines Kindes. Sie findet einen weinenden Jungen, nimmt ihn in den Arm und tröstet ihn. Der Junge bittet Sally, sie möge hier oben bei ihm bleiben. Der Junge sagt, er heiße Francis Kent, und dieses Zimmer sei das Schlafzimmer von ihm und seiner Halbschwester Constance, die sehr garstig zu ihm sei: "Constance haßt mich... sie sagt, eines Tages tötet sie mich."

Unten sucht man Sally, während diese den kleinen Francis zu Bett bringt und ihm ein Lied vorsingt. Dann erscheint sie wieder in der Halle und berichtet von ihrer Begegnung. Mrs. Watson ist verstört: "Was für ein kleiner Junge?" Jimmy bemerkt lachend, Sally habe es also die ganze Zeit gewußt? Sally hat nicht gewußt, "daß Constance Kent ihren Bruder ermordet hat, den kleinen Francis!"; daß sie einem kleinen toten Jungen begegnet ist, dem seine Halbschwester 80 Jahre zuvor den Hals aufgeschlitzt hat. [10] Hutchings bemerkt:

"The method of killing is important. Constance Kent cuts her brother's throat. This act, this cutting of the human body has often been read as an inscription or writing of sexual difference onto the body, particularly in the context of the horror film where the body in question is usually female, the wielder of the weapon usually male and the outcome a reassuring (for men) reimposition of traditional gender roles. In Dead of Night this is reversed, so it is the male who is marked by what can be read in this context as a symbolic castration (...) Moreover, this castrating act is shown as causatively linked with Sally's violent rejection of the advances of a pubescent boy, someone who is not completely a man." [11] 

Selbst das Noch-nicht-Mann-Sein wird in Dead of Night zum Symbol des verunglückten Männlichen; das Mädchen Sally muß sich um einen verunsicherten, verängstigten, kleinen Jungen kümmern; wie fast alle Männer in Dead of Night verunsicherte, ängstliche, kleine Jungen sind. Dead of Night präsentiert bezaubernde Frauen, die unter zuckersüßer Glasur Nurse und Castratrix in einem sind. Aufgeschlitzt, entmannt, entmachtet, verunsichert, passiv, versehrt und verstört, ist das männliche Geschlecht in Dead of Night dem überlegenen Lächeln der Frau ausgeliefert, das den Stachel nur noch tiefer eindringen läßt. Die männlichen Figuren der Geschichten in Dead of Night sind phallischer Macht beraubt. Einige von ihnen suchen verzweifelt Ersatz. So wie der Film "the independent / strong woman and the weak / emasculated man" gegenüberstelle, evoziere er "a sense of there being something wrong with conventional heterosexual relationships" [12]. 

Die Runde nimmt ihre angeregte Diskussion wieder auf; Joyce Grainger bemerkt, sie glaube sowohl an Sallys Geschichte als auch an Craigs Traum, und Foley nörgelt: "Mit anderen Worten, wir sind ihm hilflos ausgeliefert, dem Traum, ist ja wundervoll." Van Straaten wirft ein, wenn er nur eine Marionette sei und Craig an den Fäden ziehe, könne er ja wohl Auskunft erwarten über die Rolle, die er spielen soll, doch Craig meint, das sei nicht so einfach. Er ahne, daß er Sally Gewalt antue, doch das sei wiederum auch nicht konsistent, denn er wisse auch, daß Sally die Runde plötzlich verlassen werde. Gerade als die Runde beschließt, daß Sally zu ihrem Schutz hierbleiben solle, erscheint ihre Mutter, um Sally abzuholen. Sally protestiert: "Mom, das geht nicht, schau, das ist Mr. Craig, und ich spiele eine wichtige Rolle in seinen Träumen!" – "Oh, freut mich ganz ungeheuer, Sie kennenzulernen" ("Oh, how do you do? Such fun, charades.") "Mom, jetzt, wo es so aufregend wird, er... er schlägt mich nachher zusammen!" ("Mother, you must listen. You see Mr. Craig is going to hit me savagely!") Sallys Protest ist umsonst, Sallys Mutter nimmt ihre Tochter mit aus dem Haus.

Van Straaten fällt auf, daß Craig sich nicht an Sallys Mutter erinnert hat, aber Joan bekräftigt mit laszivem Selbstvertrauen: "Mister Craig! Je weniger der Doktor Ihnen Ihre Einlassungen abnimmt, desto mehr tue ich es!" Und sie fordert Van Straaten heraus: "Doktor! Haben Sie zufällig eine Erklärung für Folgendes?" Folgendes ist Joans Geschichte, die kurz nach ihrer Verlobung begann.

Joan überrascht Peter an dessen Geburtstag mit einem teuren Geschenk: einem alten Spiegel. Sogleich fällt auf: Joan bringt die kostspieligen Überraschungen mit in das Zuhause, in dem Peter im Sessel sitzt und auf Joans Rückkehr wartet. Beim Auspacken fragt Peter: "You haven't gone and had your portrait painted, have you?" - "No, I thought you'd like to look at yourself." - Portraits lassen Mächtige und Bedeutende von sich anfertigen. Joan, dies ist nach Sekunden klar, beherrscht diese Beziehung. "Darling, it's a beauty!" befindet Peter (quasi auch über sich selbst), effeminiert vor dem Spiegel posierend, während die starke, dominierende Frau gurrt: "Gefällt er dir?" – wie es tausend Helden in tausend Filmen zu einer den Ring oder das Collier forciert atemlos bestaunenden Frau sagten.

