Freitag, 11. Oktober 2019

Die Frau in Weiss













SPIEGEL ONLINE Forum

"Literatur - Was lohnt es noch, zu lesen?"

August 2006 





V.G.E.:
Wilkie Collins, irgendjemand???





Und ich schäme mich dessen nicht! "Die Frau in Weiß" überfiel mich, als ich 15 war, seitdem beneide ich, neben Pferdeknechten an australischen Mädchenpensionaten um 1900 (aber das ist jetzt "Picknick am Valentinstag"), englische Zeichenlehrer. Damals schien mir die Gestalt des Conte Fosco extrem unheimlich – trotz beleibter Präsenz völlige Ungreifbarkeit, genial, dunkel, böse, brillant. In einer Verfilmung von 1948 wird Fosco von Sydney Greenstreet gespielt, Marian Halcombe von Alexis Smith und Laura Fairlie / Anne Catherick von Eleanor Parker – wird dem komplexen Buch natürlich nicht gerecht, ist als Film jedoch sehr spannend und sehr schön besetzt, Curt Bois erscheint als der arme Louis, special Blitzableiter für das exzentrische Leiden Frederick Fairlies, der sein zerrüttetes Nervenkostüm rhetorisch ziseliert zur Schau stellt. Gerade dieser Film löst das seltsame Dreiecksverhältnis zwischen Walter, Marian und Laura überraschend auf - indem er es eben nicht auflöst, und die Schlußszene erinnere ich, gerade wegen ihrer lächelnden Harmonie, als durchaus gewagt. Ein Buch, das ich immer lieben werde, genau wie Stokers "Dracula", das ja ähnlicher Erzähltechnik frönt. Kommen wir jetzt zu Charles Dickens?
"Ich hatte die Fähigkeit, mich zu wundern, offenbar verloren. In der Welt des Stoffes gab es nichts das Erstaunen wertes, außer Dora Spenlow."




















 

Donnerstag, 10. Oktober 2019

Literaturnobelpreis













Nachdem der Literaturnobelpreis 2016 völlig verdient an Bob Dylan ging, sollte man jetzt ganz dringend Nick Cave ins Spiel bringen.

Meine drei Exzerpte aus "Das Gewicht der Welt" (Handke):

Die vorsichtig schönen Lebensformen der alten Literatur wiederfinden, fürs Leben

Ab jetzt alles, was ich tue, rechtfertigen mit dem Satz: "Was wollen Sie, es ist Krieg!"

Aus dem Kino kommen – und draußen gehen überall die Falschen

Meinen Lieblingssatz von Handke sagt Bruno Ganz am Ende von "Der Himmel über Berlin": "Das Bild, das wir erzeugt haben, wird das Begleitbild meines Sterbens sein."





















Montag, 22. Juli 2019

... über Astrologie und Musik...












"Wir haben die Nächte durch geredet, haben gequatscht über das Neue Testament und Politik, über Astrologie und Musik [...]" - Blixa Bargeld, Nachruf auf Rio Reiser 1996




Auf abseitige Gedanken kommen eben: angenommen, es gibt einen Zusammenhang zwischen jenem Bezirk, in dem sich David Bowie 1977 mit "Low" aufhielt, dem Weg eines Scott Walker, von seinem Status als Idol schreiender Mädchen über die zunehmend literarischen, immer mehr kulturelle Referenzen verarbeitenden und immer mehr frühe Fans verstörenden "Scott 1" bis "Scott 4"-Werke zu den einsamen Regionen von "Tilt" und "The Drift", in denen es fucking scary ist wie nirgendwo sonst; der divenhaften Eleganz, mit der Blixa Bargeld durch unerhörteste Destruktion schritt: könnte man z.B. schon auf die Idee kommen, daß saturnische Ernsthaftigkeit den Steinbock(-Musiker) von rätselhafter Unnahbarkeit dazu bringt, auf bestimmte Weise zu Extremen zu gelangen, die anderen so nicht eigen ist; ein Operieren da, wo sonst niemand mehr operiert.

Ob es also irgendwas gibt am Gitarrespiel von Jimmy Page, das "Steinbock"-typisch beschreibbar wäre, ob, sagen wir, das seltsame Verhältnis zur Zeit, das man dem Steinbock nachsagt (Chronos / Saturn), im Klang von Led Zeppelin tatsächlich zu hören ist, oder ob es nur mein subjektiver Eindruck ist, daß der Gitarrist dieser Band eine Art Merlin ist, der sich rückwärts in der Zeit bewegt. Komischerweise klingt Robert Plant ja nur mit Jimmy Page zusammen so, als hätte er persönlich mit Guinevere gesprochen.



















 





Sonntag, 14. April 2019

Gustav Meyrink, Der Golem






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"Literatur - Was lohnt es noch, zu lesen?"

10/2007



Gustav Meyrink, Der Golem. Selten einen Roman gelesen, der mit jedem Satz derart unterschwellige Bedrohung aus-spukt; im gespenstischen Dunkel des alten, versinkenden Prag mischen sich Realität, Traum und Phantasie, die zwischen unheilschwangerem Im- und atemberaubten Expressionismus schillernde Sprache produziert eine das Vorabgefühl des "Ob man das noch ernst nehmen kann?" im Handumdrehen vernichtende, ungemein sinnlich scheinende Erfahrung. Ob Meyrink, etwa mit der Figur des Aaron Wassertrum, antisemitische Klischees bedient – dahingestellt. Gleichzeitig verspürt man jedenfalls den seltsamen, unwiderstehlichen Wunsch, sich tatsächlich in diesem Labyrinth der Schatten und unzugänglichen Räume aufhalten zu können, in dem alles unübersichtlich voll ist mit Dingen, die ständig mit Eigenleben drohen, und aus jedem Winkel eine faszinierend rätselhafte Gestalt ihr dunkles Geheimnis mitbringt. Denn schließlich ist das Ganze ja wie einer jener bösen Träume, bei denen man sich nachher trotzdem wünscht, man könnte ihn mittels ans Hirn angeschlossenem USB-Stick reproduzieren. Ich weiß nicht, ob man Caligari werden muß, aber mit Coffee-to-go muß auch mal Schluß sein. Psychoreise in und aus dem eigenen Ich, nicht die erste, die den Ausweg aus dem eigenen Kopf sucht, aber eine überraschend faszinierende, und eine vor zuviel Schuhu immer von der Sprache gerettete.