Die nächste Szene offenbart, daß Joan sich von einem Bekannten namens Guy nach Hause fahren ließ; Peter macht ein paar schnippische Bemerkungen über ihn, auf die Joan erwidert: "Vorsicht, mein Freund! Ich mag diesen Jungen nämlich!" ("Be careful! I'm very fond of Guy.") – "Es schmeichelt doch nur deiner Eitelkeit, den Knaben an der kurzen Leine zu halten!" ("Meaning that it pleases your disgusting feminine vanity to have him on a string.") Die Szene suggeriert, "that Joan is enjoying the company of two men (...), as if one is insufficient" [13]. Als Peter den Spiegel aufgehängt hat, sagt Joan: "I'm glad to see you're going to be useful about the house." Ist ein Mann auch inadäquat, ist es gut, wenn mehrere in irgendeiner Hinsicht adäquat sind. "Hmmm... handsome couple", sagt Joan, als sie und Peter vor dem Spiegel stehen, erneut ein Satz, auf den es eigentlich ein männliches Vorrecht gab, und in diesem Augenblick blickt Peter über seine Schulter zurück, als hätte er im Spiegel etwas hinter sich gesehen.






Als Peter sich am Abend vor dem Spiegel für eine night out fein macht, verwandelt sich das Spiegelbild vollständig. Der Spiegel bedeutet jetzt endgültig die Präsenz einer anderen Welt. Im Spiegel sieht Peter sich in einem Zimmer stehen, das nicht das Zimmer ist, in dem er tatsächlich steht. Als er sich umdreht, einmal die Augen schließt und wieder öffnet, scheint der Spuk vorbei. 

Von ausgiebigem Tanz erschöpft bemerkt Peter: "Should have worn our grass skirts". Blink and you miss it: Peter empfiehlt seiner Missus und sich selbst ein bei heißen Temperaturen getragenes Röckchen. Auch hier: banter, und doch vielsagend. Joan: "Darling, is anything the matter? You seemed to have been a bit broody all evening." - "(...) 'broodiness' another conventionally feminine attribute" [14]. Nachdem er zunächst vorschiebt, es sei nur die Hitze, kommt Peter schließlich doch auf den Spiegel zu sprechen. "Es war nicht mein Raum, den ich gesehen habe. Es war ein anderes Zimmer." ("The reflection was all wrong.")

In der Nacht tritt Peter noch einmal vor den Spiegel; erneut ist dieser andere Raum zu sehen. Es ist sichtlich ein Zimmer aus einer früheren Epoche. Im Hintergrund des dunklen Salons brennt ein Kaminfeuer. Und jetzt verschwindet die Erscheinung nicht mehr.

Joan und Peter sind in den nächsten Wochen damit beschäftigt, ein Haus zu suchen (in der kurzen Szene, die eine Besichtigung zeigt, können wir an der Körpersprache erkennen, daß Joan die Entscheidung trifft); dann folgt das Chaos der Hochzeitsvorbereitungen. Peter wird immer unkonzentrierter und reizbarer, so als wären es die "again conventionally feminine eve-of-wedding nerves" [15]. Joan organisiert alles und herrscht Peter dafür an, daß er, ständig zu Hause, nicht einmal an ein Telefongespräch gedacht hat.

Es ist der Spiegel. Peter sagt, es gelinge ihm nicht mehr, durch Willenskraft dem Spiegel seine normale Reflektion aufzuzwingen. "The only thing to do is to try not to look in it at all. But in a queer sort of way it fascinates me." Peter fühlt, daß der Spiegel Gewalt über ihn hat ("I feel as if that room, the one in the mirror, were trying to... to claim me"), daß der Spiegel versucht, ihn in das fremde Zimmer hineinzuziehen. Es scheint ihm jetzt, als wäre das fremde Zimmer sein Zimmer und sein eigenes Zimmer imaginär. Und er fühlt, daß da etwas auf ihn wartet, jenseits des Spiegels; "etwas Böses... unwahrscheinlich Böses". ("Something evil. Monstrously evil.") Wenn er die Trennlinie überschreite, werde etwas Furchtbares geschehen.






Joan, pragmatisch, will den Spiegel zurückgeben, doch Peter erwidert: "The trouble's not in the mirror - it's in my mind. It must be." Der Spiegel sei nur Holz und Glas. Peter bittet Joan: "Laß uns die Hochzeit verschieben, bitte". Joan ist vor den Kopf geschlagen, faßt sich aber rasch wieder, nimmt Peter an die Hand und führt ihn vor den Spiegel. "Schau in den Spiegel!" befiehlt sie. Peter sieht nur das fremde Zimmer und sich selbst; Joan sieht er nicht. "In the other room I'm alone!" Joan befiehlt ihm, exakt zu beschreiben, was er sieht. "Anstelle meines Bettes steht da ein anderes Bett (...) Die Vorhänge sind aus dunkelroter Seide, die Wände sind getäfelt". Dann erzählt ihm Joan, was sie sieht: "Just your ordinary room with you and me in it. Listen to me! You're going to look in this mirror again, you're going to see exactly the same as I do! Come here!" Zunächst gelingt es nicht. Joan ermuntert ihn: "You can, darling, if you try!", ergreift fest seine Hand – und es gelingt.

Im neuen Haus fühlt sich Peter zunächst durchaus wohl mit dem Spiegel – solange Joan bei ihm ist. Joan hat die Hochzeit und ihren Willen durchgesetzt. Als sie eines Abends bei ihrer Mutter weilt, ist das ominöse Spiegelbild wieder da. Peters erste Reaktion ist es, Joan anzurufen, aber er legt wieder auf, weil der Spiegel ihn ruft.

Joan erkundigt sich bei dem Antiquitätenhändler nach dem Spiegel, entdeckt in dem Laden jenes Bett, das Peter stets im Spiegel sieht, und erfährt: das Bett und der Spiegel gehörten zu den Privaträumen eines gewissen Francis Etherington, der im Jahre 1836 starb. Die Räume blieben vom Todestag bis zum Verkauf des Interieurs unbenutzt und verschlossen. Etherington, so der Antiquitätenhändler, "war ein Mann von äußerst dominantem Charakter. Arrogant, rücksichtslos, blendend aussehend, aber von ungezügeltem Temperament." Etherington machte eine reiche Erbin zu seiner Frau. Eines Tages fiel Etherington bei der Jagd vom Pferd und erlitt eine Wirbelsäulenfraktur, die ihn ans Bett fesselte. Er wurde verbittert, traute niemandem mehr und verdächtigte seine schöne Frau, ihn mit Freunden, Fremden und Dienern zu betrügen. In einem Anfall von rasender Eifersucht habe er sie schließlich erwürgt. Dann habe er sich vor den Spiegel gesetzt und sich die Kehle durchgeschnitten. Joan erkennt: "Dieser Spiegel... ist seitdem also nie wieder benutzt worden..."

Der Spiegel hatte gewissermaßen viel Zeit, das Erlebnis, das er "gesehen" hat, zu behalten. Er hat, spiegelpsychoanalytisch gesprochen, das ihn traumatisierende Erlebnis nicht verarbeitet und reproduziert den Schauplatz seines Traumas – mit dem Ziel, das zu dem Schauplatz gehörende Ereignis zu reproduzieren.

Und das Ereignis lautet: der ursprünglich und eigentlich sich als dominant verstehende Mann ist entmachtet (man darf ersetzen durch "kastriert") und abhängig geworden von der Frau, die in seiner Phantasie zum männermordenden Vamp wird – erneut verschmelzen Nurse und Castratrix –, und tötet sie. Peter befindet sich Joan gegenüber, nur scheinbar weniger dramatisch, in derselben Situation: in widerwillig submissiver Position gegenüber einer – unwiderstehlich sympathischen – Dominatrice, und eifersüchtig. Joan ist eine starke, unabhängige, sexuell selbstbewußte Frau, und so sehr Peter es zu überspielen sucht: die Rolle, die er in dieser Beziehung spielt, behagt ihm nicht. Der Spiegel, der Vergangenheit reflektiert, zeigt auch: all is not well, in dieser Beziehung.






Auffällig ist, daß Peter äußerte, etwas Furchtbares werde geschehen, wenn er die Trennlinie überschreite, und unmittelbar darauf Joan bittet, die Hochzeit zu verschieben – vordergründig, weil er Angst hat, verrückt zu werden und dies einer Ehefrau nicht zumuten will. Aber ebenso scheint die Hochzeitsnacht die Trennlinie zu sein, die zu überschreiten "Furchtbares" nach sich zieht. Was immer es ist – Widerstand gegen Joans Dominanz, unterdrückte Homosexualität, unterdrückte Erotik, unterdrückte Aggression, unterdrückte gewalttätige Impulse -, es geht, wie in so vielen Horrorfilmen, um male sexual trouble, und, damit einhergehend, um ein männliches Identitätsproblem. Das Spiegelbild lädt ein in den "monströsen Raum" auf der anderen Seite, lädt ein zur Transformation in einen Anderen. "[Peters] transformation into that other man is prefigured in passing comments about Joan's relationship with another man" [16]. 

Peter läßt sich auch verstehen als Apolliniker, der die dionysische Verschmelzung – mit Joan, mit dem Spiegel – zugleich faszinierend findet und panisch davor zurückschreckt. Dabei zeigt der Spiegel gerade dann sein normales Bild, wenn Joan und Peter – sowohl psychisch als auch dadurch, daß Joan fest seine Hand nimmt – ein Stadium der Verschmelzung erreichen. Aber Peter bleibt eingeschlossen in seinem apollinischen Solipsismus. In der Kunst wurde der Spiegel als Symbol für weibliche Eitelkeit verwendet; Peter zeigt vor dem Spiegel ein gewisses Maß an Effeminiertheit, vor allem aber auch an narzißtischer Faszination. Es scheint – zumindest bis zu einem gewissen Punkt -, als schließe Peter mit besagter "Willenskraft" Joan davon aus, im Spiegel das zu sehen, was er sieht. Im Verhältnis zwischen ihm und dem Spiegel bleibt Joan ausgeschlossen, weil der Spiegel ihm sein eigenes Innenleben zeigt – es als ein mörderisches vorwegnehmend. "In Dead of Night, men seem to spend most of their time staring anxiously into space (and, implicitly, into their own minds)" [17]. Narzißtische Introspektion als "Waffe gegen die Verschmelzung mit dem Anderen, als "Rache" für die Einbuße phallischer Macht, als Kompensation für die Unfähigkeit, an der Seite weiblicher Stärke keinen Minderwertigkeitskomplex zu entwickeln. Joan strahlt Lebenslust, wenn nicht Libertinage aus; Peters Beruf ist accountancy. Ironischerweise sagt Joan zu Peter: "I thought you'd like to look at yourself."

Der Spiegel verstärkt Peters "weibliche" Seite, die er aber nicht zu akzeptieren bereit ist. Im Spiegel muß er sich selbst ansehen als Mann des Ressentiments, gefangen in einem Rahmen, der sein Innerstes als mörderische Umgebung zeigt. 

Als Joan von dem Antiquitätenhändler zurückkehrt, ist Peter völlig verändert: "Something gone wrong with your plans for a weekend?" wirft er ihr aggressiv entgegen. Seine Eifersucht eskaliert. "Du hast gedacht: dieser Einfaltspinsel, der merkt überhaupt nicht, wenn ich mich amüsiere - nicht wahr?" Peters Rede ist bereits speaking in tongues: "Noch bin ich in der Lage, mich zu bewegen! Wie schön für dich und deinen Liebhaber, daß ich mich so elend fühle! Könnte ich heraus aus dem Raum, würde ich den Burschen in Stücke reißen!" ("But I won't stand it. Not while I've strength to move at all (...) If I could move out of this room and break him in pieces...") Joan streitet ab, Guy überhaupt gesehen zu haben. Peter aber ist jetzt außer sich, versucht, sie zu strangulieren; bei ihrem Kampf fällt Joans Blick in den Spiegel – und jetzt sieht auch sie das Zimmer from another time, sieht sie Peter und sich selbst darin. Sie ergreift einen schweren Kerzenleuchter und zerschmettert den Spiegel. Der Bann ist gebrochen. Peters erste Worte: "I seem to have cut myself..." Die Wunde des Mannes hinter dem Spiegel fügt sich vor dem Spiegel zu. Peter fragt, was denn mit dem Spiegel passiert sei; Joan demoliert auch noch dessen Reste. Für einen Augenblick war es dem Spiegel gelungen, auch die Identität zwischen Joan und dem Opfer des Mörders hinter dem Spiegel herzustellen.






Joan sah das Zimmer im Spiegel genau wie Peter, bemerkt Joyce. Van Straaten erklärt: "Dieses war ein Kasus von Kryptoamnesie". ("This was a case of crypto-amnesia. The transmissibility of an illusion by one person to one or more other persons...") Und Van Straaten ist ein Kasus von Kaschieren eines Erklärungsnotstands. Craig erklärt, er habe jetzt verstanden: der stets wiederkehrende Traum solle ihm zur Warnung dienen vor den Schrecken, die hier auf ihn lauern. "Es ist etwas Grauenhaftes, was mich hier erwartet – möglicherweise sogar der Tod!" Er will das Haus verlassen. Foley, ganz englischer "Alter-Knabe"-Typ, bringt Craig auf den Korridor und erzählt ihm "eine Story für den Heimweg". "Jolly unpleasant when you come slap up against the supernatural."













Anmerkungen:

1 GB 1945, Regie Alberto Cavalcanti, Charles Crichton, Basil Dearden, Robert Hamer
2 Deutscher Dialog wird zitiert aus der Synchronfassung, die vom ZDF 1988 für die deutsche TV-Ausstrahlung (28.09.1991) hergestellt wurde und die der für die DVD 2008 produzierten Fassung weit überlegen ist. Die Kinosynchronisation von 1947 scheint komplett verschollen.
3 Peter Hutchings, Hammer and Beyond - The British Horror Film, Manchester / New York 1993, 31
4 Jeremy Dyson, Bright Darkness. The Lost Art of the Supernatural Film, London 1997, 170
5 Dyson 170 ff.
6 Dyson 170 
7 Dyson 172
8 Hutchings 31
9 Dyson 172
10 Die echte Constance Kent wurde 100 Jahre alt und starb 1944.
11 Hutchings 31
12 Hutchings 30
13 Hutchings 31 ff.
14 Hutchings 32
15 Hutchings 32
16 Marcia Landy, British Genres, Cinema and Society 1930 - 1960, Princeton 1991, 393 
17 Hutchings 32




















Dienstag, 22. Oktober 2019

Vorwitz & Verstrickung (4): Dämmerung






Murmel murmel
Wir sind die verbannte Armee
Gefallene Engel der Finsternis
Unter eklig blühenden Wiesen
Und wir kommen noch auf euch zurück,
Ignorantes Pack!
























 

Sonntag, 20. Oktober 2019

Nick Cave & The Bad Seeds: Push The Sky Away












Das Übernatürliche: die Religionsgeschichte kennt es als das Göttliche oder als Wunder, der Okkultismus kennt es als das Übersinnliche, die Filmwelt kennt es als Greta Garbo. Das, was wir das "Natürliche" nennen, ist Teil eines Ganzen, das wir, würden wir es kennen, die "wirkliche Welt" nennen dürften. "Übernatürlich" wäre dann alles, was zwischen unserer "natürlichen" Welt und dem Ende der "wirklichen" Welt webt und lebt. Das Wunderwerk Push The Sky Away ist mit diesem Raum vertraut.

Das 15. Studioalbum der Bad Seeds ist das erste ohne Mick Harvey, und Nick Cave hat sich darauf besonnen, daß er seinen eigenen Eno hat, nämlich Warren Ellis. Ein Mann, der den Klang von fallendem Schnee kennt. Und Ellis sorgt als dominante Figur mit bewundernswertem Sinn für das präzis Diffuse, mit ätherischen und schemenhaften Klängen, mit seinen drones, mit unheimlichen Flötentönen, Orgelwellen und anderweltlichen loops ganz maßgeblich dafür, daß die Songs auf Push The Sky Away spukhaft heimgesucht werden; daß ein Hauch des Übernatürlichen über ihnen liegt.

Eine Textur, die Caves Lyrics auf diesem Werk virtuos komplementiert, in denen hinter dechiffrierbarer Aktion immer wieder ein ganz anderes Narrativ zu existieren scheint, oder, wenn man so will: ein Narrativ des Ganz Anderen.


The tree don't care what the little bird sings


Daß der Song, der das Album mit sinistrer Mattigkeit eröffnet, nicht "We Know Who You Are" heißt, sondern WE NO WHO U R, Cave für den Titel die reduktionistische Schreibweise des Netzeitalters wählt, gab Anlaß, bei the little bird an Twitter zu denken. Schließlich hatte Cave ja auch erklärt, es fasziniere ihn, "how on the internet profoundly significant events, momentary fads and mystically-tinged absurdities sit side-by-side"; so fragen die Songs auch danach, "how we might recognise and assign weight to what's genuinely important". Vielleicht geht es um die Wirkkraft des Internet in WE NO WHO U R, vielleicht deuten Lyrics wie "We know who you are / We know where you live" auf die Invasion der Privatsphäre durch die virtuelle Sphäre. Das Internet macht auch deshalb aus Menschen Furien, weil scheinbar allen alles offen liegt. Tatsächlich irren wir im Internet auch nur durch einen dunklen Wald.

Würde Clara WE NO WHO U R hören, es käme ihr ganz anderes in den Sinn.

Von Friedrich Schelling gibt es ein relativ unbekanntes Fragment namens "Clara. Über den Zusammenhang der Natur mit der Geisterwelt". Verfaßt wohl recht unmittelbar nach Caroline Schellings Tod im Jahre 1809, wendet sich das philosophische Gespräch Clara den Dingen einer anderen Welt zu, um festzustellen: die andere Welt beginnt in dieser Welt, und diese Welt ist immer auch eine andere.

Clara, die Protagonistin, ist erfüllt von dem "Gefühl eines namenlosen Schrecklichen in der Natur", von dem sie sich "mit schauerlicher Lust bald vielleicht angezogen, bald wieder abgestoßen" fühlt. Betrachtung der Natur ist für Clara mit Grauen verbunden. Es grause ihr davor, wie in der Natur "alles Bezug hat auf den Menschen". Die Natur scheine ein "geheimes verzehrendes Gift" in sich zu haben, und würde nicht diesen "Schauern der Natur" eine andere Macht in ihr das Gleichgewicht halten, sie müßte schier vergehen im Gedanken an "dies ewig ringende, nie seiende Sein".

Clara fühlt, daß dieses Andere beständig auf sie übergreift, beständig eine Grenze zu überschreiten sucht, und das Wort vom ringenden, aber nie seienden Sein spricht als das Schreckliche der Natur nicht das Undurchdringliche ihrer Beschaffenheit an; es handelt sich vielmehr um die Ahnung, daß etwas in der Natur um eine andere Beschaffenheit ringt.

Der Zusammenhang des Menschen mit der Natur, den Clara einen "magischen" nennen wird, werde wesentlich davon bestimmt, "wie viel von dieser Sinnenwelt selbst ganz Unsinnliches ist".

Vielleicht sei dieses Unsinnliche ein unterschwelliges Aufbegehren der Natur gegen die unaufhörliche Gewalt des Todes, die in ihr herrscht. Vielleicht sehne sich die Natur danach, "von der Vergänglichkeit erlöst zu werden. Eben dies, daß nichts dauert, diese innere Notwendigkeit, nach der endlich alles zerstört wird, und die nur um so gräßlicher ist, je stiller sie ist, eben diese ist das Ängstigende in der Natur."

Der Mensch als körperlich-geistiges Wesen ist Berührungs- und Übergangspunkt zweier Welten, und das namenlose Schreckliche in der Natur ist ihr Bestreben, diesen Übergangspunkt zu erreichen. Das Sein ist deshalb nie einfach seiend, weil eine strebende Macht in der Natur gleichsam ihrer Vorhut nacheilt, dem Menschen.

Als ob die Natur "wisse", daß sie vor der Gegenwart des Menschen einen Abgrund von Vergangenheit darstellt, versucht sie im Menschen ihre eigene Zukunft zu erreichen. Sie scheint ihn mit stummem Seufzen anzuklagen oder stürzt sich auf ihn, richtet ihre Pfeile auf ihn, verschlingt ihn, sie verwüstet und vernichtet. Die eingeschlossene Kraft in der Natur, die sich "zu entwickeln bereit war", so empfindet es Clara, teilt sich mit, weil sie, als noch bewußtloser, aber werdender Geist, ihr Potential zu entfalten sucht; alles an ihr sucht den Menschen und will sich seiner bemächtigen.

Darum also sehen die Dinge so aus, als ob sie bereit wären, "noch ganz andere Lebenszeichen von sich zu geben als die jetzt bekannten". Das "Schreckliche" ist das Maß ihrer Regung als Freiheitsdrang, die freie Reaktion der Dinge auf ihre Unfreiheit. Das Schreckliche ist Reaktion eines Innen auf ein Innen im Außen.


The trees will stand like pleading hands
We go down with the dew in the morning light



Nick Cave tat kund, zentrales Thema von "Push The Sky Away" sei "the tension between the male and the female". Aber, sagt Clara, es geht auch um das namenlose Schreckliche in der Natur und seine Interaktion mit dem Menschen. The trees all stand like pleading hands. Natur als Hieroglyphe für Geist, für das Eingeschlossensein einer sich gleichwohl regenden Freiheit. 

WE NO WHO U R: im Video (Regie: Gaspar Noé)








folgen wir einem Schatten durch einen spärlich und unheimlich angeleuchteten Wald. Nichts geschieht. Grauen angedeutet, nichts explizit. Wir wissen nichts, nur, daß etwas Schreckliches geschehen ist, geschehen wird, geschehen muß. Daß wir ein Potential durchschreiten, das sich unserer zu bemächtigen sucht. Wer ist das "Wir", das sich mit dem Morgentau auf die Welt senkt? Wer weiß im "We know who you are", und was? Gespenstisch und sphärisch die Klänge, eine weibliche Stimme begleitet Cave durch seine ernste Ergebenheit wie in frühen Leonard Cohen-Songs, aus dem Nichts schwirren fragile, melancholische Flötenklänge heran, all das kündet von schwelender Bedrohung und ist doch von seltsam verzauberter Schönheit, Caves Stimme auf unbegreifliche Weise tröstlich, zu Beginn dieser intensiven Kommunikation zwischen Mensch und Mächten namens Push The Sky Away. Vielleicht spricht hier irgendwas mit einer kosmischen Stimme, vielleicht brütet irgendwas auf Rache, vielleicht begegnen wir auch einer Natur, die im Sinne Claras an Schönheit teilhaben möchte, es aber noch nicht kann ("Tree don't care what the little bird sings"), vielleicht ist die eingeschlossene Kraft in der Natur aber auch Erlösung. There is no need to forgive.

Bald werden uns die Bäume noch viel fremdere Zeichen geben, als Clara jemals ahnen konnte.


You wave at the sky with wide lovely eyes 






WIDE LOVELY EYES klingt wie ein herzergreifendes, zärtliches Liebeslied, aber wide lovely eyes sind das, was jemand an einer Frau erkennt, die er aus der Ferne beobachtet: "And me at the high window watching". Meerjungfrauen hängen mit ihrem Haar von Straßenlaternen, aber vielleicht gehören die auch zum Inventar des sicher Brighton-inspirierten "dismantled funfair", den die Frau ebenso durchwandert wie einen Tunnel, der ans Meer führt. Und dort löst sie ihre Schnürbänder, arrangiert sorgfältig ihre Schuhe auf den Kieselsteinen und steigt ins Wasser, möglicherweise für immer ("You wave and wave with wide lovely eyes / Distant waves and waves of distant love / You wave and say goodbye"). Aber war sie nicht schon immer im Verbund mit den Elementen? Wie sonst könnte sie dem Himmel zuwinken? Und wie sonst könnte der Himmel es verstehen, dieses Winken with wide lovely eyes, wenn er nicht, wie Clara es ausdrückt, Bezug hätte auf den Menschen?

Gehören die crystal waves und die waves of blue dem Meer oder den Augen der Frau?

"The night expands / I am expanding": der magische Zusammenhang des Menschen mit der Natur, im vom Nick Cave abgestempelten Lyricsheet gar ohne /. Die zurückhaltende Gitarre, strummed throughout, schürt Spannung und klingt wie ablaufende Zeit. Und der Refrain klingt wie Wellen, unendlich sanfte Wellen.



All of you young girls where do you hide?
Down by the water and the restless tide






Das Wasserthema, bzw. das Thema Frau & Wasser, setzt sich fort in WATER'S EDGE. Mädchen kommen aus der Großstadt, um die local boys mit erblühender Laszivität um den Verstand zu bringen, nicht irgendwo, sondern on the water's edge. Way down where the stones meet the sea. Rastlos pulsierender, voluminöser Bass und ominöse, mysteriöse Viola, dunkel und bedrohlich anschwellend, wie Wellen, die an den Strand schlagen. Die Mädchen with white strings flowing from their ears, vermutlich iPod, und a bible of tricks they do with their legs, aber alles in geisterhafter Atmosphäre, aus Caves voyeuristischer Perspektive. Vom will of love zum thrill of love zum chill of love: Warnung, während die Violinen ängstlich werden. Übergangsritus, erotisches Spiel mit dem Feuer, das Suchen nach einer Sprache, am Ende - auch wenn der Bass throb immer nur so tut, als käme gleich die Detonation - Bilder, die eine rape scene andeuten könnten, vielleicht kennt sich der Beobachter auch nur zu gut aus mit beflecktem Eros.

Dem a girl named Bee ausgeliefert war. Thema einer Schiffsladung von Nick Cave-Songs ist, daß Frauen zur Obsession werden können. Thema vieler Nick-Cave-Songs ist, daß es nicht immer ein gutes Ende nimmt. JUBILEE STREET spielt nach dem Mord an einer Prostituierten, aus der Perspektive eines Freiers, wohl des Mörders, der vom Red Light District, in dem Bee "a 10 ton catastrophe on a 60 pound chain" anzog, nicht loskommt. Während die Akkordfolge des Songs immer intensiver wird, bewegt sich der Mann, dessen Name auf jeder Seite ihres kleinen schwarzen Buches stand, zwischen Scham und Euphorie, schließlich in eine übernatürliche Transformation: "I am alone now. I am beyond recriminations. The curtains are shut. The furniture is gone. I'm transforming. I'm vibrating. I'm glowing. I'm flying. Look at me now. I'm flying." Und er entschwindet in ein Crescendo, das die hypnotischen Linien von Ellis' wehmütig klagender Violine in einen majestätischen Streicherhimmel wandelt, ein unheimlicher Chor begleitet die Himmelfahrt.

"Niemand sonst steht mit so viel Eleganz und Stil im nebligen Eingang eines Bordells wie Nick Cave. [...] "I got love in my tummy / And a tiny little pain" singt er da, im Neonröhrenlicht, und es ist so zwielichtig, so gefährlich, so brutal, wie nichts anderes auf der Welt. Das Video der sinistren Vorabsingle 'Jubilee Street', durch das Cave so herrlich großkotzig schlendert, ist keine sechzig Sekunden alt, da blickt man dem Abgrund auch schon ins Gesicht." [plattentests.de]








For I have seen your face
On the floor of the ocean






Auf dem Cover von Push The Sky Away wirkt Susie Cave, née Bick, wie eine langbeinige Meerjungfrau [Pirates of the Caribbean: On Stranger Tides hat gerade kanonisiert, daß MERMAIDS sich an Land mit Beinen versehen], die sich in das lichtdurchflutete Schlafzimmer verirrt hat und noch auf Zehenspitzen menschlichen Gang ausprobiert, erste vorsichtige Schritte auf festem Grund. Cave öffnet gerade die shutters, um Licht auf das zu werfen, was da erscheint. Doch, es ist tatsächlich seine Frau.

"Hey! Ho! / Oh baby don't you go / All supernatural on me", warnte Cave 2004 auf Abattoir Blues / The Lyre Of Orpheus. Andernfalls hole er den Grinderman. "Übernatürlich" dort also Synonym für Unantastbarkeit, das erotisch Unerreichbare, "supernatural" als Zustand verhinderter Erotik. Mittlerweile hat er ihr Antlitz jedoch wieder auf dem Meeresgrund gesehen ("Die Vagina als Eingang in den Ozean, als Teil aller Ozeane ..." - Theweleit), verbindet in der Metapher das Sexuelle mit dem Übernatürlichen, was konfessionell in den Glauben an the Rapture mündet. Man kann an Gott, Meerjungfrauen oder 72 Jungfrauen an einer Kette glauben, why not why not. Außerdem sind sie unübersehbar da, die Nixen. "Fired from her crotch", also aus dem Ozean der Einen, fällt Cave vornüber ins Narrativ des Ganz Anderen und kontempliert die Schönheit der Meerjungfrauen. Sie sonnen sich auf Felsen, unerreichbar für den Verstoßenen, sie winken und gleiten zurück ins Wasser.

Die Musik behauptet einfach, daß Cave den lockenden und gefährlichen Wasserfrauen tatsächlich zusieht. Eine schimmernd plätschernde Gitarre, so wie es nur in mythischen Welten plätschern und sprudeln kann. Blind, wer nicht das Sonnenlicht auf geheimnisvollem Wasser tanzen sieht. Ein klagender, sehnsüchtiger Klang ganz am Rande des Songs, vom numinosen Ende der wirklichen Welt. So ein Liebeslied, so einen Verschmelzungswunsch muß man erstmal schreiben können, betört von den erotischen Reizen der Nixen, also vom Ganz Anderen. Das Beste an beiden Welten ist, daß sie nur eine sind.







"I mean she's so present within the record anyway. I think she's walking in and out of that record all the time." - Nick Cave

Ein schabender Bass pocht bedrohlich auf einer einzigen Note, tief und mit niederträchtiger Beharrlichkeit. Flirrende, unheimliche Violinenklänge. Melancholisch funkelnde Pianospritzer. Im Keller des Songs, kaum hörbar, rumpelt ein wenig Percussion. Und Cave spricht wie zu sich selbst. Was das ergibt? Eine qualvoll schöne Ballade. Sie heißt WE REAL COOL (wie das Gedicht von Gwendolyn Brooks von 1959) und verachtet das Coole. Sie steht allein im Geisterhaften und will doch Ode sein an die Frau, mit der zusammen das Ende der wirklichen Welt erreichbar ist. Oder wäre. Wenn sie nur wüßte, was sie wissen müßte, nach all der Zeit, o Jesus. "The tension between the male and the female" in Form eines bittersüßen Wer war es, der...? "Wrote you a book you never read" - who was it? Yeah, you know.

"Who measured the distance from the planets / Right down to your big blue spinning world". Der Liebende, der verzweifelt an cooler Gleichgültigkeit gegenüber Bedeutungen, die man in Herzschlägen und Tränen maß. "I hope you're listening", warnt Cave. "Who chased your shadow running out behind / Clinging to your high-flying heels / Who was it? / Yeah you know, we real cool." 

Real cool, die Bedeutungen zu negieren, ihnen gegenüber achtlos zu sein. Der Liebende kennt die Entfernung zu den Sternen, wie nur der Liebende sich in der wirklichen Welt auskennt, und warnt: nimm mir nicht das Wesen meines Wissens. Sonst bleiben nur die Faktoide der natürlichen Welt: "Sirius is eight-point-six light years away / Arcturus is thirty-seven". Und "Wikipedia is heaven / When you don't want to remember no more". Wenn einem die Erinnerung genommen wird, an das Entfernungsmessen in der besten aller möglichen Welten.



And the sky will devour the children 






FINISHING JUBILEE STREET beschreibt zunächst Poesie als die Macht von Bildern, neue Bilder zu beschwören. Ein Song, der davon handelt, wie sich nach dem Schreiben eines Songs eine Obsession in eine andere transformiert. "I had just finished writing Jubilee Street", als er, Nicholas Edward Cave, in tiefen Schlaf fällt und beim Aufwachen davon überzeugt ist, daß er im Traum ein sehr junges Mädchen namens Mary Stanford zu seiner Braut gemacht hat. Und dann handelt der Song davon, wie die Traum-Information die Wirklichkeit verändert. Wieder schleicht sich ein Ganz Anderes ein, um die Instabilität der "natürlichen" Welt zu dokumentieren. Die mädchenhafte Braut zieht Blitze aus dem Himmel, und Nicholas Edward Cave sucht Mary Stanford ("I said Hey little girl where do you hide?") in einer surreal gewordenen Wirklichkeit, die das Mädchen als numinose Macht zu durchweben scheint, irrationale Ängste auslösend. Der Himmel wird die Kinder verschlingen. Die Natur scheine ein "geheimes, verzehrendes Gift" in sich zu haben, fand Clara. "Last night your shadow scampered up the wall / It flied and leaped like a black spider between your legs / And cried / 'My children! My children! They are lost to us!' All of this in her dark hair! O Lord!" Der unheimliche spoken-word account löst sich ab mit einem Refrain - "See that girl / Coming on down / Coming on down / Coming on down" - auf die unfaßbar schönste, perplex machende Melodie, die je auf Erden zu hören war, vocals von Martha Skye Murphy. "Und von dieser phlegmatischen Frauenstimme, die sich da im Refrain ausbreitet, wird man nachts noch träumen" [plattentests.de]. Und beim Aufwachen davon überzeugt sein, daß man im Traum...






HIGGS BOSON BLUES kennt keine andere Welt mehr als die surreale. "Can't remember anything at all" - ein halluzinatorischer road trip auf dem Lost Highway, unterwegs nach Geneva [Genf -> CERN], lange schwarze Straße, schwüle schwarze Nacht, am Kreuzweg Robert Johnson mit seiner 10-Dollar-Gitarre, und Luzifer, Johnsons Geschäftspartner, "a 100 black babies running from his genocidal jaw". Robert Johnson und der Teufel, Mann, "Don't know who is gonna rip off who". Bäume stehen in Flammen. Im Lorraine Motel predigt ein Mann "in a language that's completely new". Ein Schuß, und alle bluten. Der da unterwegs ist mit dem Higgs Boson Blues, er will begraben werden mit einer mumifizierten Katze. Die Regenzeit ist nur noch simuliert. Miley Cyrus vollendet das Thema Frau & Wasser, sie treibt in einem kalifornischen Swimming-Pool. Tot oder lebendig. Es gibt nichts mehr zu erinnern außer: you're the best girl I ever had. Regentage machen einen immer so traurig.

Freud bemerkt in seiner Studie zur Psychopathologie des Alltagslebens, daß Cave auf dem Textblatt nicht Miley Cyrus schreibt, sondern Mylie Cyrus (vgl. Kylie). Wie genau treibt das Starlet im Pool? Und warum?

"Well, I don't know that she's face down," sagt Cave. "Maybe she's on a lilo. In some ways, if she is lying on a lilo then it's even more of a devastating image, considering the nature of the song and the absolute spiritual collapse that's happening all around her. No, let's say she's just on a lilo. Let me just say: I've got nothing particular against Miley Cyrus. The whole thing came about because I was in Madame Tussauds with my kids and they were hugging Miley Cyrus's waxwork. Elizabeth Taylor as Cleopatra was in the next room. They were groping Miley Cyrus, and I'm going, well, hang on a second, you've got Elizabeth Taylor here. 'Who?' And that had some impact on me, and that's why she's floating in the pool." 

Absolute spiritual collapse. Der da unterwegs ist, weiß nicht mehr, wohin noch und was tun; Geneva liegt am Ende eines Weges quer durch Zeit und Raum, irgendwo auf dem Weg epidemieverbreitende Missionare, im Lorraine Motel wurde Martin Luther King ermordet.

Joseph Lykken, am CMS-Experiment des Large Hadron Collider beteiligter Physiker, hat anhand der im Juli 2012 veröffentlichten Daten über das Higgs-Boson errechnet, daß das Universum instabil ist. Beim Jahrestreffen der AAAS (American Association for the Advancement of Science) faßte er seine Ergebnisse zusammen und formulierte dabei den Satz:

"The universe wants to be in a different state, so eventually to realize that, a little bubble of what you might think of as an alternate universe will appear somewhere, and it will spread out and destroy us."

Woran erinnert der Satz, daß das Universum einen anderen Zustand annehmen will? Right. Lykken weiß aber wohl nichts von Claras Ahnung, daß etwas in der Natur um eine ganz andere Beschaffenheit ringt.

Die Odyssee durch die grotesken Szenen der spirituellen Katastrophe, der phantasmagorische und immer deliriösere trip, auf dem zwangsläufig alles durcheinanderwirbelt, erklärt nicht, warum Materie Masse hat. Aber wenn in der Erosion aller Wahrheiten deutlich wird, was der Welt Gewicht verleiht ("you're the best girl I ever had"), bleibt nur eins. 






PUSH THE SKY AWAY. You've gotta just keep on pushing / Keep on pushing / Push the sky away.

"... assertion of self-belief in the face of uncertainty" (Andy Gill). Nie war der psychosexuelle Feuer-und-Schwefel-Sermon so fern wie hier, wenn Nick Cave über diesem komplett anderweltlichen orgelartigen Klang mit einer der beseeltesten vocal performances seines Sängerdaseins schließlich sich selbst entsendet in den offenen Raum jenseits des Himmels.

Ein wunderschöner Anblick.

Alles Bekannte wandelt sich auf Push The Sky Away, etwas Ungreifbares, Traumgleiches verfremdet die Bilder, alles Ausgesprochene verweist auf Unausgesprochenes, seltsam schwerelos und schwebend bewegt sich alles hier, und so wie Mary Stanford Blitze aus dem Himmel zieht, so zieht Warren Ellis Klänge aus der Unergründlichkeit. 

"Well, if I were to use that threadbare metaphor of albums being like children, then Push The Sky Away is the ghost-baby in the incubator and Warren's loops are its tiny, trembling heart-beat." -  Nick Cave













(erstveröffentlicht / first published 22.03.2013)